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Das beredte Schweigen der Literatur. Über das Unbehagen an der Kultur

Kultur wird in den letzten Jahren für all das herangezogen was gesellschaftlich mit Bedeutung besetzt werden soll. So gibt es kaum noch einen Bereiche, der nicht als Kultur begriffen wird: hohe und populäre Kultur genauso wie Kinder- und Unternehmenskultur, Raucher- und Essenskultur oder Erlebnis- und Massenkultur. Mit diesem inflationären Gebrauch verliert der Begriff allerdings an Sinn. Mehr noch: der amerikanische Literaturwissenschaftler Geoffrey Hartman zeigt in seinem jüngsten Buch, daß unser Kulturbegriff inhaltsleer geworden ist und blinde Flecken aufweist. Seine Kritik verdeutlicht er an den Cultural Studies, die seit zehn Jahren die geisteswissenschaftliche Diskussion in den angelsächsischen Ländern bestimmen:

Thomas Kleinspehn |
    "Cultural Studies betont Kultur in einem bestimmten Sinn und läßt zu viel aus, läßt gerade die ästhetische Erziehung, die Funktion der Literatur, aus, und die wollte ich zurückbringen. Ich denke, wenn man Literatur aus1ässt - auch wenn es kein absolutes Auslassen ist - wie es in den cultural studies oder den Kulturwissenschaften geschieht, oder wenn man die Literatur nicht mehr sehr langsam liest, dann wird es zu abstrakt. Man kann zeigen, daß die spezielle Leistung der Literaturwissenschaft darin besteht, zu zeigen vermag , daß kulturelle Texte - ob antik oder modern - eine Vielzahl unterschiedlicher Stilarten enthalten. Aber sie zeigen auch die Grenzen dieser Sensibilität, sie ist selbstkritisch."

    In seinem sehr dichten und spannungsreichen Buch "Das beredte Schweigen der Literatur" untersucht Hartman die verschiedenen Facetten des Kulturbegriffs und seine Beziehung zur Asthetik. Kultur werde, so erläutert der in Berlin geborene und seit den vierziger Jahren in den USA lebende Literaturwissenschaftler, seit Jahrhunderten instrumentalisiert und für politische Zwecke mißbraucht - sei es für die staatliche Identität, den Lob des technischen Fortschritts, aber vor allem für eine Politik der Ausgrenzung vom Holocaust bis Bosnien. Literatur und Ästhetik dagegen seien sehr viel differenzierter, widersprüchlicher und deshalb nicht so einfach für andere Zwecke zu verwenden:

    ,,Es ist nicht nur, daß man Literatur lesen und Kunst ansehen, über sie ein Verständnis von unterschiedlichen Nationen gewinnen sollte. Das ist wichtig. Aber die Strukturation des Kunstwerks oder der großen Texte selbst wird zeigen, daß da keine einheitliches Schema besteht. Es gibt viel Ambiguität, viel Ambivalenz, keine unbedingt wilde Ambivalenz oder im ganzen ungelöste Ambivalenz, aber sie schwingt doch mit. Und das, was ich sage, weiß jeder, aber nicht jeder setzt das in das Leben herein. Die Realität ist umgekehrt: Kultur wird instrumentalisiert, um politischen Zwecken zu dienen und mein Buch diskutiert dieses Umkehren von Politik und Ku1tur."

    Vor diesem Hintergrund entwickelt Hartman eine deutliche Skepzis gegenüber dem Multikulturalismus als staatlichem Programm, den er zwar im Prinzip für notwendig, aber weitestgehend für aufgesetzt hält. Das zeige sich beispielsweise in den Kulturkriegen der Gegenwart, die er auch als Versagen des kulturellen Mitgefühls begreift. Verbaler Multikulturalismus und reales Fühlen und Handeln treten auseinander, weshalb das Leben nach Auschwitz oder Vietnam fast unverändert weitergegangen sei.

    "In welchem Sinn können wir mitfühlen mit so vielen anderen? Unser Mitgefühl im ganzen ist ja nicht unendlich. Da gibt es eine Ökonomie des Gefühls. Und wenn wir voraussetzen, daß wir ein Mitgefühl haben, das keine Grenzen hat, dann fällt man vielleicht in ...einen Fehlgriff und denkt das Mitgefühl von nun an abstrakt. Aber wenn es auf die Sache kommt, dann sehen wir, daß unser Gefühl nicht mitmacht und wir doch eine starke singuläre Identität suchen, ob das im Nationalismus ist oder in einem anderen Lokalismus ...Und dieses Spannungsfeld ist das Drama der heutigen Kultur oder des Kulturdiskurses."

    Diese zunächst sehr abstrakt erscheinende Frage, wird in Geoffrey Hartmans Buch dort lebendig, wo er ihr an konkreten Beispielen nachgeht. Denn an ihnen macht er deutlich, daß es ihm im Kern um die Auseinandersetzung des Menschen mit den kulturellen Veränderungen geht. Wie reagiert er auf Neuerungen, Bedrohungen und Irritationen,auf gesellschaftliche Veränderungen oder auf Menschen anderer Kulturen? Der dabei sich herausbildende Kulturbegriff ist nichts mehr als ein relativ geschlossenes, womöglich sogar ideologisches Ergebnis, das Differenzen übertüncht. Für Hartman ist Kultur dagegen Debatte, Dialog und Diskurs und erst in zweiter Linie ein Resultat. Deshalb interessiert er sich mehr für die offenere Form von Literatur und Kunst. Sie sind die Orte des Nachdenkens. In "Das beredte Schweigen der Literatur" erläutert er das ausführlich an Beispielen der Englische Romantik und hier besonders an seinem Lieblingsdichter William Wordsworth. Er versteht ihn als einen Autor, der im Übergang zur Moderne und am Vorabend der Industrialisierung die 'Verunsicherung der Menschen und damit ihr 'Unbehagen an der Kultur formuliert hat, wie es am Ende des 19. Jahrhunderts ein Autor wie Freud in wissenschaftlichen Begriffen sehr viel nüchterner beschrieben hat. Wordworth bringt dagegen das Problem konkret auf den Punkt:

    "Was er fürchtete, war eine abstumpfung der Gefühle und ein Aufschwung der Stimulation, die zur abstumpfung dieser Gefühle führen könnte. Er strukturiert seine Dichtung zwar nicht um die Idylle, wohl aber ein Landschaftsethos, und die Frage, wie dieses in die Moderne übergehen kann. Wichtig dabei ist das Vergehen, das Vergehen muß aufgehalten werden und eine neue Form bekommen. Und diese neue Form ist die neueDichtung, die sich mit der Landshaft und dem Landschaftlichen befasst. Wordsworth beschreibt das nicht in extenso, aber er antizipiert viele Facetten dieses Problems. Aber vor allem beschreibt er seine eigenen frühen Beziehungen zur ländlichen Natur und deren Einfluss auf ihn. Er ist der erste Dichter, der im modernen psychologischen Sinn ein Erziehungsgedicht, ja die Erziehung des Dichters beschrieben hat."

    Das bedeutet jedoch nicht nur einen rückwärts gewandten Blick oder gar nostalgische Verklärung der Vergangenheit. Vielmehr beinhaltet Hartmanns Kulturbegriff eine aktive Auseinandersetzung mit der Gegenwart, der zwar keine dogmatische Ideale zugrundeliegen, aber auch keine weitgehende Beliebigkeit der Vorstellungen. Damit grenzt er sich von postmodernen Theorien ab, die von der freien Auswahl der Begriffe und Ideen ausgeben:

    "Wenn man ein kulturelles Gedächtnis hat, muss das nicht zwangsläufig nostalgisch oder ländlich-idyllisch Vorstellungen zum Inhalt haben. So ist die Vergangenheit wohl kaum gewesen, jedenfalls nicht im Ganzen. Dann hat man auf einmal viele Normen, dann begegnet man in der Geschichte vielen unterschiedlichen Stimmen, Aussagen und Normen. Und dieser Druck der Multiplizität der Normen, diese Heteronomie, ich nenne sie auch Surnomie, lässt uns häufog verstummen. Man weiß nicht, was der richtige Weg ist. Und diese Surnomie führt dann zu einer Last, einer Bedrängung, die dann dialektisch eine unheilvolle Einigung fördert. Und wie Adorno sagt, ist der Geriozid eine Art von absoluter Integration."

    Diese Ambivalenz zwischen Anerkennung der Vielfalt und Zwang zum Konsens, oft aus aus Unsicherheit und Schweche geboren, zieht sich durch Geoffrey Hartmans Buch. Er greift damit zugleich Fragestellungen aus einigen seiner früheren Werke auf, in denen er den Holocaust genau als einen solchen Zwang und die damit verbundenen Ausgrenzungen beschrieben hat. In seinem jüngsten Buch spitzt Hartman, der selbst ein Archiv mit Zeugnissen von Holocaustopfern gegründet hat, diese Frage auf Kultur zu. Er schafft damit keinen neuen Kulturbegriff -vielleicht bewertet er auch die Möglichkeiten der Literatur zu hoch. Sein Buch unterstreicht jedoch mit Nachdruck, wie wichtig es ist, Kultur als kritischen Begriff in seiner Vielfalt und Anomie wiederherszustellen, um den fatalen Kreislauf zwischen scheinbarem kulturellen Pluralismus, nationaler Identität und militanter Ausgrenzung zu durchbrechen.