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Das Bergwerk des Gerhard Roth

Gerhard Roth, Schriftsteller, Essayist, Archivar, Sammler, Fotograf: Es gibt eine Aufnahme, die ihn inmitten turmhoher Regalwände zeigt, umgeben von Büchern, Fotomappen, Dokumenten. Ein Bergwerk verborgener Wirklichkeiten, aber Roth scheint da durchzufinden.

Von Beatrix Novy |
    Er braucht das Material:

    "Ich mache alle Fotografien als Foto-Notizen, das kommt daher, weil ich 1970 mit Wolfgang Bauer in Amerika war, zuerst habe ich alles aufgeschrieben, kam aber nicht mit dem Schreiben mit, da habe ich die Kamera benutzt."

    Roths Schreiben und Roths Fotografieren haben viel gemeinsam. Als Schriftsteller brachte er, zum Beispiel im Romanzyklus "Die Archive des Schweigens", das Verdrängte und Verschwiegene ans Licht, verknüpfte kunstvoll und detailreich private und politische Geschichte. Und immer war es das Randständige, Abweichende, auf das er den respektvollen Blick richtete. Eine der zwölf Bildwände zeigt den Narrenturm: Einst Anstalt für Geisteskranke, jetzt ein Panoptikum der Anomalien, die das aufgeklärte 18. Jahrhundert in Alkohol oder Gips präparierte. Missgebildete Föten in Gläsern, reihenweise, Totenmasken, Räume mit nicht endenden Exponaten: Wie Roth sie aufgenommen hat, immer wieder, aus verschiedenen Abständen und Blickwinkeln, lässt er eine Bildwelt entstehen, die das Prinzip des Seriellen verdoppelt und kommentiert. Ähnliche Effekte erreichen die Fotos säuberlich aufgereihter Knochen im Schädelsaal des Naturhistorischen Museums, Überreste der Namenlosen, die einst in Seuchenzeiten schnell starben und schnell unter die Erde kamen, auf Krankenhausfriedhöfen, in Massengräbern:

    "Das Naturhistorische Museum ist der zweitgrößte Friedhof von Wien, 40000 Menschen sind dort in Kartons, in Glasvitrinen gelagert, haben dort ihre letzte Ruhestätte."

    Für Reisen ins Innere von Wien ist Roth schon lange bekannt, an verschwiegene Orte wie das Hofkammerarchiv, 1587 gegründet, abgeschlossene Historie aus Handschriften, Urkunden , Plänen; kaiserliche Alimentenzahlungen, Protokolle aus den Türkenkriegen. Oder wer kennt den Heldenberg, kurioser Ehrenpark für Österreichs Feldherren; stupid aufgereihte Heldenbüsten führen den Mythos des Kriegshelden ad absurdum, das Gesammelte wird zum Thema des Sammlers Roth. Und der Schriftsteller Roth braucht den Fotografen Roth:

    "Alle diese Themenkreise, die ausgestellt sind, kommen in meinen Zyklen Die Archive des Schweigens und Orkus vor. Es gibt den Narrenturm in 'Eine Reise in das Innere von Wien', das Sigmund Freud Museum kommt im letzten Band Orkus vor."

    Das Flüchtlingslager Traiskirchen, berühmt und gleichzeitig extrem unbekannt, Roth dokumentiert es: Metallstockbetten und trostloses Gestühl, von hier zu den Rückseiten der Bildwände ist es nun nicht mehr weit: da hängen Roths liebste Motive, das gänzlich Unbeachtete: Mauerflecken, Krähenfüße im Schnee, Verfallsspuren auf Metalltüren. Rostflecken wie farbige Feuerbälle, Vögel, die wie schwarze Punkte wie auseinanderstreben, Eisblumen, die gotische Ornamente bilden. Unser Alltag beschert uns sekündlich Bilder, Bilder, Bilder; auf die meisten davon würde man gern verzichten. Auf diese hier nicht.

    Ausstellung "Im unsichtbaren Wien. Fotonotizen von Gerhard Roth". Im WienMuseum, 10.2. bis 9.5.2010