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Das Beste, wozu der Mensch fähig ist

Der Mensch ist ein Verwandlungstier, lautet eine der vielen Antworten auf die uralte Frage: "Was ist der Mensch?", die ihm von allen Antworten den facettenreichsten Spielraum eröffnet hat. Denn wie die Mythen, Märchen und Geschichten der Völker und Kulturen erzählen, war der Mensch lange, bevor er zum eindimensionalen "animal sociale" mit seinem recht begrenzten Rollenrepertoire wurde, das Lebewesen, das sich chamäleonartig seiner vielgestaltigen tierischen wie pflanzlichen Umwelt anzuverwandeln wusste.

Von Astrid Nettling |
    Auch die großen Weisheitslehren dieser Welt haben stets das menschliche Verwandlungspotenzial gegenüber Eindimensionalität und innerer wie äußerer Erstarrung in die Waagschale geworfen. Denn das Leben selbst ist permanente Verwandlung. "Wenn der Mensch geboren wird, ist er zart und biegsam; im Tode ist er hart und steif", heißt es bei Laozi im "Daodejing". Und nicht bloß Kindern mit ihrer urwüchsigen Lust, sich zu verwandeln und in unterschiedliche Masken und Rollen zu schlüpfen, ist die Fähigkeit zur Verwandlung eigen. Jeder Erwachsene besitzt sie, selbst wenn diese elementare Begabung im Laufe des Lebens oft verkümmert.

    "Wenige legen sich Rechenschaft darüber ab, dass sie ihr das Beste von dem, was sie sind, verdanken", schreibt Elias Canetti. Die "Lange Nacht" will dem "Verwandlungstier Mensch" nachspüren, seiner Verwandlungsfähigkeit mit ihren lustvollen, kreativen, aber auch bedrohlichen und ängstigenden Aspekten.



    Kindern ist die Lust an der Verwandlung quasi in die Wiege gelegt:

    Zitat Max Reinhardt
    In den Kindern spiegelt sich das Wesen der Verwandlung am reinsten wider. Ihre Aufnahmefähigkeit ist beispiellos, und der Drang zu gestalten, der sich in ihren Spielen kundgibt, ist unbezähmbar und wahrhaft schöpferisch. Sie wollen die Welt noch einmal selbst entdecken, selbst erschaffen. Sie sträuben sich instinktiv dagegen, die Welt durch Belehrung in sich aufzunehmen. Sie wollen sich nicht mit den Erfahrungen anderer vollstopfen. Sie verwandeln sich blitzschnell in alles, was sie sehen, und verwandeln alles in das, was sie wünschen. Ihre Einbildungskraft ist zwingend.


    Hugo von Hofmannsthal

    ...wir selber nur der Raum,
    Drin tausende von Träumen buntes Spiel
    So treiben wie im Springbrunn Myriaden
    Von immer neuen, immer fremden Tropfen.
    All unsre Einheit war ein bunter Schein;
    Ich selbst mit meinem eignen Selbst
    Grad noch so nah,
    Vielmehr so fern, verwandelt gleich dem Vogel,
    der dort hin flattert.



    Die komplette Palette der Verwandlung - Phantasie, Vernunft, Gefühl, Leidenschaft und ein wenig Verrücktheit – all das birgt der Beruf des Schauspielers in sich:

    "Das ist eine Voraussetzung, dass man Lust am Spiel hat und Lust, sich zu verwandeln. Denn sonst würd ich, glaub ich, keine Bühne betreten. Ja, so was wie eine Offenheit auch, Menschen, Frauen zu spielen, die so weit weg von meinem normalen Leben sich befinden, also, wo ich dann auch Schamgrenzen vielleicht überwinden muss, so Trinkerin oder 'ne Prostituierte. Ich hab' große Lieblingsrollen, die ich gespielt habe, aber die Regisseure entscheiden. Ich wundere mich sowieso manchmal, wie die mich besetzen, weil ich mich völlig anders sehe, völlig anders einschätze, als wie die mich sehen. Aber dann denk' ich, probier ich das mal, und manchmal geht es auch auf, geht es richtiggehend gut auf."


    Auch in Max Reinhardts Rede über den Schauspieler wird das deutlich:
    In jedem Menschen lebt, mehr oder weniger bewusst, die Sehnsucht nach Verwandlung. Wir alle tragen die Möglichkeiten zu allen Leidenschaften, zu allen Schicksalen, zu allen Lebensformen in uns. "Nicht Menschliches ist uns fremd." Aber Vererbung, Erziehung, individuelle Erlebnisse befruchten und entwickeln nur wenige von den tausend Keimen in uns. Die anderen verkümmern allmählich und sterben ab. Der normale Mensch empfindet gewöhnlich einmal im Leben die ganze Seligkeit der Liebe, einmal den Jubel der Freiheit, er hasst einmal gründlich, er begräbt einmal mit tiefem Schmerz ein geliebtes Wesen und stirbt am Ende einmal selbst. Das ist zu wenig für die uns eingeborenen Fähigkeiten zu lieben, zu hassen, zu jubeln, zu leiden.


    Verwandlung gibt es auch in anderen Bereichen, zum Beispiel beim Mann- oder Frausein:

    " Ich bin von Beruf Bankkaufmann, das ist ein sehr konservativer, klassischer Beruf, der auch die Kleidung, also, das Farbvollste ist dann mal der Wechsel der Krawatte, ansonsten hat man immer den schwarzen Anzug, und das Faszinierende für mich ist, wenn ich in die Rolle von Amelie schlüpfe, das man sich in einen bunten Vogel verwandeln kann. Also, man kann sich unheimlich viel rausnehmen, in eine komplett neue Rolle schlüpfen, man wird anders wahrgenommen von den Menschen, man kann sich den Menschen gegenüber anders verhalten, ganz andere Erwartungen werden auf einen projiziert, was man sich als Drag-Queen oder eben im Fummel, wenn man unterwegs ist, alles erlauben kann. Also, Frauen werden immer noch anders behandelt als Männer. Einerseits ist es natürlich schlecht, andererseits ist es ein wunderschöner Vorteil, wenn man als Frau sich bedienen lassen kann und immer mit diesen alten Klischees spielen kann, und ob es jetzt ein simples Türaufhalten ist, oder ob es einfach nur, ich gebe die Diva, bekomme meinen Sekt spendiert und kann den Abend genießen, als Frau habe ich viel mehr Freiheiten, die ich als Mann gar nicht habe. Als Mann erwarten die Menschen bestimmte Verhaltensweisen, bestimmte Verhaltensmuster, und wenn man dann mal eben komplett das ausschalten kann und komplett andere Spielregeln für einen gelten, das ist das Faszinierende. "


    Den Körper verändern, dauerhaft und immer wieder, auch das ist Verwandlung:

    "Also, ich unterscheide im Tätowierstudio zwischen Menschen, die 'ne Tätowierung haben möchten, und Menschen, die tätowiert sein möchten. Bei mir war das immer so, dass das einzelne Design gar nicht so wichtig war, sondern dass ich einfach tätowiert aussehen wollte. Ich hab das als Kind schon sehr früh gesehen - volle Arme, zugeballerte Arme, wie wir dann hier sagen, waren eigentlich die Motivation dazu. In der Summe natürlich aus Designs, zu denen ich natürlich auch einen Bezug hab, aber da war von Anfang an eigentlich kein Ende abzusehen. Ich fand' das einfach spannend diese letztlich zweite Haut oder auch diese dunklen Arme, ich find' das immer noch spannend, ich arbeite ja auch immer noch dran. Ich mach' das jetzt fünfzehn Jahre aktiv und lass' mich tätowieren seit ziemlich genau zwanzig Jahren, und das unterliegt natürlich auch 'ner Entwicklung. Als die technischen Entwicklungen Mitte, Ende der Neunziger also ganz hoch waren, gab's dann halt so'n Bestreben möglichst aufwendig, möglichst gestalterisch zu arbeiten, das ist aber dann ziemlich schnell ins bloße Design abgeglitten, dass also Menschen ihre Tätowierungen planen wie Einbauküchen, das fand' ich dann nicht mehr so spannend, und mittlerweile find ich's spannend zum Beispiel kleine Notizen oder lapidares Zeug, ich hab' mich von meinem Sohn tätowieren lassen, als er acht war, da hat er mir seinen Namen aufs Bein geschrieben."


    Ein Verwandlungstier hat Elias Canetti den Menschen genannt:

    "Ich habe die Dichter als Hüter der Verwandlungen bezeichnet. In einer Welt, die auf Leistung und Spezialisierung angelegt ist, in einer Welt, die die Verwandlung mehr und mehr verbietet, scheint es von geradezu kardinaler Bedeutung, dass es welche gibt, die diese Gabe der Verwandlung ihr zum Trotz weiter üben. Dies, meine ich, wäre die eigentliche Aufgabe der Dichter. Sie sollten, dank einer Gabe, die eine allgemeine war, die jetzt zur Atrophie, zum Schwinden, verurteilt ist, die Zugänge zwischen den Menschen offen halten. Sie sollten imstande sein, zu jedem zu werden, auch zum Kleinsten, zum Naivsten, zum Ohnmächtigsten. Ihre Lust auf Erfahrung anderer von innen her dürfte nie von den Zwecken bestimmt sein, aus denen unser normales, sozusagen offizielles Leben besteht, sie müsste frei sein von einer Absicht auf Erfolg oder Geltung, eine Leidenschaft für sich, eben die Leidenschaft der Verwandlung. Nur durch Verwandlung wäre es möglich zu fühlen, was ein Mensch hinter seinen Worten ist, der wirkliche Bestand dessen, was an Lebendem da ist, wäre auf keine andere Weise zu erfassen. Es ist ein geheimnisvoller, in seiner Natur noch kaum untersuchter Prozess und dass es um etwas Wirkliches und sehr Kostbares dabei geht, wird schwerlich jemand zu bezweifeln wagen. "


    Die Kunst der Verwandlung ist auch in vielen Kinderbüchern präsent. Harry Potter belegt in Hogwarts das Fach Verwandlung. Im Unterricht lernen die Schüler, Gegenstände oder Lebewesen mit ihrem Zauberstab und einem Zauberspruch so zu verzaubern, dass sie ihre Gestalt oder ihren Wesenszustand verändern.


    Bücher, in denen das Thema Verwandlung eine Rolle spielt

    Michael Ende: Der Spiegel im Spiegel
    dtv Taschenbuch, ISBN: 978-3423135030, 9,00 Euro

    "Der Knabe im Seiltänzerkostüm ließ seine Beine vom Katheder baumeln. "Habt ihr schon bemerkt", fragte er sanft, "dass es genügt, für ein paar Minuten die Augen zu schließen? Wenn man sie wieder öffnet, ist man schon in einer anderen Wirklichkeit. Alles wandelt sich immerfort. Wir wandeln uns auch, da ist weiter nichts dabei. Ich war gerade ein anderer, und jetzt bin ich plötzlich der hier."


    Stefan Zweig: Rausch der Verwandlung
    Fischer Taschenbuch, ISBN: 978-3596258741, 9,95 Euro

    "So hat sie nie getanzt, und sie staunt selbst, wie leicht es ihr wird. Als sei ein anderer Leib ihr plötzlich geworden unter dem andern Kleid, als hätte sie dies hinschmiegende Bewegen gelernt und geübt in einem vergessenen Traum. Immer sicherer und folgsamer fügt sie sich in den Willen des führenden Partners, mit dem sie Atem und Bewegung mischt, und die neuentdeckte Lust am eigenen Leib strömt wie durch neuaufgebrochene Poren nach innen und spannt die Seele zu noch nie erlebtem Gefühl."


    Elias Canetti: Masse und Macht
    Fischer Taschenbuch, ISBN: 978-3596265442, 14,95

    "Im Mienenspiel drückt sich besonders die unaufhörliche Verwandlungsbereitschaft des Menschen aus. Unter allen Geschöpfen hat er das weitaus reichste Mienenspiel; er hat auch das reichste Verwandlungsleben. Es ist unfassbar, was im Verlaufe einer einzigen Stunde über das Gesicht des Menschen geht."


    Ovid: Metamorphosen
    Artemis & Winkler Verlag, ISBN: 978-3760813622, 12,90 Euro

    "Da ruft der Gott aus dem großen Volk seiner tausend Söhne den Morpheus auf, den Meister der Kunst, nachahmend die Gestalten zu formen. Es weiß so geschickt wie dieser kein anderer die Mienen, den Gang wie den Klang der Stimme zu bilden; die Gewänder auch fügt er hinzu und die Worte, die im Gespräch einem Jeden zu eigen. Doch sind es nur Menschen, in die er sich wandelt, ein anderer wird zum Vogel, zum Tier, zum langen Leib einer Schlange, Icelos, heißt er den Göttern, Phobetor, der Schreckbringende, der sterblichen Menge. Als dritter aber übt Phantasos von den ihren verschiedene Künste: dieser versteht es, in leblose Dinge zu schlüpfen, er geht in Erde, Felsen, Wellen und Bäume über, in alles, was nicht der Sitz einer Seele. "


    Virginia Woolf: Orlando
    Fischer Taschenbuch, ISBN: 978-3596173631, 8,00 Euro

    "Er streckt sich, erhebt sich. Er steht aufrecht in völliger Nacktheit vor uns, und während die Trompeten ihr "Wahrheit! Wahrheit! Wahrheit!" schmettern, bleibt uns nichts anders übrig, als zu gestehn - er war ein Weib. Kein menschliches Wesen hatte seit Anbeginn hinreißender ausgesehen. Seine Gestalt vereinte die Kräftigkeit eines Mannes mit der Anmut eines Weibes. Orlando besah sich in einem langen Spiegel von Kopf bis Fuß, ohne sich auch nur im geringsten fassungslos zu zeigen, und ging dann vermutlich in sein Bad. Orlando war ein Weib geworden - das ist nicht zu leugnen. Aber in jeder anderen Hinsicht blieb Orlando genau, wie er gewesen war."


    Carlos Fuentes: Terra nostra
    Zur Zeit nicht lieferbar

    "Sie malte mit Kreide von einem schwarzen Mittelkreis aus breite Strahlen in verschiedenen Farben, blau, granatrot, grün, gelb. Er blieb vor dem Mädchen stehen und fand ihre Lippen viel interessanter als ihre Malerei: eine violette, gelbe und grüne Tätowierung bedeckte sie mit eigenwilligen Windungen, die sich dennoch den Bewegungen des Mundes anpassen konnten, ihm nachgebildet und dennoch von ihm unabhängig. Die Tätowierung war wie ein zweiter, ein Extra-Mund, und war doch nur der Mund des Mädchens, aber vervollkommnet, bereichert durch die Farbkontraste, die von jedem glitzernden Tropfen Speichel betont, von jeder Falte in den vollen Lippen vertieft wurden. Das Mädchen bewegte die tätowierten Lippen. Sie stand auf, Pollo wich zurück."


    Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge
    Anaconda Verlag, ISBN: 978-3938484203, 2,95 Euro

    "Ich lernte damals den Einfluss kennen, der unmittelbar von einer bestimmten Tracht ausgehen kann. Kaum hatte ich einen dieser Anzüge angelegt, musste ich mir eingestehen, dass er mich in seine Macht bekam, dass er mir meine Bewegungen, meinen Gesichtsausdruck, ja sogar meine Einfälle vorschrieb. "


    Frank Kafka: Die Verwandlung
    Anaconda Verlag, ISBN: 978-3938484135, 2,95 Euro

    "Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt."
    Im Tattoo-Studio
    Im Tattoo-Studio (AP)