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Das Blaubartzimmer. Thomas Mann und die Schuld

Michael Maar arbeitet - das heißt, er liest - mit dem Mikroskop. Ihn interessieren die Kleinigkeiten in den verschwenderischen Haushalten großer Literatur. Ein Staubkorn im Auge des jungen Pnin kann ihm genügen, um die erzählerische Architektur und die verborgene Philosophie im gleichnamigen Roman Vladimir Nabokovs zu entschlüsseln. Zwei Buchstaben, die Marcel Proust im Gästebuch einer Schweizer Berghütte hinterlassen hat, sind für Michael Maar Rätsel, deren Auflösung Licht in das Dunkel der verheimlichten und kaschierten Passionen des französischen Schriftstellers bringen. Maar ist der brillanteste Hermeneutiker des Details unter den deutschen Literaturkritikern und Literaturhistorikern, ein Autor, der am Beginn eines Essays ein Streichholz entzündet und am Ende damit einen der Romanpaläste des 20. Jahrhunderts ausgeleuchtet hat.

Ursula März |
    Michael Maars neues Buch mit dem Titel ‚Das Blaubartzimmer' ist keineswegs seine erste Arbeit über Thomas Mann. Ihm sind verschiedene Aufsätze, vor allem aber eine Studie über den ‚Zauberberg' vorangegangen, und dass Maar das Werk des Nobelpreisträgers wie eine Westentasche kennt, darf man annehmen. Aber ein Werk kennen, ist für den Leser Michael Maar kein abgeschlossener Zustand. Sein Respekt vor Literatur und seine Begeisterung für sie, sind an die Überzeugung gebunden, dass die Geheimnisse im Fundus literarischer Westentaschen eigentlich unerschöpflich sind. Und so hat er das Werk Thomas Manns noch einmal umgestülpt, neu sortiert, angestachelt, wie nicht anders zu erwarten, wiederum von einem Detail, einer Stelle im Tagebuch.

    Seit der Veröffentlichung des Tagebuchs Mitte der 70er Jahre hat sich die Thomas-Mann-Biographik stark darauf verlegt, die Homosexualität des Schriftstellers zu akzentuieren und sie als Interpretationsschlüssel zu verwenden. Ohne ihre Bedeutung zu leugnen, bezweifelt Maar, dass die Furcht vor ihrer Entdeckung ausreicht, die überflutende Panik zu erklären, in der Thomas Mann sich 1933 befand, nachdem das plötzliche Exil ihn von München und von seinen Tagebüchern getrennt hatte. Immerhin machte man in der Familie Witzchen über die erotische Schlagseite des Vaters und Ehemann. Und abgesehen davon, dass dessen Homosexualität ein zugleich gewahrtes und gelüftetes Geheimnis war, hatte Thomas Mann von den Nationalsozialisten faktisch nicht mehr zu erwarten als den Versuch, ihn vor der Welt zu blamieren, was grausam sein kann, aber eben nicht "tödlich". Diese Widersprüche sind der Ausgangspunkt des ‚Blaubartzimmers'.

    Woher kommt der Schuldkomplex, der unübersehbar einen Pfeiler im Fundament des gesamten Mannschen Werkes darstellt? Wie ist die Obsession zu erklären, die Thomas Mann dazu brachte, von Beginn, von der Erzählung Tobias Mindernickel an bis zum Ende sich immer wieder gleichende, blutrünstige Szenen in seine Geschichten einzuflechten, immer wieder von erschlagenen Hunden zu erzählen, von Handlungen, bei denen Blut fließt und Hans Castorp beispielsweise die Metapher zuzumuten, er sähe aus wie ein Mörder, der von seiner Tat kommt, nur weil er Nasenbluten und davon ein paar rote Flecken auf der Kleidung hat? Die Leistung und der wundervolle Luxus der Literatur bestehen darin, aus mückengroßen Erfahrungen Elefanten zu machen. Auch skeptische Leser seines neuen Buches kann Michael Maar davon überzeugen, dass es im Leben von Thomas Mann eine Mücke gegeben haben muss, irgendeine Urszene, in der Mord oder Totschlag oder Totschlagversuch eine Rolle spielten, wenn über Jahrzehnte hinweg dem immergleichen Elefanten eine literarische Auftrittsnummer gewährt wird.

    Maar geht als indiziensammelnder Detektiv vor. Mit einiger Wahrscheinlichkeit, so mutmaßt er, könne der Schlüssel zum Blaubartzimmer Thomas Manns in dessen zweiter Neapel-Reise 1896 zu finden sein. Maar geht noch einen Schritt weiter. Er schlägt vier Versionen jener vermuteten Gewalttat vor, der Thomas Mann als Beteiligter oder nur als Zeuge beigewohnt haben könnte. Er spekuliert, aber er tut es nicht hinter dem Rücken des Lesers, sondern so seriös, skrupulös und relativierend, dass sein Buch auch dem strengen Auge der Wissenschaft standhält. Dass es darüber so spannend zu lesen ist wie ein Krimi, dessen Lektüre zuliebe man sich noch einen starken Kaffee kocht, ist das kleine Wunder des Textes. Dabei macht es sich der Autor eher schwer, das heißt, er macht es sich nicht so leicht wie der suggestive biographische Detektivismus, der seit etwa zwei Jahrzehnten die Literaturkritik heimsucht. Denn Maar instrumentalisiert nicht ein literarisches Werk, um das Leben eines Schriftstellers zu enthüllen, besser gesagt zu entblößen. Er geht den umgekehrten Weg. Der auf der Tagebucheintragung fußende Anfangsverdacht, den Maar im ersten Kapitel entfaltet, führt ihn zu einer hermeneutischen Lektüre des gesamten Werkes Thomas Manns, die das Mittelstück des Buch bestreitet, auf dem offensichtlich dessen Schwergewicht liegt. Diese Methode hat den Effekt einer Respektsbezeugung, Sie lenkt die Aufmerksamkeit vom Privatmensch auf den Künstler Thomas Mann. Diesen sieht man, wenn man mit Michael Maars Hilfe einen Blick ins Blaubartzimmer geworfen hat, anders, weniger lübeckisch, man sieht die Getriebenheit, die Schatten der Dämonie, man ist bereit, das Klischee vom kontrollierten Erfolgsmenschen aufzugeben. Dass Maar am Ende seiner Indizienkette außer starken Vermutungen keinen handfesten Beweis auftischen kann, ist dabei eigentlich gleichgültig.

    Vielleicht heißt der zukünftige Neuentdecker ja Michael Maar. Dass er den Umgang Literatur als ein Gespräch darstellt, das nicht abreißt, das viele Stimmen zulässt und dessen Lebendigkeit sich gegen Unfehlbarkeit sperrt, ist das Schönste an Maars ‚Blaubartzimmer'. Ganz abgesehen davon, dass die Autoren, die vom Nachdenken über Literatur so aufregend erzählen können, als handele es sich um den Bericht einer Nordpol-Expedition.