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Das Böse hinter den Klostermauern

Mordanschläge, Sex und Missbrauch bestimmten das Leben im Nonnenkloster Sant'Ambrogio im Rom des 19. Jahrhunderts. Diese wahre Geschichte hat Vatikankenner Hubert Wolf für sein neuestes Werk recherchiert. Und lässt damit sogar historische Thriller von Dan Brown harmlos wirken.

Von Hajo Goertz | 10.06.2013
    Es ist schon erstaunlich, wenn ein Kirchenhistoriker versichern muss, er veröffentliche eine "wahre Geschichte". Was sollte er anderes tun? Und doch vermerkt es Hubert Wolf ausdrücklich als Untertitel zu seinem neuen Buch "Die Nonnen von Sant’Ambrogio":

    "Die Geschichten, die das Leben schreibt, sind wesentlich spannender, als das, was sich irgendwelche Romanciers ausdenken. Also insofern ist es sicher so, dass dieser Fall Sant’Ambrogio mehr bietet als das, was sich Dan Brown manchmal doch relativ dünn ausgedacht hat. … es ist eben eine wahre Geschichte. Es ist ein Inquisitionsfall, der in diesem Buch rekonstruiert wird. Wir sind praktisch millimetergenau an dem dran, was dieser Inquisitor in zweieinhalb Metern Untersuchungsakten niederlegt. Insofern kann Dan Brown nicht ganz mithalten."

    Der Professor für Kirchengeschichte an der katholischen Fakultät in Münster ist einer der besten Kenner der Vatikanischen Archive. Immer wieder verbringt er Monate zwischen den Regalen auf der Suche nach oft brisanten Vorgängen. Und er hat schon viele Veröffentlichungen geliefert, die, selten genug, auch für kirchenhistorisch weniger Bewanderte gut lesbar sind; weil er über das Fachpublikum hinaus Interesse weckt, ist der Theologe mit zahlreichen Wissenschaftspreisen bedacht worden. Die bis jetzt aufregendste Geschichte, sagt Wolf selbst, belege die Akte des Klosters Sant’Ambrogio. In diesen Franziskanerinnen-Konvent im Schatten des Vatikans möchte sich Mitte des 19. Jahrhunderts eine verwitwete deutsche Prinzessin von der Welt zurückziehen:

    "Es geht darum, dass Katharina von Hohenzollern in dieses Kloster von Sant’Ambrogio eintritt, weil sie denkt, dass dieses strenge Kloster sozusagen die Erfüllung ihrer Sehnsucht nach einem Leben mit Christus wäre. Und sie kommt sehr bald dahinter, dass in diesem Kloster einiges nicht mit rechten Dingen zugeht."

    Was sich da alles ereignet, kommt in einem Prozess vor dem Heiligen Offizium, der vatikanischen Inquisition zutage: Mord an ungefügigen Nonnen, Vergiftungsanschläge, lesbische Sexualität, Missbrauch an Mädchen, die fast noch als Kinder ins Kloster eintreten, Beischlaf mit Beichtvätern.

    Drahtzieherin ist die stellvertretende Klostervorsteherin; die höchst attraktive Nonne Maria Luisa gibt Visionen vor, erklärt die sexuellen Praktiken zum Auftrag Gottes, dabei sich bildende Scheidenflüssigkeit deutet sie als göttlichen Liquor, als flüssige Gabe des Himmels. Als die deutsche Novizin aus dem Hause Hohenzollern das alles nicht glauben will und andeutet, die Ungeheuerlichkeiten den kirchlichen Oberen anzuzeigen,

    " … schreibt die Gottesmuter im Himmel einen Brief, in dem steht, man muss Katharina wegen ihres Unglaubens umbringen."

    In welcher Sprache befiehlt der Himmel einen Mord? Etwa in Aramäisch, Muttersprache des Jesus aus Nazareth und seiner Mutter Maria?

    "Sie schreibt in unserem Fall Französisch, ehrlich gesagt ein schlechtes Französisch mit zahllosen Fehlern, ein Französisch, das jemand schreibt, der eigentlich Italienisch kann und ein bisschen Französisch gelernt hat."

    Denn die verbrecherische Nonne fingiert diesen und andere Marienbriefe. Doch die wundersüchtigen Schwestern glauben, die Blätter in ausgesuchter Schönschrift fielen vom Himmel. Einzig die Hohenzollernprinzessin lässt sich nicht beirren, sie entgeht glücklich mehreren Giftattentaten, sie kann aus dem Kloster flüchten und erstattet Anzeige bei der päpstlichen Inquisition. Dem Untersuchungsrichter sträuben sich bei den Ermittlungen merklich die Haare, so wahrhaft unerhört ist für ihn der Fall. Und der Münsteraner Kirchenhistoriker nimmt die Leser gleichsam mit zu den Verhören.

    "”Man kann eigentlich sich nicht mehr ausdenken, was in diesem System von Sant’Ambrogio nicht vorkommt. Es ist … auf der einen Seite wirklich ein spannender Krimi, es ist aber auf der anderen Seite die Möglichkeit, in hochkomplexe, hochinteressante theologische und kirchenpolitische Kontexte hineinzublicken.""

    Mit theologisch durchaus fragwürdigen Mitteln sucht der damalige Papst Pius IX. sich gegen die Auflösung des Kirchenstaates zu wehren und die Kirche gegen aufklärerische, vermeintlich modernistische Tendenzen abzuschotten. Die Bestrebungen personifizieren sich im Fall Sant’Ambrogio in einer Figur – auch das hält die Skandalgeschichte bereit –, die ein Doppelleben führt: Der deutsche Jesuit Josef Kleutgen ist engster Berater des Papstes; er gilt als Hauptvertreter der Neuscholastik, der damals herrschenden konservativen theologischen Richtung, und er ist Gutachter der Vatikan-Behörde für die Buchzensur; gleichzeitig agiert er unter dem Pseudonym Giuseppe Peters als Beichtvater der Nonnen von Sant‘Ambrogio, landet im Bett der Novizenmeisterin und glaubt an die Realität der Marienbriefe.

    Im Inquisitionsprozess, den Hubert Wolf nachzeichnet, wird die doppelte Identität aufgedeckt und der angesehene Spitzentheologe wegen Häresie, also Ketzerei, verurteilt. Doch schon damals greift ein System der Vertuschung: Während die angeklagten Nonnen hart bestraft werden, ist das Urteil gegen den Priester Kleutgen äußerst milde; nachdem der deutsche Jesuit kurze Zeit aus dem Verkehr gezogen wird, ist er bald wieder im Vatikan aktiv und liefert entscheidende Vorlagen für den unbedingten Glaubenssatz von der Irrtumsfreiheit des Papstes und seiner gesamtkirchlichen Jurisdiktion von 1870.

    "Also, ein verurteilter Häretiker wirkt am Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes nachher mit."

    Stellt Wolf nach der Quellenlage nüchtern fest. Wie glaubwürdig ist damit ein für Katholiken verbindlicher Glaubenssatz? Das zu beurteilen, überlässt der Autor, da dies nicht Sache des Historikers sei, den Lesern; wohl sah er sich verpflichtet, die geschichtliche Wahrheit ans Licht zu bringen. Dass es ihm auch noch Vergnügen bereitet hat, merkt man dem Buch auf nahezu jeder Seite an.

    Hubert Wolf: "Die Nonnen von Sant'Ambrogio - eine wahre Geschichte", Verlag C.H. Beck 2013, 544 Seiten, 978-3-406-64522-8.