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Das Böse in der Kunst

Das Entsetzen angesichts des eigenen Todes ist ihr ins Gesicht geschrieben. Der Mund ist weit geöffnet und die Augen sind aufgerissen. Aus dem vom Rumpf abgetrennten Hals fließt nicht nur Blut: dutzende von verschieden großen und dicken Schlangen - lange und kurze, helle und dunkle - scheinen aus dem Kopf zu kriechen. Andere umringeln den Kopf und die Haare. Peter Paul Rubens malte 1617 das Antlitz der Medusa, die durch die Hand des Perseus getötet wurde. Ein Bild des absoluten Grauens, das heute sicherlich mehr abstößt als im frühen 17. Jahrhundert, meint der italienische Kunsthistoriker Vittorio Sgarbi, als man an die öffentliche Darstellung von Grauen und Tod gewöhnt war:

Von Thomas Migge |
    " Mit der Ästhetik ist es so eine Sache. In früheren Jahrhunderten war die künstlerische Darstellung des Brutalen und Grausamen an der Tagesordnung, weil das Brutale und das Grausame zur Realität gehörten. Das änderte sich mit der Zeit. Heute sind diese Realitäten außerhalb unserer Umgebung, außerhalb Europas Alltag und werden von uns nicht ästhetisch verarbeitet, sondern nur noch kritisch betrachtet. In früheren Jahrhunderten existierte eine Fusion von Grauen und Ästhetik. "

    Der Wandel in der Beziehung zwischen Grausamkeit und Kunst ist das Thema, mit dem Vittorio Sgarbi Italiens Öffentlichkeit schockiert. So sehr schockiert, dass die Stadtverwaltung von Turin für die Ausstellung mit ihren rund 250 Werken, vor allem Gemälde und Skulpturen, ein Besuchsverbot für Kinder unter 14 Jahren erließ. Sgarbi amüsiert sich über dieses Verbot:

    Kinder könnten doch im Fernsehen und in Computerspielen, meint er, wesentlich brutalere Dinge sehen als in seiner Kunstschau. Eine Kunstschau, die er "il Male" nennt, das Böse. Thematisiert wird das Böse in den Sektionen Malerei, Skulptur und Fotografie. Ausgehend von der Kunst der frühen Renaissance versucht er den Ausstellungsbesuchern deutlich zu machen, dass die künstlerische Rezeption des Bösen im Laufe der Jahrhunderte immer mehr in die Richtung einer Kritik des Grausamen verlief. Während Renaissance- und Barockfürsten ihre Paläste mit kriegerischen Szenen ausmalen ließen - auf denen das Abschlachten von Feinden zur ikonografischen Norm gehörte, an der sich niemand störte und die niemanden abstieß - erfüllten solche Darstellungen im 19. Jahrhundert vor allem zwei Ziele: die Hervorhebung des Patriotischen als Abgrenzung zum Anderen und Feindlichen sowie die entschiedene Kritik am Krieg. Vittorio Sgarbi:

    " Die ästhetischen Werte änderten sich im Laufe der letzten 200 Jahre. Die Darstellung des Bösen sui generis erfolgte immer mittels Kunst, erhielt aber einen negativen Bezug, implizierte zunehmend Kritik am Bösen. Diesen Wandel in Form einer Ausstellung zu verdeutlichen ist wichtig, gerade in unserer Zeit, in der wir mit Fotografien, die kriegerische Brutalitäten zeigen, überschwemmt werden. "

    Sgarbi zeigt in seiner Ausstellung Gemälde von Fra Beato Angelico und Antonello da Messina, von Balthus und Schiele, Bacon, Picasso und Warhol. Zu sehen sind Tote und Gefolterte, Märtyrer, denen die Haut abgezogen oder die Brüste abgeschnitten werden. Anderen werden die Augen ausgedrückt. Der Ausstellungsbesucher wird mit einer Horrorgalerie konfrontiert: zerstückelte Menschenleiber bei Goya, das brutale Verhör Christi im Kerker, ein eindrucksvolles Werk des Mascagno, und ein Geköpfter von Picasso - Bilder des Bösen, das uns umgibt, das aber, so der Ausstellungsmacher, verdrängt wird. Das verdrängte Böse, davon ist Sgarbi überzeugt, kehrt in der modernen Kunst dank der psychoanalytischen Sichtweise der Welt zurück: die in Turin ausgestellten Gemälde von Bacon und Lucien Freud machen das deutlich. Sie zeigen Personen, denen das Grauen ins Gesicht geschrieben steht. Die Malerei wird, so Sgarbi, zur "Psychoanalyse in Ölfarben":

    "Das alles zu verstehen ist nicht einfach, aber wenn man die hier ausgestellten Werke Revue passieren lässt wird deutlich, dass das Böse immer real ist, nur dass es sich immer anders gibt. Früher lebten die Menschen von alltäglichen Grausamkeiten umgeben und malten sich Grausames an die Wände ihrer Paläste. Heute tun wir so, als ob uns das alles abstößt, in Wirklichkeit aber holen wir es uns in unsere Wohnungen: mittels der vielen Fotos aus Kriegsgebieten, die wir ständig in unseren Zeitungen finden. Wir sind gezwungen uns jeden Tag mit dieser virtuellen Darstellung des Bösen auseinanderzusetzen."

    Sgarbi zeigt beeindruckende Gewaltdarstellungen von Fotografen wie Salgado und Capa, von Roiter, Berengo Gardin - aber auch von Mapplethorpe, der die Gewalt im erotischen Bereich ablichtete. Vor allem in den ausgestellten Reportagefotografien wird deutlich, dass viele der Darstellungen von getöteten oder gefolterten Menschen an Sujets von Gemälden aus dem 16. und 17. Jahrhundert erinnern. Unwillkürlich stellt man sich Frage, warum uns die Fotos abstoßen, die Ölbilder aber weitaus weniger.