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Das Böse in uns

Kafkas "Schloss", Euripides Troerinnen-Drama, "Bernarda Albas Haus" von Lorca - Der Komponist Aribert Reimann hat sich immer für die großen Vorlagen interessiert, die großen Konflikte, die großen Tragödien, und sie in Musik umgesetzt. "Archetypische Stoffe faszinieren mich", so hat Reimann es bei der Premiere seines "Lear" in Frankfurt ausgedrückt.

Von Christoph Schmitz |
    König Lear ist alt und müde und will die Verantwortung der Macht auf jüngere Schultern verteilen. Seine drei Töchter sollen über das Land herrschen. Die ihn am meisten liebt, bekommt am meisten. Mit seinem Eingeständnis der Altersschwäche setzt Lear das Räderwerk von Gier, Machtgelüsten und Intrigen in Gang. Am Ende haben sich fast alle gegenseitig gemeuchelt.

    Wolfgang Koch als Lear singt und spielt die Schwäche, die Wut, den Wahnsinn und die Vereinsamung bis in jede Verästelung des Gefühls. Stimmlich und mimisch ist er bewundernswert wandlungsfähig, auch noch am Schluss im leisen sphärischen Abgesang nach einer mörderischen Partie. Aber auch die Sängerinnen von Lears Töchter, Goneril, Regan und Cordelia, meistern in der Frankfurter Inszenierung ihre höchst anspruchsvollen Rollen mit großer Sicherheit und Ausstrahlung. Gonerils geheuchelte Liebe zum Vater schmiedet Jeanne-Michèle Charbonnet in glühende kantige Formen, die gleich am Anfang alle Bosheit offenbaren.

    "Dich Vater, liebe ich mehr als meiner Augen Licht und Freiheit."

    Das Furienhafte der bösen Töchter liefert auch Caroline Whisnant in der Rolle Regans, Lears zweiter Tochter. In den höllisch zerklüfteten Tonfolgen, den gespreizten Koloraturen und den hysterischen Melismen legt sie den Schrecken des von unbedingter Machtgier zerfressenen Menschen frei.

    "Hätte ich für dich nicht Leib und Seele geopfert?"

    Wer sich dieser Kultur des Todes widersetzt ist Lears dritte Tochter Cordelia. Sie will dem öffentlichen Ritual eines Lippenbekenntnisses zur Vaterliebe nicht folgen. Den leuchtenden Höhen von Cordelias Stimme verleiht Britta Stallmeister alle Festigkeit und ätherische Aura des Mitfühlens. Bis zur Umarmung des wahnsinnigen Vaters gegen Ende.

    "Jetzt sollst du Frieden finden."

    Sehr genau arbeiten Sänger und Orchester unter dem neuen Frankfurter Generalmusikdirektor Sebastian Weigle die musikalischen und charakterlichen Verwandtschaften zwischen einzelnen Figuren heraus, wie die zwölftönigen Reihen von Cordelia und dem Sohn des Grafen von Gloster, Edgar. Der gute Mensch Edgar wird schlank gesungen vom Countertenor Martin Wölfel - rein, lieblich, verletzlich und entschieden stark, wenn es um den Kampf gegen die Machenschaften des Bösen geht. Die Machenschaften des Bösen in der Musik lässt der Dirigent Sebastian Weigle auf atemberaubende Weise aufbrechen. Ekstatisch und kontrolliert zugleich führt er die Klangmassen, die Cluster, die flageolettierten Flächen, die herumirrenden Solostimmen der Instrumente.

    Aribert Reimanns Komposition über die selbstzerstörerischen Urkräfte des Menschen hat der britische Regisseur Keith Warner bebildert. Die altgewordene Welt des Herrschers Lear hat er in Kostüme des 19. Jahrhundert gepackt. In einem beengten tapezierten Raum hockt der Adel zusammen und starrt blind für sich und die Welt durch Jalousien ins Publikum. Die Jugend schreibt sich die Post aber schon per E-Mail. Die Einöde, durch die die Verbannten und Wahnsinnigen irren, ist eine gewaltige Müllhalde. Man ist versucht, die Zeichen als politische Aktualisierung zu lesen, kommt damit aber nicht so recht weiter, weil Warner und sein Bühnenbildner Boris Kudlicka den letzten konkreten Zugriff verweigern, was auch gut ist. Ein paar Versuche Warners, aus dem Stück eine schwarze Komödie zu machen, scheitern. Am besten wird die Inszenierung, wo sie auf Bilder verzichtet und wie im zweiten Teil nur eine Regenwand auf schwarzer Bühne hinabrieseln und die Akteure unter Regenschirm und Baldachin herumziehen lässt. Dann versteht man am besten, dass Machtgier keine Zeit und keinen Ort hat, sondern überall und immer da ist.