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Das Dach Europas

Chamonix in den französischen Westalpen ist vermutlich der älteste Touristenort weltweit: Seit dem 18. Jahrhundert zieht es die Schönen und Reichen aus aller Welt in das Tal. Seinen Wohlstand hat Chamonix dem Mont Blanc und seinen Gletschern zu verdanken.

Von Bettina Kaps | 16.05.2010
    Dicke Mauern, kleine Fenster, ein grünes Kupferdach. Maison de la Montagne steht auf einer Holzplanke über dem Eingang. Das "Haus der Berge" liegt abseits vom Touristenstrom, gleich neben der Kirche von Chamonix. Dort, so sagen die Alteingesessenen, schlägt das Herz der Stadt.

    Patricia, eine schlanke blonde Frau, steht vor ihrem Schreibtisch und telefoniert. Das Fenster in ihrem Rücken gibt den Blick frei auf die Gipfelkette: Aiguille du Goûter, Dôme du Goûter und dann die runde weiße Kuppe des Mont Blanc, 4810 Meter hoch.

    "Heute ist die Tour auf den Mont Blanc teilweise verschneit. Die Schneegrenze liegt auf den Nordhängen bei 1800 Metern und auf den Südhängen bei 2.000 Metern. Aber weil es in den letzten Tagen so heiß war, kann sich die Schneelage schnell ändern."

    Drei Spanier betreten den Raum: Sie wollen die Aiguille Verte besteigen, einen der schwierigsten Viertausender der Alpen. Ein junges Pärchen aus Massachusetts sucht hingegen einen schönen, nicht anstrengenden Wanderweg. Patricia kann allen helfen. Im "Haus der Berge" findet der Wanderer jede gewünschte Information über das Mont Blanc-Massiv. Und der Service ist sogar kostenlos, denn die Verantwortlichen wollen die Zahl der Unfälle im Gebirge verringern.

    Wer das Maison de la Montagne verlässt, kommt an Sportgeschäften, Souvenirläden und Cafés vorbei zu einem riesigen weißen Palast.

    Das Chamonix Palace ist ein Überbleibsel aus der Belle Epoque, wie auch das Majestic und Le Savoy. Die luxuriösen Hotelpaläste wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts gebaut. Damals war es chic, in Chamonix gesehen zu werden. Die kleine Bergstadt zog neben Alpinisten auch reiche Aristokraten, Politiker, Schauspieler an. Mit ihrer Jugendstil-Architektur erinnern die Paläste an die Promenaden mondäner französischer Seebäder wie Cannes oder Deauville. Das Majestic ist heute ein Kongresszentrum, in dem auch Konzerte stattfinden. Im Chamonix Palace wurde ein Museum eröffnet.

    Dort baut die Kunsthistorikerin Catherine Poletti die Ausstellung: "Auf zum Mont Blanc, eine Einladung zur Reise" auf. Auf einem Kupferstich ist zu sehen, dass die Gletscher des Mont Blanc die Reisenden schon im 18. Jahrhundert anzogen.

    "Das Bild stellt den Besuch der Briten Windham und Pococke in Chamonix dar. Windham war ein junger Offizier, Pococke ein Forschungsreisender, der aus dem Orient zurückkam. 1741 reisten sie aus Genf an, um dieses Tal zu erkunden. Damals hatte das Gebirge einen schlechten Ruf. Die Menschen glaubten, dass dort Drachen hausten. Die Gletscher waren bedrohlich, die Natur feindselig. Die Briten kamen als Abenteurer nach Chamonix."

    Im 16. und 17. Jahrhundert herrscht eine kleine Eiszeit. Die Alpengletscher wachsen, an manchen Tagen rücken sie bis zu zwei Meter vor, das Eis knackt und knirscht, neue Spalten tun sich auf, Séracs – hausgroße Eisblöcke – brechen ab, Dörfer sind bedroht.

    William Windham und Richard Pococke schreckt das nicht ab. Von Genf aus haben sie das Glitzern des Gletschereises gesehen. Das geheimnisvolle Tal zieht sie magisch an. Chamonix ist ein Nest mit Bauern, Hirten, Gämsenjägern und besitzt damals noch ein Kloster. Ein Bild zeigt die Ankunft der britischen Karawane: Ein Dutzend Männer, bis zu den Zähnen bewaffnet, werden freundlich von Mönchen empfangen. Die Briten stellen erleichtert fest, dass die Bewohner des abgelegenen Bergdorfs keine Wilden sind.

    Gleich am nächsten Tag organisieren sie eine Expedition zu dem riesigen Gletscher, der damals bis an das Dorf heranreicht. Es ist keine sehr anstrengende Tour: Le Montenvers, wie der Aussichtspunkt heute heißt, liegt nur 900 Meter höher als Chamonix.

    Die Gemälde im Museum zeigen eine grandiose Landschaft: ein zu Eisblöcken erstarrter brodelnder Fluss. Windham und Pococke sahen darin ein gefrorenes Meer und tauften den Gletscher Mer de Glace. Ihre schwärmerischen Reiseberichte wurden in allen literarischen Blättern Europas veröffentlicht. Damit lösten sie eine Mode aus, sagt Catherine Poletti.

    "Es war der Beginn des Tourismus in Chamonix. Die Reisenden kamen zuerst wegen des Mer de Glace, das Windham und Pococke regelrecht erfunden haben. Ein Jahr später trifft der Genfer Mathematiker Pierre Martel mit einem anderen Ziel in Chamonix ein: er will die Berge vermessen. Martel ist der erste, der den höchsten Gipfel Mont Blanc nennt. Aber die Besucher folgen damals alle den Spuren der Briten. Sie wollen die Gletscher sehen."

    Schon bald reiste, wer Rang und Namen hatte, zum Eismeer: vermögende Engländer, Künstler, Wissenschaftler und Offiziere. Die Besucher kamen so zahlreich, dass ein englischer Mäzen auf dem Montenvers eine Schutzhütte bauen ließ. Dort ruhte sich auch Goethe von den Strapazen des Anstiegs aus. 1779 notierte er auf dem Gletscher: "Was für eine Hingabe an dieses Schauspiel aus Eis!" Ihm folgten Lord Byron, Victor Hugo, George Sand und Franz Liszt. Gemälde zeigen elegante Herren und Damen in langen Kleidern, die sich in Sesseln auf den Berg tragen lassen oder auf Maultieren reiten. 1909 wurde eine Zahnradbahn fertiggestellt – der Massentourismus begann.

    Ein roter Zug wartet auf dem Gleis, Touristen und ein paar Bergsteiger mit Seilen und Eispickeln setzen sich auf die Holzbänke. Schon nach 20 Minuten Fahrzeit zeigt sich der Gletscher. In weiten Kurven windet sich das Eis das Tal hinunter, schleppt hausgroße Felsbrocken und Gesteinsschutt mit, die Gletscherzunge sieht grau und schmuddelig aus.

    Beeindruckend das Panorama von der Aussichtsterrasse des Bahnhofs: ein Kamm spitzer Granitnadeln. Es sind berühmte Drei- und Viertausender, extrem schwere Klettergipfel. Am Geländer der Terrasse lehnt ein kräftiger Mann mit Bürstenschnitt und dunkelblondem Kinnbart. Er blickt hinunter auf den Gletscher, seufzt.

    "Dieses arme Mer de Glace – ästhetisch betrachtet sieht es ja nun nicht mehr besonders schön aus. Wir haben Kunden, die uns fragen, warum wir den Gletscher nicht säubern! Aber wenn man genauer hinschaut, sieht man, welchen Durchmesser diese vermeintlichen Staubkörner haben – das wäre eine ziemlich heikle Aufgabe."

    Eric Dunant arbeitet in der Firma "Compagnie du Mont Blanc", die alle Gondeln in und um Chamonix betreibt. In den 80er-Jahren, erzählt der Ingenieur, drängten an einzelnen Tagen 11.000 Fahrgäste zum Gletscher. Heute befördert er zwar deutlich weniger Personen, aber 800.000 Besucher im Jahr sind es immer noch.

    "Die Leute kommen nach wie vor, weil sie den Gletscher sehen und das Eis anfassen wollen. Die Grotte, die jedes Jahr ins Eis gehauen wird, ist eine echte Attraktion. Wir haben Untersuchungen angestellt, ob wir nicht eine falsche Eisgrotte bauen könnten, also eine tiefgekühlte Höhle aus künstlichem Eis, da könnten wir dann auch viel ausgefeiltere Skulpturen zeigen, weil die Temperatur konstant bliebe. Aber die Leute kommen nicht wegen der Skulpturen, sie wollen in den Gletscher hineingehen."

    Eine Seilbahn fährt die Besucher näher an die Eisgrotte heran. Aber weil der Gletscher durch die Klimaerwärmung abschmilzt, wird der Fußweg von der Gondel zum Gletscher immer länger. Die "Compagnie du Mont Blanc" hat eigens einen Metallsteg und eine Treppe installiert, auf denen auch Touristen, die nicht gut zu Fuß sind, bequem bis zur Grotte laufen können. Den Steg muss sie jedes Jahr verlängern.

    Eine Schulklasse drängt in die Eishöhle. Hier ist es kühl und dunkel. Scheinwerfer beleuchten die Wände, sie schimmern bläulich. An manchen Stellen ziehen sich Luftblasen durch das Eis, wie weißliche Schleier. Aus Lautsprechern tönt Hintergrundmusik.

    Die Viertklässler umringen einen etwa 40-jährigen Mann. Luc Moreau ist Geograf und Gletscherforscher. Er erklärt den Kindern, dass sie 30 Meter unter der Oberfläche stehen und das Eis um sie herum vor rund 250 Jahren einmal als Schnee auf den Gipfeln lag.

    "Das Eis hat hier eine Temperatur von exakt null Grad. Es hält der Wärme lange stand. Es braucht nämlich genauso viel Energie, um Eis von minus 15 Grad auf null Grad zu erwärmen, wie Eis von Null Grad in Wasser zu verwandeln. Deshalb kann der Gletscher vom Gipfel bis ins Tal eine Strecke von zehn Kilometern zurücklegen und deshalb gibt es hier, am Montenvers, heute noch Eis. Vor 200 Jahren war das Mer de Glace allerdings zwei Kilometer länger."

    Moreau zeigt auf einen großen Felsblock vor der Grotte: Dort hat er eine Kamera installiert, die jeden Tag sieben Fotos schießt. Auf diese Weise entsteht allmählich ein Film.

    "Der Gletscher verändert sich von einer Woche zur nächsten, aber wir sehen nicht, wie er sich bewegt. Ich kann nur feststellen, dass zum Beispiel der Granitblock dort hinten umgekippt ist. Wenn ich den Film im Schnelllauf anschaue, bin ich tief beeindruckt."

    Die Fotos führen plastisch vor Augen, wie der Gletscher schmilzt und wächst. Im Sommer verliert das Mer de Glace etwa 12 Meter, sagt Moreau, im Winter kommen ungefähr sieben Meter an Schnee und Eis hinzu. Die Eismasse nimmt also rund fünf Meter pro Jahr ab.

    "Was in Zukunft passieren wird, kann niemand vorhersagen. Wir wissen allerdings, dass jeder Gletscher verzögert auf die Klimaschwankungen reagiert. Dabei spielen die Lage zur Sonne, die Höhe und das Gefälle eine Rolle. Der Bosson-Gletscher am Mont Blanc reagiert mit drei bis vier Jahren Verspätung auf das Klima. Das Mer de Glace hat eine Verzögerung von zehn bis 15 Jahren. Egal wie sich das Klima jetzt entwickelt – das Eis wird zehn Jahre lang schmelzen."

    Zurück in Chamonix. Vor der Kirche steht eine Fremdenführerin mit weißblondem Lockenkopf. Bernadette Tsuda zeigt die Straße hinunter. Zu beiden Seiten sind großbürgerliche Häuser zu sehen, vier bis sieben Stockwerke hoch, mit schmiedeeisernen Balkonen. Fenster und Türen sind mit hellgrauem Granit eingefasst. Die meisten waren früher Hotels, sagt Tsuda, ihre Namen verrieten die Kundschaft: Hotel der Ausländer, Hotel London, Hotel Victoria, Hotel Imperial, Hotel der Krone.

    "Mit den Touristen, die nach Chamonix strömten, änderte sich die Architektur. Man wetteiferte um die reichen Besucher, wollte ihnen viel Komfort bieten, so entstanden diese prächtigen Hotels. Chamonix entwickelte einen ganz eigenen, städtischen Charakter. Es ist kein kleines Bergdorf mit Holzbalkons, Geranien und einem Kirchturm in der Mitte."

    In der Fußgängerzone flanieren Touristen, man hört Spanisch, Englisch, Japanisch, Russisch, Deutsch. Supermärkte wechseln mit Sportgeschäften, im Fenster einer Chanel-Boutique sind Jeans für 700 Euro ausgestellt. Chamonix lebt ausschließlich vom Tourismus. Die Stadt zählt knapp 10.000 Einwohner und 65.000 Hotelbetten. Zur Hochsaison halten sich bis zu 100.000 Touristen in Chamonix auf.

    Wer zur Arve spaziert, einem Gletscherfluss, stößt auf ein Bronzedenkmal: Ein Mann mit Hut und Hanfseil über der Schulter zeigt einem Herrn im Gehrock den Weg. Es sind Jacques Balmat, Erstbesteiger des Mont Blanc, und der Genfer Naturforscher Horace Benedict de Saussure. Der Gelehrte setzte 1760 eine Belohnung aus für denjenigen, der ihm den Weg zum Gipfel des Mont Blanc zeigt. Erst 26 Jahre später bezwang der Kristallsucher Balmat den höchsten Berg Europas. Heute können sich Alt und Jung dem Mont Blanc ganz bequem nähern: Eine Seilbahn fährt sie auf einen Nebengipfel, die Aiguille du Midi.

    Schon um sieben Uhr früh stehen Bergsteiger mit Seil und Pickel an der Talstation Schlange, um die erste Gondel zu ergattern. Wer in den Himmel schaut, entdeckt oben im Gebirge eine Felsnadel, auf die ein spitzer Turm gebaut ist. Er ragt steil wie eine Rakete in die Höhe. Das ist die Bergstation in 3842 Meter Höhe.

    Ein schlanker Mann mit randloser Brille, orangem Anorak und gelben Skistiefeln verlangt zwei einfache Fahrten für sich und seine Frau. Doug Rosillon ist Belgier, von Beruf Schönheitschirurg. Die Frage, wo er hin will, überrascht ihn. Für den etwa 50-Jährigen gibt es offenbar nur ein einziges Ziel:

    "Na, den Mont Blanc! Das Wetter ist schön, wir packen unsere Ski und auf geht´s. Zuerst werden wir von der Aiguille du Midi über den Grat absteigen, dann steigen wir in Richtung Mont Blanc du Tacul auf, klettern auf den Mont Maudit, überqueren einen Pass, besteigen den Mont Blanc und fahren mit den Skiern ab."

    Die Gondel rauscht gen Himmel, überwindet, in zwei Streckenabschnitten, 2800 Höhenmeter. Jürg aus der Schweiz ist zum ersten Mal im Hochgebirge:

    "Das ist für mich eindrücklich, wie man in Minuten von einer Welt in eine ganz andere Welt hineinkommt. Unglaublich! Dem Himmel näher."

    Die Alpinisten schnallen Steigeisen an. Ein älterer Mann schultert einen schweren Rucksack. Christian Vincent ist Forschungsingenieur im Labor für Gletscherkunde in Grenoble. Er und seine zwei Kollegen sind nicht zum Wandern hier.
    "Wir wollen Séracs untersuchen, das sind Türme aus Gletschereis, die sich an der Abbruchkante des Taconnaz-Gletschers unterhalb des Dôme du Goûter gebildet haben. Sie können gefährlich werden, denn wenn diese Eisblöcke mitten im Winter abbrechen, lösen sie schwere Lawinen aus, die das Tal von Chamonix erreichen können."

    Nur erfahrene Bergsteiger können die schützende Bergstation mit ihrem Restaurant und der Aussichtsplattform verlassen, denn hinter einem tief verschneiten kleinen Vorplatz beginnt sofort ein steiler Grat. Die Touristen greifen zu Fernglas oder Fotoapparat. Von der Terrasse aus beobachten sie, wie die einzelnen Seilschaften zu den Gletschern und Gipfeln aufbrechen. Der Mont Blanc schimmert erhaben in der Morgensonne. Auf seinem breiten Buckel wirken die Gestalten winzig wie Ameisen.