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Das Deutsche und das Fremde

Der Autor Navid Kermani lebt als Muslim in Deutschland. Für die Sendung "Hintergrund" setzt er sich kritsch mit Fragen der Identität, dem Islam in Europa und der Integration auseinander. "Dieses Land, die Bundesrepublik, hat eine gewaltige Integrationsleistung vollbracht", sagt Kermani. Und dabei habe Deutschland über Jahrzehnte keinerlei Integrationspolitik betrieben, sondern eher eine Integrationsverweigerungspolitik.

Von Navid Kermani | 30.12.2007
    Kapitel 1: Identität im Plural

    Identität ist per se etwas Vereinfachendes, etwas Einschränkendes, wie jede Art von Definition. Es ist immer eine Festlegung dessen, was in der Wirklichkeit vielfältiger, ambivalenter, durchlässiger ist. Das ist zunächst nicht schlimm, sondern ein ganz normaler Vorgang. Ich sage von mir: Ich bin Muslim. Der Satz ist wahr, und zugleich blende ich damit tausend andere Dinge aus, die ich auch bin und die meiner Religionszugehörigkeit zu widersprechen scheinen – ich schreibe zum Beispiel ziemlich freizügige Bücher über die körperliche Liebe, oder bejahe selbstverständlich die Freiheit zur Homosexualität. Das ist ein Widerspruch. Der Islam lehnt die Homosexualität ab, und Bücher über Sex legt der Koran auch nicht eben nahe.

    Wahrscheinlich ließe sich irgendeine Interpretation konstruieren, die Homosexualität oder die freizügige Schilderung sexueller Handlungen islamisch legitimieren könnte. Aber das beschäftigt mich nicht. Nicht alles, was ich tue, steht in Bezug zu meiner Religion. Für mich selbst bin ich durch solche Handlungen und Bekenntnisse in meinem Muslimsein überhaupt nicht eingeschränkt. Das mag sich paradox anhören, aber mit dieser Art Religiosität bin ich aufgewachsen, mit all diesen Ambivalenzen, Brüchen, Widersprüchen. Manche meiner älteren Verwandten hielten zum Beispiel streng ihr Ritualgebet ein, verzichteten deswegen aber nicht auf ihren abendlichen Wodka. Niemand wäre auf die Idee gekommen, einem Muslim, der auch Alkohol trinkt, die Zugehörigkeit zum Islam streitig zu machen. Genausowenig hätte jemand den Alkoholkonsum islamisch begründet. Wenn etwas fehlte, war es Eindeutigkeit.

    Ich bin Muslim, ja – aber ich bin auch vieles andere. Der Satz, "ich bin Muslim", wird also in dem Augenblick falsch, ja geradezu ideologisch, wenn ich mich ausschließlich als Muslim definiere – oder definiert werde. Deshalb stört es mich auch, dass die gesamte Integrationsdebatte heute eine Debatte geworden ist über den Islam – als ob die Einwanderer nichts anderes wären als Muslime. Damit werden alle anderen Eigenschaften und Faktoren ausgeblendet, die ebenfalls wichtig sind: woher sie stammen, wo sie aufgewachsen sind, wie sie erzogen wurden, was sie gelernt haben. Iraner und Türken, zum Beispiel, bekennen sich zum selben Glauben. Und doch haben sie sich in Deutschland völlig unterschiedlich entwickelt. Für ihre Integration viel relevanter ist nämlich, dass die iranischen Einwanderer aus den städtischen Mittelschichten, die türkischen Einwanderer hingegen aus den Dörfern kamen.

    Natürlich neigen wir zu Bestimmungen, Einordnungen, also: Identifikationen. Jemand anders identifiziert mich mit dem Islam oder im Gegenteil dadurch, dass ich aus seiner Sicht doch gar kein echter Muslim sei, da ich dieses oder jenes tue, was aus seiner Sicht mit dem Islam in Widerspruch steht. Den Widerspruch leugne ich auch gar nicht. Ich sage nur: So widersprüchlich sind wir alle, und ich bin mir sicher, dass jeder einzelne ebenso viele und unterschiedliche Identitäten hat. Man stelle sich nur einmal vor, man würde in allem, was man tut, denkt, fühlt, Deutscher sein, und nur als Deutscher agieren, essen, lieben – das wäre doch ziemlich grauenhaft.

    Bedenklicher noch: Identitätsfindung funktioniert grundsätzlich über die Abgrenzung von anderen Identitäten. Es gibt das Eigene nur, wo es etwas anderes gibt. Auch das ist zunächst ein normaler Vorgang. Und doch liegt eben hier, in der Konstruktion dessen, was man selbst ist, und der Abgrenzung von dem, was andere sind, ein Gewaltpotential.

    Die Armenier im Iran zum Beispiel, die sich selbstverständlich als Iraner begriffen hatten, sahen sich mit der Etablierung eines Islamischen Staates urplötzlich damit konfrontiert, aus dieser iranischen Identität ausgeschieden worden zu sein. Gewiss betonten die neuen Führer, dass Juden und Christen alle Rechte genössen – aber plötzlich waren es Minderheitenrechte. Die Nation selbst definiert sich über den Islam.

    Ähnlich geschieht es mit den Muslimen im Hindunationalismus. Wir haben nichts gegen Muslime – immer wieder habe ich das auf meinen Reisen in Indien gehört. Aber plötzlich ist da ein indisches Wir, das nicht-muslimisch ist, und ein muslimisches "Sie", gegen das wir nichts haben. Diese Muslime fühlten sich bis gestern genauso als Inder wie die Hindus. Und wie oft höre ich in Deutschland, dass "Wir" nichts gegen Muslime hätten. Oder alle möglichen Talksendungen zum Islam: Wie können "Wir" mit den Muslimen umgehen, müssen "Wir" Angst haben vor dem Islam? Dass zu diesem "Wir" auch Muslime gehören könnten, scheint beinahe undenkbar zu sein. Es ist gar nicht einmal böse gemeint, jedenfalls nicht immer. Wir Deutsche müssen Dialog führen mit den Muslimen, sagen die Gutwilligen. Das ist löblich, nur bedeutet das für etwa 3,5 Millionen Menschen in diesem Land, dass sie den Dialog mit sich selbst führen müssten.

    "Auf dem Wege hierher hatte ich einen Anblick, der meine Ästhetik beschädigt hat, eine von oben bis unten verhüllte Frau: ein menschlicher Pinguin."

    "Wenn wir einen Blick auf die öffentlichen Debatten der letzten Jahre werfen, dann überwiegt leider nicht der nüchterne Ton, sondern ich stoße auf Hysterie und Polemik."

    "Wie geht eigentlich ein klassisches Einwanderungsland mit diesen Fragen um?"

    "Die Quelle des islamistischen Terrors liegt in den Schwierigkeiten der islamischen Gesellschaft bei der Anpassung an die Moderne."

    Kapitel 2: Islam und Europa

    Wir nehmen den Fundamentalismus und überhaupt die Rückkehr der Religionen in der Regel nur dann wahr, wenn sie mit politischen Forderungen auftreten oder gar mit physischer Gewalt. In der Breite ist der Fundamentalismus seit seinen Anfängen im frühen 20. Jahrhundert bis heute überall – sei es in der islamischen, der asiatischen oder in der christlichen Welt – eine Bewegung, die den Einzelnen einbindet in die klar umrissene Ordnung eines Kollektivs, das streng unterschieden ist von anderen Kollektiven. Das muss keine aggressive Unterscheidung sein. Fundamentalistische Lebensentwürfe sind attraktiv, weil sie die Menschen mit dem versorgen, was ihnen in der modernen, globalisierten Welt am meisten fehlt: Eindeutigkeit, verbindliche Regeln, feste Zugehörigkeiten, eine klar umrissene Identität.

    Europa ist vom Drang nicht ausgenommen, das Eigene zu definieren - und damit gleichzeitig das Andere, das Gegenüber, das Fremde. Ich denke dabei nicht so sehr an die Papst-Begeisterung und an die vielen Prominenten, die auch von Deutschland aus auf den Pilgerpfad schreiten oder nach alten Tugenden rufen. Die westeuropäischen Gesellschaften sind so tiefgreifend säkularisiert – im Sinne eines Bedeutungsverlustes der organisierten Religionen -, dass das konfessionelle Moment nicht politisch durchschlägt und manchmal einen eher folkloristischen Charakter annimmt. Die Schlagzeile der Bild-Zeitung zum Weltjugendtag brachte die ganze Absurdität der religiösen Event-Kultur zum Ausdruck: "Gottes geilste Party." Die Kirchen sind nicht voller, und der Papst wird diese Art von Unterstützung, die mehr mit Wir-Gefühl als mit religiöser Wahrhaftigkeit zu tun hat, auch nicht wirklich ernstnehmen, nehme ich an.

    Will man in West-Europa ein Wir schaffen, reicht das Christentum als Identitätskitt nicht aus. Besser eignen sich Aufklärung und Säkularität, um sich von anderen Kulturen und speziell vom Islam abzugrenzen. Das Christentum kann dann als kulturgeschichtlicher Faktor einbezogen werden, also etwa indem man die europäische Geschichte als Geschichte des christlichen Abendlandes deklariert. Zu welchen kuriosen Blüten ein derart christlich gedrehter Aufklärungsfuror führen kann, hat der baden-württembergische Muslimtest gezeigt, als ausgerechnet Christdemokraten die Freiheit zur Homosexualität als Erkennungsmerkmal der europäischen Kultur ausgaben. Natürlich ging es der CDU nicht um die Nähe zu den Schwulen, sondern um die Abgrenzung von den Muslimen.
    Die geistige Aufrüstung, die in Teilen der Gesellschaft betrieben wird, ist unübersehbar.

    Die Berichterstattung zum Islam in einzelnen Medien wie der FAZ oder dem Spiegel hat längst den Charakter einer Kampagne angenommen und ist von Medienwissenschaftlern vielfach analysiert worden. Aber nicht nur die Kulturkämpfer formieren sich, sondern immer deutlicher auch die Gegenseite, die Anhänger eines offenen Europas, auch in den Medien. Die Einführung eines Wortes zum Freitag bei manchen Sendern ist dabei nur ein symbolisches Zeichen. Als wichtiger wird sich erweisen, dass der Anteil von Einwandererkindern in der Volontärsausbildung stark gestiegen ist und sich die Zusammensetzung der Redaktionen so allmählich der Zusammensetzung der Gesellschaft annähert. Und was immer über oder gegen den Islam in jüngster Zeit geschrieben wird, bei allen schrillen Tönen – in der Gesellschaft funktioniert das Zusammenleben weitaus besser, ist die Toleranz gegenüber Muslimen weitaus größer, als es in der medialen Wirklichkeit erscheint.

    "Integrationspolitik wird immer eigentlich ein wenig runtergewählt. Aber ich glaube schon, dass sie so schlecht nicht gewesen sein kann, weil wir eben so etwas wie in Frankreich nicht gehabt haben."

    "Wir reden nicht mehr über einander; wir reden miteinander. Und das ist der entscheidende Punkt."

    "Da gehen wir mal, wenn wir dann die religiöse Frage ansprechen, in manche Mennoniten-Gemeinde in Westfalen, wo die Eltern verbieten, dass die Kinder am Schwimmunterricht, am Biologie-Unterricht teilnehmen, weil das alles so verweltlicht ist, und wir mit Polizei die Kinder in die Schule bringen."

    "Und deshalb finde ich, müssen wir auch ganz konkret auf bestimmte Dinge achten, z. B. darauf, dass Moschee-Kuppeln nicht demonstrativ höher gebaut werden als Kirchtürme. Toleranz kann und darf nicht Beliebigkeit bedeuten."

    Kapitel 3: Integration und soziale Wirklichkeit

    Die Diskrepanz zwischen medialer und gesellschaftlicher Realität ist mir am stärksten aufgefallen im Zuge der Diskussionen um den Bau einer Moschee in Köln. Wenn man manche Feuilletons las, musste man den Eindruck gewinnen, dass da ein gewaltiger Kulturkampf tobe und es massenhafte Proteste gäbe gegen den Bau einer repräsentativen Moschee. Die Diskussion vor Ort, die ich als Kölner nun selbst sehr genau wahrgenommen habe, wurde viel gelassener geführt, auch von denjenigen Bürgern, die den Bau mit Skepsis betrachten. Bei allen Bürgerversammlungen und auch bei vielen Demonstrationen für die Moschee hat sich gezeigt, dass es in Köln eine breite gesellschaftliche und politische Unterstützung für den Bau gibt, so strittig viele Fragen im Detail sind, Fragen nach der Größe des Gebäudes, nach Parkplätzen, nach der sozialen Mischung im Viertel - allesamt völlig legitime Fragen übrigens.

    Dieses Land, die Bundesrepublik, hat eine gewaltige Integrationsleistung vollbracht. Die Zusammensetzung der Bevölkerung hat sich innerhalb weniger Jahrzehnte fundamental verändert, ohne dass es zu sozialen Spannungen großen Ausmaßes gekommen wäre, vergleichbar etwa den Konflikten, die die Vereinigten Staaten mit den Hispanics haben, die Franzosen mit den Nordafrikanern oder die türkischen Städte mit den Landflüchtlingen. Und dabei hat Deutschland über Jahrzehnte keinerlei Integrationspolitik betrieben, sondern eher eine Integrationsverweigerungspolitik, wenn man an die Rückkehrprämie denkt oder an den Landeskunde-Unterricht der türkischen Botschaft an vielen deutschen Schulen.

    Während die konservativen Parteien bis zum Ende der Kohl-Ära die Einwanderung schlicht leugneten, wurde sie von vielen Linken auf naive Weise verklärt, nach dem Motto: Ausländer befreit uns von den Deutschen. Aber kein Mensch auf der Welt ist deshalb schon gut, weil er kein Deutscher ist, nicht einmal die Ausländer. Probleme der ländlichen Einwanderer wie krasse Unbildung, mangelnde Deutsch-Kenntnisse oft noch in der zweiten, dritten Generation, das sehr patriarchalische Weltbild, die Benachteiligung der Frauen wurden so vielfach ignoriert.

    Und dennoch ist die soziale Wirklichkeit, wie ich sie täglich wahrnehme, bemerkenswert entspannt – und ich lebe mitten in der multikulturellen Realität, in einem Viertel mit sehr hohem Migrationsanteil, mit all den Problemen, die das etwa für die Schulen unserer Kinder mit sich bringt. Natürlich gibt es andere bunt gemischte Viertel, die – anders als mein eigenes – enorme soziale Probleme haben. Der Zustand, dass Angehörige verschiedener Kollektive ganz ohne Probleme, ohne jedes Ressentiment zusammenleben, mag zwar wünschenswert sein, ist aber aller Erfahrung nach unrealistisch. Wo Unterschiede sind, sind auch Konflikte. Darauf zu achten ist, ob sie friedlich ausgetragen werden, also nur mit Worten, und ob sie sich auf staatliches Handeln und die Unabhängigkeit der Justiz auswirken.

    Deshalb haben mich unter all den Ereignissen, Diskussionen und Entwicklungen nur zwei Phänomene nervös gemacht: zum einen die Gefahr terroristischer Anschläge durch Islamisten, zum anderen die Reaktionen des Staates auf eben diese Gefahr, also die immer weitreichenderen Gesetze, Erlasse oder auch nur Forderungen, die mit der Abwehr terroristischer Angriffe begründet werden.

    Und dennoch: Deutschland ist heute ungleich weltoffener als noch vor zwei, drei Jahrzehnten. Es hat sich an die Einwanderung gewöhnt. Jeder von uns muss sich nur erinnern oder mit älteren Menschen sprechen, um Belege dafür zu finden, wie selbstverständlich die kulturelle Vielfalt heute geworden ist. Ich selbst merke, dass ich seit einiger Zeit nicht mehr gefragt werde, wann ich denn zurückgehen werde in meine Heimat. Bis vor einigen Jahren war das eine Frage, die jedem Migrantenkind wie mir regelmäßig gestellt wurde: Wann gehen Sie zurück? Ich fand die Frage gar nicht diskriminierend, ich fand sie auch nicht beleidigend. Ich fand die Frage vor allem kurios. Zurück – das wäre in meinem Fall Siegen in Südwestfalen. Und dorthin möchte ich nun wirklich nicht zurück. In mir rührte sich stets die Gegenfrage: Wann werden die Deutschen verstehen, dass wir nicht zurückgehen, sondern bleiben werden. Ich glaube, allmählich begreifen sie es. Sogar in der Politik.

    "Der Islam ist Teil Deutschlands und Teil Europas. Er ist Teil unserer Gegenwart, und er ist Teil unserer Zukunft."

    "Die Integration ist gescheitert. Hier leben seit Jahrzehnten Menschen, Muslime, die kein Deutsch können - Frauen besonders, weil sie zurückgehalten werden."

    "Jedes Kind wird die Möglichkeit haben, die Sprache Deutsch zu erlernen, und wir werden auch die Eltern, insbesondere die Mütter, in diese Programme einbeziehen, denn der Erwerb der deutschen Sprache ist die erste Voraussetzung für gelungene Integration."

    Kapitel 4: Islam und Integration

    Vor anderthalb Jahren hat Bundesinnenminister Schäuble die Deutsche Islamkonferenz ins Leben gerufen. Wie das mit repräsentativen Konferenzen so ist: Die Teilnehmer sitzen an einem Tisch von der Größe eines Volleyballfeldes, jeder sagt sein Statement auf, und am Ende heißt es vor der Presse, es sei eine sehr intensive und lebhafte Diskussion geführt worden.

    Und dennoch – diese Islamkonferenz ist großartig. Dass der deutsche Staat überhaupt offiziell mit "dem" Islam spricht, ihn also wahrnimmt, sich an einen Tisch mit 15 Muslimen setzt, dass der Innenminister, ein CDU-Innenminister, sich danach vor die Presse stellt und sagt: Der Islam ist ein Teil Deutschlands, ein Teil der Zukunft Deutschlands, ein Teil der Zukunft Europas, das sind Ereignisse von hohem symbolischen Wert, die vor einem Jahrzehnt, ach was, noch unter Schäubles Vorgänger Otto Schily undenkbar gewesen wären.

    Es gibt auf der Islamkonferenz sehr viel Streit darüber, was der Islam ist, und dieser Streit nimmt einen großen Teil der Zeit in Anspruch und wird zum Teil auch sehr emotional geführt. Sobald ein Satz anfängt mit der Formulierung "Der Islam ist..." oder "Die Muslime sind...", löst er Widerspruch aus. Das gleiche geschah aber, wann immer ein Politiker, sagen wir der CSU, die deutsche Kultur zu definieren versuchte, in die sich die Muslime zu integrieren hätten. Der erste Widerspruch kam vom Vertreter des Justizministeriums. Und die Muslime ergriffen Position mal für die eine, mal für die andere Position. Es gab keinen Streit, in dem auf der einen Seite der deutsche Staat, auf der anderen Seite die Muslime gestanden hätten. Schon nach kurzer Zeit lösten sich eben jene Eindeutigkeiten, festen Zugehörigkeiten, klar umrissenen Identitäten auf, welche die Fundamentalisten auch unserer Feuilletons predigen.

    Aber: Sobald wir über den Soll-Zustand sprachen, war die Einigkeit doch bemerkenswert groß. Es sind für mich mehr als nur die Konturen eines gesellschaftlichen Konsenses deutlich geworden, wie der Islam sein sollte, damit er sich integriert, und was der Staat tun müsste, damit Muslime sich integrieren können. Das beginnt mit dem eindeutigen Bekenntnis zum Grundgesetz und den darin verankerten Werten, das von allen Muslimen erwartet werden muss, und hört mit der Absage an jedweden Kulturrelativismus noch lange nicht auf. Es ist ganz klar, dass in Deutschland das staatliche Gesetz über dem religiösen Recht steht. Es darf keine Sonderrechte für Muslime geben, weder positiver noch negativer Art. Aber weitgehend einig waren wir uns auch, dass Muslime selbstverständlich das Recht haben, ihre Religion frei zu praktizieren, und das schließt den Bau von Moscheen ebenso ein wie die Forderung nach Islamunterricht an deutschen Schulen oder nach Ausbildung muslimischer Theologen deutscher Sprache.

    Zwar sind auch auf der Islamkonferenz Stimmen zu hören, die die freie Religionsausübung faktisch einschränken wollen, etwa durch das Verbot von Moscheebauten oder von islamischer Unterweisung an deutschen Schulen. Aber weder in der Konferenz noch in der Gesellschaft findet sich derzeit eine relevante politische Kraft, die mit der Abgrenzung vom Islam oder gar der Diskriminierung von Muslimen auf Stimmenfang geht.

    Das ist nicht selbstverständlich, wenn man an den Niedergang der politischen Kultur denkt, die mit dem Siegeszug der Rechtspopulisten verbunden ist, etwa in Dänemark mit seinen skandalösen Gesetzen zur bi-religiösen Eheschließung oder in der Schweiz, wo die SVP die Wahl mit Plakaten gewonnen hat, die an die Bildersprache der Nazis erinnern. In Deutschland wäre die politische Partei, die für eine solche Identitätspolitik in Frage käme, die CDU, und sicher gibt es innerhalb der Partei manche Stimmen, die sich für offen islamfeindliche Positionen einsetzen. Aber nicht einmal in der eigenen Partei scheinen sie eine Mehrheit zu haben. Nein, Deutschland ist nicht ausgenommen von der weltweit zu beobachtenden Besinnungswelle auf das Eigene. Aber es gibt guten Grund zu hoffen, dass diese Welle nicht zu einer Sturmflut wird.