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"Das Deutschlandstipendium ist ein Ladenhüter"

Nur ein halbes Prozent aller Studierenden hat 2012 ein Deutschland-Stipendium erhalten, sagt Kai Gehring, bildungspolitischer Sprecher der Grünen. Das Stipendium sei das falsche Instrument, um Bildungsaufsteiger an die Unis zu holen, weil es wie bei einer "Tombola" vergeben werde und sich damit nicht planen lasse.

Kai Gehring im Gespräch mit Manfred Götzke | 20.11.2012
    Manfred Götzke: Dass die Stipendienkultur in Deutschland noch nicht wirklich Einzug gehalten hat, das finden nicht alle Bildungsforscher und -politiker besonders tragisch – der Opposition im Bundestag war das Deutschlandstipendium nämlich schon immer ein Dorn im Auge. Kai Gehring, bildungspolitischer Sprecher der Grünen, der bezeichnet es als Lehrstück verfehlter Hochschulpolitik. Warum, das soll er uns jetzt sagen. Herr Gehring, was ist denn so falsch daran, besonders fleißigen Studenten unabhängig vom und zum Teil zusätzlich zum BAföG einen finanziellen Obulus zu spendieren?

    Kai Gehring: Also, Stipendien machen Sinn, dafür haben wir auf jeden Fall die etablierten Begabtenförderungswerke. Es ist aber total abenteuerlich, wenn die Bundesregierung beim Deutschlandstipendium von einem Erfolg spricht, wenn nicht einmal ein halbes Prozent aller Studierenden 2012 ein Deutschlandstipendium erhalten hat. Und erneut konnte auch nur die Hälfte der bereitgestellten Stipendien vergeben werden, das heißt, nur 11.000 bei 2,3 Millionen Studierenden.

    Und die Bundesregierung sollte sich endlich eingestehen, dass ihre Deutschlandstipendien stehen gelassen werden wie sauer Bier, und deshalb sollte Ministerin Schavan diesen Flop überdenken und stattdessen endlich das BAföG raufsetzen. Denn dieses Deutschlandstipendium bleibt das falsche Instrument, um für Bildungsgerechtigkeit und soziale Öffnung unserer Hochschulen zu sorgen.

    Götzke: Auch die Heinrich-Böll-Stiftung, die Stiftung Ihrer Partei, fördert jedes Jahr tausend Studierende und Doktoranden. Auch Sie erwarten von den Stipendien, ich zitiere mal, "hervorragende Studien- beziehungsweise wissenschaftliche Leistungen", also ähnlich wie beim Deutschlandstipendium. Was machen Sie also anders?

    Gehring: Also die Begabtenförderungswerke haben ein umfassendes ideelles Programm auch und eben ein Begleitprogramm. Sie achten auch auf das gesellschafts- und zivilgesellschaftliche Engagement der Studierenden. Und das ist etwas, was beim Deutschlandstipendium eindeutig zu kurz kommt. Und ich finde das auch schade, dass die Bundesregierung eben eine sehr, sehr dünne Datenlage zur Wirkung des Deutschlandstipendiums hat.

    Wir hatten eine kleine Anfrage an die Bundesregierung gerichtet, aber sie konnte uns überhaupt nicht beantworten, ob und wie sich das Programm auf die Studierneigung auswirkt und aus welchen Gründen sich ein Drittel der Hochschulen noch gar nicht an dem Stipendienprogramm beteiligt, und warum unterrepräsentierte Studierendengruppen kaum zu Stipendiaten werden.

    Und das ist bei den Begabtenförderungswerken dann doch sehr unterschiedlich, und die Heinrich-Böll-Stiftung schafft es eben, auch gerade potenzielle Bildungsaufsteigerinnen und Bildungsaufsteiger zu erreichen. Aber das Wichtigste ist und bleibt, dass wir verlässliche, staatliche Studienfinanzierung haben mit einer Aufstockung des BAföGs. Offensichtlich hat für eine BAföG-Erhöhung die Ministerin aber keinen Rückhalt bei Bundesfinanzminister Schäuble, aber umso mehr bei rot-grün regierten Ländern. Und da warten die aber vergeblich noch auf ein Angebot der Ministerin.

    Götzke: Das BAföG würde ja keineswegs gekürzt oder gestrichen zugunsten des Deutschlandstipendiums.

    Gehring: Das ist richtig. Aber das Entscheidende ist doch, dass es kein Zufallsprinzip sein darf, ob man in den Genuss von Studienfinanzierung gelangt. Genau das ist aber der Fall. Studierende können nicht auf den Sankt-Nimmerleinstag warten oder auf ein Zufallsstipendium hoffen, sondern sie brauchen ein höheres BAföG, auf das sie sich verlassen können. Und mir ist eine Studienfinanzierung mit Rechtsanspruch viel lieber als die Abhängigkeit von lokaler Stifterbereitschaft oder dem Akquisegeschick des jeweiligen Uni-Rektors. Also es braucht eine verlässliche staatliche Studienfinanzierung für alle Studierenden, weil das viel besser ist, um für Bildungsgerechtigkeit und Bildungsaufstieg zu sorgen und eben keine Stipendientombola oder -bewerbung, wie wir das jetzt haben.

    Götzke: Sie nennen es Tombola. Die Bundesregierung spricht einfach von einer Beteiligung der Wirtschaft. Was ist denn so falsch daran, dass sich die Wirtschaft in der Finanzierung von Bildung mit engagiert?

    Gehring: Also es ist völlig überfällig, und die Wirtschaft könnte das ja auch unabhängig von Steuermillionen und unabhängig von staatlichem Engagement. Das hat sie vor zehn, fünfzehn Jahren, als sie auch die Einführung von Studiengebühren versprochen hat, auch versprochen, eben Stipendienprogramme aufzulegen. Die Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände haben das in Aussicht gestellt. Jahrelang nichts gemacht.

    Jetzt muss sozusagen der Steuerzahler und die Bundesregierung offensichtlich etwas anreizen, was aber trotzdem nicht der wesentliche Zweig staatlicher Studienfinanzierung sein kann, sondern eben nur ein zusätzliches Angebot, was aber offensichtlich nicht gut ans Laufen kommt. Von einer neuen Stipendienkultur kann man nicht sprechen. Das Deutschlandstipendium ist und bleibt ein Ladenhüter, und ich halte es für das falsche Instrument.

    Götzke: Eine Kultur braucht sicher auch Zeit, um sich zu entwickeln. Also die Stipendien haben sich ja im Vergleich zum Vorjahr immerhin verdoppelt. Wenn sich das so weiter entwickelt in den nächsten vier, fünf Jahren, wird ja tatsächlich die anvisierte Stipendienzahl von 160.000 erreicht.

    Gehring: Also wenn man die Bundesregierung am ursprünglichen Ziel misst, nämlich von acht Prozent, dann ist das in dem Schneckentempo dann erreicht in 14 Jahren. Nicht einmal ein halbes Prozent aller Studierenden hat 2012 ein Deutschlandstipendium erhalten, und wir reden von 2,3 Millionen Studierenden, die bundesweit an den Hochschulen sind. Nur 11.000 davon haben ein Deutschlandstipendium erhalten. Das ist definitiv zu wenig, um sagen zu können, das ist ein Erfolg, oder da hat eine Etablierung stattgefunden. Und diese unsicheren Kurzzeitstipendien – man kriegt sie dann ja auch nur über zwei Semester –, die gehen an den Finanzierungsbedarfen der Studierenden vorbei.

    Götzke: Wie müsste das Deutschlandstipendium verändert werden, damit die Grünen es gut finden?

    Gehring: Also, ich halte das Deutschlandstipendium weiterhin für ein falsches Instrument. Und ich gehe auch nicht davon aus, dass es sich flächendeckend etabliert.

    Götzke: Klare Aussage. Kai Gehring war das, bildungspolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag. Vielen Dank!


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