Freitag, 29. März 2024

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Das Digitale Logbuch: Der Blick über die Schulter

Ich freue mich über meinen neuen Flachbildschirm. Er ist nämlich nicht nur flach, er lässt sich auch zusammenfalten und zerknüllen. Diese Freude hängt vor allem mit Hannes zusammen. Hannes hat eine Eigenschaft, die wir alle haben, bloss dass er sie nicht unter Kontrolle bringt. Holt er sich nach paar Minuten Arbeit einen Kaffee, geht er nicht einfach schnurstracks zum Espressoautomaten, sondern bewegt sich slalommäßig durchs Büro und schaut jedem von uns kurz mal über die Schulter. Seine Neugier zielt dabei nicht auf das, was uns gerade bewegt, sondern auf das, was sich auf unseren Bildschirmen bewegt. Wenn er so dicht links hinter mir steht, nur ein paar Sekunden, purzeln Urlaute wie "Ah" oder "oh oh" aus ihm heraus, oder er sagt gar ganze Sätze wie "Sowas guckst du dir schon am Vormittag an?" Dafür könnte ich ihn umbringen.

Von Maximilian Schönherr | 20.11.2004
    Gegen Hannes Kaffeegänge sind wir wehrlos. Der Bereich schräg hinter uns ist ungeschützt. Wir haben da keine Augen, aber unser Solar Plexus scheint voll anzuschlagen, wenn jemand in diesen Bereich eindringt. Früher, im computerfreien Büro, lag zwar Papier offen herum, aber weder leuchteten die Seiten, noch bewegten sich darauf die Lettern und Bilder.

    Zu früheren Computerzeiten gab es die Bosstaste, die, wenn der Chef hereinkam, das Moorhuhn-Spiel am Bildschirm schnell in eine superseriöse Tabellenkalkulation umwandelte. Wir haben keinen Chef, wir gehen offen und gleichberechtigt miteinander um, und was wir surfen, was wir mailen, darf jeder sehn. Das heißt: darf eigentlich keiner sehn, denn es ist meine Email an Jeanette, meine Webseite, die ich hier besuche – und nicht die von Hannes.

    Heute kam mein faltbares Display, bloß weiß Hannes es nicht. Ich höre also, viertel nach 3 wieder seinen Drehstuhl quietschen, bevor er zu seiner Kaffeeprozession ansetzt, der zwanzigsten heute. Jetzt ist er bei Pieter ... dann geht er zu Anna ... so, und jetzt kommt er zu mir. Ich greife kurz nach vorn, packe meinen Bildschirm, knülle ihn zusammen und lasse ihn direkt in meinen Kopf hineinrollen.

    Hannes steht links hinter mir; er schweigt, als würde er etwas vermissen. Hat mein Gesicht nicht den gewohnten Blaustich? Fehlt etwas auf dem Schreibtisch? Ich drehe langsam meinen Kopf zu Hannes, und ich weiß, ich habe jetzt einen leicht debilen, weil extrem nach innen gekehrten Blick. Es leuchtet ja in mir drin. "Hannes", lalle ich ihn an, "bring mir auch ein Tässchen, und wenn du damit zurückkommst, bleib bitte ein Weilchen. Ich hab dir sooo viel zu erzählen."