Dass sich Menschen frei zu einer Handlung entscheiden können, gehört zu den grundlegenden Überzeugungen der westlichen Kultur. Doch was bleibt davon in der alltäglichen Erfahrung? Warum entscheiden sich Gesellschaften so oft gegen die richtige Lösung, die beste Technik, den gerechten Weg? Wir verfeuern noch immer Unmengen fossiler Brennstoffe, nutzen überholte Transportsysteme und schaffen es nicht, die Nahrungsmittelressourcen weltweit zu teilen. Was ist es, das uns hindert, das Ideal der Handlungsfreiheit zu verwirklichen?
"Eine ganz besondere Rolle spielt dabei auch das, was Sozialwissenschaftler 'Pfad-Abhängigkeiten' nennen. Es ist ja nicht so, dass man immer als Neugeborener wieder anfängt und vor einer Entscheidungssituation steht, sondern alle Entscheidungen haben immer schon eine Geschichte von vorausgegangenen Entscheidungen und die Art und Weise, wie man sich zum Zeitpunkt A entschieden hat, bestimmt auch mit, wie man sich zum Zeitpunkt B, C oder D entscheiden wird."
In der Praxis wird der menschliche Entscheidungsspielraum immer durch vorhergehende Ereignisse eingeschränkt, konstatiert Professor Harald Welzer, Sozialwissenschaftler am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen.
Was das konkret bedeutet, hat Greg Bankoff untersucht, ein australischer Katastrophenforscher, zur Zeit Professor an der Universität Hull in England. Bankoff will herausfinden, warum sich die Welt so schwer damit tut, vorhersehbare Katastrophen zu vermeiden. Einen Erklärungsansatz hat er in einer Nachbardisziplin gefunden: Wirtschaftswissenschaftler haben schon vor Langem festgestellt, dass sich am Markt nicht immer die beste Technik durchsetzt. Viele Branchen und Industriezweige arbeiten nicht mit den effizientesten Verfahren, sondern mit denen, die "schon immer" da waren. Sie gehen auf einem Pfad weiter, der vor langer Zeit einmal eingeschlagen wurde. Auch die Ökonomen sprechen dann von "Pfad-Abhängigkeit".
"Das bedeutet einfach, dass sich viele Produktionsverfahren und Techniken zufällig durchgesetzt haben. Das sind nicht unbedingt die besten oder effizientesten Prozesse, aber durch solche Zufälligkeiten wird eine Branche auf einen bestimmten Pfad gebracht und wenn dieser Pfad einmal eingeschlagen wurde, ist es sehr schwer, ihn wieder zu verlassen. Je breiter etwas genutzt wird, desto mehr wird es weiterentwickelt, desto mehr wird es dann weiter genutzt undsofort. Der Prozess verstärkt sich selbst."
Bankoff hat ein schönes Beispiel für dieses Phänomen: die Gestaltung unserer Computertastaturen. Die oberste Reihe beginnt immer mit den Buchstaben Q W E R T. Warum?
"Man hat das für mechanische Schreibmaschinen entwickelt, um das Tippen zu verlangsamen, denn die Typenhebel verhaken sich, wenn man zu schnell tippt. Aber eine Computertastatur hat keine mechanischen Typenhebel und es gibt längst alternative Entwürfe dafür, die effizienter wären. Also warum halten wir an einer Form fest, die für einen ganz anderen Zweck entwickelt wurde?"
Weil es so viele Gründe gibt, am eingeschlagenen Weg festzuhalten: Gewohnheiten der Nutzer oder Kostenersparnisse für die Hersteller, Arbeitsplätze, die von einer gut eingeführten Technik abhängen oder das etablierte rechtliche Regelwerk dazu oder, oder, oder. Kurz: Großer Aufwand ist nötig, um neue Wege zu beschreiten - und er steigt, je grundlegender die betroffene Technik ist. Schon Alternativen zum Auto mit Verbrennungsmotor setzen sich nicht durch, geschweige denn Alternativen zu den Kraftwerken, die mit fossilen Brennstoffen befeuert werden. Oder gar Alternativen zu einer Gesellschaft, die sich über ihren hohen Verbrauch an Rohstoffen definiert.
Wie kann man die Pfad-Abhängigkeit aufbrechen? Bankoff schlägt vor, das gesellschaftliche Handeln von den zahllosen detaillierten Verfahrens-Vorschriften zu befreien und stattdessen auf das Resultat auszurichten, die "Performance".
"Performance bedeutet, dass man sich am Ergebnis orientiert. Nehmen wir eine Straße in einem Vorort. Da braucht man eine Straße, auf der man morgens rausfährt und abends zurückkommt. Das ist alles. Aber weil genau vorgeschrieben ist, wie eine Straße auszusehen hat, welche Breite, welche Begrenzung und so weiter, sind unsere Straßen für den Zweck, dem sie dienen, völlig überdimensioniert."
Ob das reicht, aus Pfaden auszubrechen, die sich längst auch in den Denkstrukturen festgesetzt haben?
Harald Welzer, Spezialist für den Zusammenhang von psychischen und sozialen Phänomenen, erinnert an Pfad-Abhängigkeiten, die durch kulturelle Normen vorgegeben sind und nicht mehr bewusst wahrgenommen werden. Ein historisches Beispiel liefern die Wikinger, die ab dem 10. Jahrhundert versuchten, sich in Grönland anzusiedeln. Dass sie dort nicht dauerhaft Fuß fassen konnten, lag nicht nur an der Unwirtlichkeit des Hohen Nordens.
"Dies Beispiel ist deshalb interessant, weil es zur selben Zeit schon die Inuit, also eine Eskimo-Bevölkerung, gegeben hat, die mit denselben Naturbedingungen klar kommen musste und es geschafft hat. Warum? Weil sie andere kulturelle Praktiken entwickelt haben, mit den Naturgegebenheiten umzugehen. Am schlagendsten kann man das daran sehen, dass die Wikinger aus kulturellen Gründen keinen Fisch gegessen haben. Die haben nicht gedacht, dass Fisch zu dem gehört, was als menschliche Nahrung nützlich wäre."
Und das war ein fataler Fehler. Ein zweiter kam hinzu: Statt die Nahrungsressourcen der Region zu nutzen, versuchten sich die Wikinger in der Rinderzucht. Doch die grönländische Schönwetterperiode ist zu kurz, um das Vieh auf der Weide zu ernähren. Sie mussten die Tiere den größten Teil des Jahres über im Stall halten und auf den kargen Äckern zusätzliches Viehfutter erwirtschaften. Die Wikinger gaben die Rinderzucht aufgrund einer unbewussten kulturellen Gewohnheit nicht auf, denn eine Kuh war in ihrer skandinavischen Heimat ein bedeutendes Status-Symbol.
Sozialwissenschaftler diskutieren, ob die Industrielle Revolution
ein Gegenbeispiel ist, ein Fall, in dem Gesellschaften die Pfad-Abhängigkeit aufgebrochen und sich aus dem sozialen und ökonomischen Stillstand befreit haben. Mitte des 19. Jahrhunderts waren in Europa die Ackerflächen ausgelaugt, die Wälder weithin abgeholzt, alle paar Jahre grassierten Hungersnöte. Die Industrialisierung brachte dann die Kohle als neuen Brennstoff, erzeugte Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Ammoniaksynthese den ersten effizienten Kunstdünger und stülpte die festgefahrene feudale Gesellschaftsstruktur um. Die westliche Welt begab sich auf neue Pfade – Pfade, die man nun seit rund hundertfünfzig Jahren nutzt und heute wieder verlassen muss.
"Eine ganz besondere Rolle spielt dabei auch das, was Sozialwissenschaftler 'Pfad-Abhängigkeiten' nennen. Es ist ja nicht so, dass man immer als Neugeborener wieder anfängt und vor einer Entscheidungssituation steht, sondern alle Entscheidungen haben immer schon eine Geschichte von vorausgegangenen Entscheidungen und die Art und Weise, wie man sich zum Zeitpunkt A entschieden hat, bestimmt auch mit, wie man sich zum Zeitpunkt B, C oder D entscheiden wird."
In der Praxis wird der menschliche Entscheidungsspielraum immer durch vorhergehende Ereignisse eingeschränkt, konstatiert Professor Harald Welzer, Sozialwissenschaftler am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen.
Was das konkret bedeutet, hat Greg Bankoff untersucht, ein australischer Katastrophenforscher, zur Zeit Professor an der Universität Hull in England. Bankoff will herausfinden, warum sich die Welt so schwer damit tut, vorhersehbare Katastrophen zu vermeiden. Einen Erklärungsansatz hat er in einer Nachbardisziplin gefunden: Wirtschaftswissenschaftler haben schon vor Langem festgestellt, dass sich am Markt nicht immer die beste Technik durchsetzt. Viele Branchen und Industriezweige arbeiten nicht mit den effizientesten Verfahren, sondern mit denen, die "schon immer" da waren. Sie gehen auf einem Pfad weiter, der vor langer Zeit einmal eingeschlagen wurde. Auch die Ökonomen sprechen dann von "Pfad-Abhängigkeit".
"Das bedeutet einfach, dass sich viele Produktionsverfahren und Techniken zufällig durchgesetzt haben. Das sind nicht unbedingt die besten oder effizientesten Prozesse, aber durch solche Zufälligkeiten wird eine Branche auf einen bestimmten Pfad gebracht und wenn dieser Pfad einmal eingeschlagen wurde, ist es sehr schwer, ihn wieder zu verlassen. Je breiter etwas genutzt wird, desto mehr wird es weiterentwickelt, desto mehr wird es dann weiter genutzt undsofort. Der Prozess verstärkt sich selbst."
Bankoff hat ein schönes Beispiel für dieses Phänomen: die Gestaltung unserer Computertastaturen. Die oberste Reihe beginnt immer mit den Buchstaben Q W E R T. Warum?
"Man hat das für mechanische Schreibmaschinen entwickelt, um das Tippen zu verlangsamen, denn die Typenhebel verhaken sich, wenn man zu schnell tippt. Aber eine Computertastatur hat keine mechanischen Typenhebel und es gibt längst alternative Entwürfe dafür, die effizienter wären. Also warum halten wir an einer Form fest, die für einen ganz anderen Zweck entwickelt wurde?"
Weil es so viele Gründe gibt, am eingeschlagenen Weg festzuhalten: Gewohnheiten der Nutzer oder Kostenersparnisse für die Hersteller, Arbeitsplätze, die von einer gut eingeführten Technik abhängen oder das etablierte rechtliche Regelwerk dazu oder, oder, oder. Kurz: Großer Aufwand ist nötig, um neue Wege zu beschreiten - und er steigt, je grundlegender die betroffene Technik ist. Schon Alternativen zum Auto mit Verbrennungsmotor setzen sich nicht durch, geschweige denn Alternativen zu den Kraftwerken, die mit fossilen Brennstoffen befeuert werden. Oder gar Alternativen zu einer Gesellschaft, die sich über ihren hohen Verbrauch an Rohstoffen definiert.
Wie kann man die Pfad-Abhängigkeit aufbrechen? Bankoff schlägt vor, das gesellschaftliche Handeln von den zahllosen detaillierten Verfahrens-Vorschriften zu befreien und stattdessen auf das Resultat auszurichten, die "Performance".
"Performance bedeutet, dass man sich am Ergebnis orientiert. Nehmen wir eine Straße in einem Vorort. Da braucht man eine Straße, auf der man morgens rausfährt und abends zurückkommt. Das ist alles. Aber weil genau vorgeschrieben ist, wie eine Straße auszusehen hat, welche Breite, welche Begrenzung und so weiter, sind unsere Straßen für den Zweck, dem sie dienen, völlig überdimensioniert."
Ob das reicht, aus Pfaden auszubrechen, die sich längst auch in den Denkstrukturen festgesetzt haben?
Harald Welzer, Spezialist für den Zusammenhang von psychischen und sozialen Phänomenen, erinnert an Pfad-Abhängigkeiten, die durch kulturelle Normen vorgegeben sind und nicht mehr bewusst wahrgenommen werden. Ein historisches Beispiel liefern die Wikinger, die ab dem 10. Jahrhundert versuchten, sich in Grönland anzusiedeln. Dass sie dort nicht dauerhaft Fuß fassen konnten, lag nicht nur an der Unwirtlichkeit des Hohen Nordens.
"Dies Beispiel ist deshalb interessant, weil es zur selben Zeit schon die Inuit, also eine Eskimo-Bevölkerung, gegeben hat, die mit denselben Naturbedingungen klar kommen musste und es geschafft hat. Warum? Weil sie andere kulturelle Praktiken entwickelt haben, mit den Naturgegebenheiten umzugehen. Am schlagendsten kann man das daran sehen, dass die Wikinger aus kulturellen Gründen keinen Fisch gegessen haben. Die haben nicht gedacht, dass Fisch zu dem gehört, was als menschliche Nahrung nützlich wäre."
Und das war ein fataler Fehler. Ein zweiter kam hinzu: Statt die Nahrungsressourcen der Region zu nutzen, versuchten sich die Wikinger in der Rinderzucht. Doch die grönländische Schönwetterperiode ist zu kurz, um das Vieh auf der Weide zu ernähren. Sie mussten die Tiere den größten Teil des Jahres über im Stall halten und auf den kargen Äckern zusätzliches Viehfutter erwirtschaften. Die Wikinger gaben die Rinderzucht aufgrund einer unbewussten kulturellen Gewohnheit nicht auf, denn eine Kuh war in ihrer skandinavischen Heimat ein bedeutendes Status-Symbol.
Sozialwissenschaftler diskutieren, ob die Industrielle Revolution
ein Gegenbeispiel ist, ein Fall, in dem Gesellschaften die Pfad-Abhängigkeit aufgebrochen und sich aus dem sozialen und ökonomischen Stillstand befreit haben. Mitte des 19. Jahrhunderts waren in Europa die Ackerflächen ausgelaugt, die Wälder weithin abgeholzt, alle paar Jahre grassierten Hungersnöte. Die Industrialisierung brachte dann die Kohle als neuen Brennstoff, erzeugte Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Ammoniaksynthese den ersten effizienten Kunstdünger und stülpte die festgefahrene feudale Gesellschaftsstruktur um. Die westliche Welt begab sich auf neue Pfade – Pfade, die man nun seit rund hundertfünfzig Jahren nutzt und heute wieder verlassen muss.