Archiv


Das dreidimensionale Monument einer Entwicklung

Seit der Staatsgründung im Jahr 1949 waren es rund 2,6 Millionen, die die Nase vom Arbeiter- und Bauernstaat voll hatten und in den Westen gingen. Am 13. August 1961 geschah dann das, was laut Walter Ulbricht niemand beabsichtigte: der Mauerbau. Gut 28 Jahre, bis zum 9. November 1989, sperrte sie die Menschen ein und die Freiheit aus. Zwei Bücher skizzieren im Jubiläumsjahr des Mauerfalls die Geschichte dieses Sperrwerks.

Von Marcus Heumann |
    "Also sie haben die Mauer gebaut, damit die Leute nicht gingen, und jetzt reißen sie sie ein, damit die Leute nicht gehen. Das nenne ich Logik."

    Dieses anonyme Zitat, aufgeschnappt im November 1989 in einer Ost-Berliner Bar, ist einem Buch zur Mauer vorangestellt, das der Siedler-Verlag als "Die erste vollständige Geschichte dieses menschenverachtenden Bauwerks" bewirbt - und damit den Mund ein wenig zu voll nimmt. Bücher zur Mauer gibt es seit langem in großer Zahl - und was man nun als ihre "vollständige Geschichte" definieren mag, ist Geschmackssache. Solch editorisches Geprotze ist umso unnötiger, weil das Buch des britischen Historikers Frederick Taylor auf seine Weise tatsächlich originär ist: Eine derartige Kombination aus historisch fundierten Fakten, unveröffentlichten Quellen und Erlebnissen von Menschen, deren Leben die Mauer auf höchst unterschiedliche Weise prägte, war bislang nämlich tatsächlich noch nicht zu lesen.

    Allein knapp ein Drittel des Buches ist der Vorgeschichte der Mauer gewidmet - berechtigterweise, denn sie war das dreidimensionale Monument einer Entwicklung, die ihren Ursprung in der unmittelbaren Nachkriegszeit hatte.

    "Es gab zwar sichtbare Sektorengrenzen, Kontrollpunkte und andere Beschränkungen, aber die Menschen konnten sich nach dem Ende der Blockade noch ein Dutzend Jahre frei in der früheren deutschen Hauptstadt bewegen. Das Telefonnetz, das Abwassersystem, das S- und U-Bahn-Netz blieben verbunden. Das war umso merkwürdiger, als die 1381 Kilometer lange Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten bald zu einem nahezu unüberwindlichen befestigten Hindernis wurde."

    Hier übrigens irrt Taylor in einem Detail: Schon 1952 hatte die DDR den gesamten Fernsprechverkehr nach West-Berlin unterbrochen, bis 1971. Die Fokussierung auf die Viersektorenstadt ist Stärke und Schwäche seines Buches zugleich, denn über die Situation an der innerdeutschen Grenze erfährt der Leser so gut wie nichts:

    Gerade mal eine knappe Seite widmet der Autor der berüchtigten "Aktion Ungeziefer", hinter der sich die Zwangsaussiedlung von politisch unzuverlässigen Bewohnern aus dem fünf Kilometer tiefen Sperrgebiet verbarg, das die DDR ebenfalls im Jahr 1952 entlang der deutsch-deutschen Grenze einrichtete. Ab dieser Zeit war Berlin das einzige Nadelöhr, das noch realistische Fluchtchancen bot. Bis zum Sonntag, dem 13. August 1961.

    "Seit etwa ein Uhr heute Nacht rattern die Pressluftbohrer und bohren einen Graben quer durch die Ebertstraße hier am Brandenburger Tor. Wenn ich einen Blick die Ebertstraße hinunterwerfe - ich darf den Bürgersteig nicht betreten, denn er gehört schon zum Osten -, dann sehe ich, wie etwa 200, 250 Meter entfernt vom Brandenburger Tor gleichfalls eine Schneise durch die Straße gebohrt wird. Die Ostpolizisten, die Ostfeuerwehr, sie lächeln sogar dabei, wie sie den Pressluftbohrer in die Erde bohren und einer schaute mich an, und es war in seinem Gesicht zu lesen: Ja höre nur das Geräusch, ich mache es extra für Dich, damit Du es auch auf Dein Tonband bekommst."

    Anhand von parteiinternen Dokumenten, die heute im Bundesarchiv lagern, belegt Frederick Taylor, dass die ostberliner Bevölkerung die Abriegelung der Grenze keineswegs durchweg fatalistisch hinnahm. So versammelte sich vor dem Sitz der SED-Kreisleitung Berlin-Mitte in der Friedrichstraße eine Menschenmenge, bei der die Parteiagenten "provozierende Reden" wahrnahmen. Auch Diskussionen über Massengrenzdurchbrüche und bewaffneten Widerstand rapportierten die Spitzel ins Zentralkomitee. Ebenso jedoch wurde aus breiten Bevölkerungskreisen Genugtuung über die Beendigung des sogenannten Grenzgängertums gemeldet, was den Neid vieler DDR-Bürger auf jene belegt, die in den Westsektoren arbeiteten und mit der dort verdienten D-Mark im Osten, 1:4 in DDR-Mark umgetauscht, komfortabel lebten.

    Musik: "Das war die höchste Zeit"
    "Unsre duften Jungens, die stehen auf Wacht / und hüten das eigene Haus / unsere Jungs sind der Stolz der Arbeitermacht / mit Schmarotzern und mit Schiebern ist es aus."

    Lebt der erste Teil von Taylors Abhandlung noch wesentlich von Zitaten aus bekannten wie bislang unveröffentlichten Dokumenten, so treten ab der "Aktion Rose", wie die SED den Mauerbau intern taufte, mehr und mehr Zeitzeugen hinzu, die der Autor für diesen Band befragt hat. Dazu zählen bekannte Namen wie Egon Bahr und Günter Schabowski ebenso wie zum Beispiel Hagen Koch, der als Kartograph und Gefreiter beim Stasi-Wachregiment Feliks Dzierzynski am 15. August 1961 den Ausbau der Grenzbefestigungen dokumentierte.

    "Vom Potsdamer Platz kommend, nahm Kochs Gruppe den Weg durch die Mauerstraße zum Checkpoint Charlie, dem seit Sonntag für Ausländer reservierten Grenzübergang. Bei ihrer Ankunft wurde die Kartierungsgruppe Zeuge einer lautstarken Demonstration auf West-Berliner Seite, und als hohe Stasi-Offiziere fühlten sich Kochs Vorgesetzte von der westlichen 'Provokation' gekränkt. Den 'aggressiven Kräften des Imperialismus' sagte ihm einer der Offiziere, müsse gezeigt werden, wo 'ihre Macht ein für allemal zu Ende sei'. Der 21-Jährige griff also nach einem Eimer weißer Farbe und einem Pinsel, orientierte sich über den exakten Grenzverlauf, stellte sich vor der Apotheke an der Ecke Zimmerstraße und Friedrichstraße über die Grenze - ein Fuß in Mitte im Osten und den anderen in Kreuzberg im Westen - und beugte sich, das wütende Geschrei von der Westseite ignorierend, vornüber, um eine schnurgerade weiße Linie zu ziehen, die den 'Imperialisten' zeigte, wo das 'demokratische' Berlin begann. Die weiße Linie, die er am 15.August am Checkpoint Charlie gezogen hatte, sollte weltberühmt werden."

    Ironie der Geschichte: Eben jener Hagen Koch war es auch, der 1990 im Auftrag der letzten DDR-Regierung den Abriss der Berliner Mauer organisieren sollte.
    Man merkt Taylors Sicht- und Erzählweise an, dass er als Historiker in den 80er-Jahren die DDR noch selbst bereist und erlebt hat. Seine Fleißarbeit ist auch eine kurze, kritische Geschichte der DDR-Gesellschaft zwischen Mauerbau und Mauerfall - fernab jeglicher Ostalgie, aber auch ohne den Schaum vorm Mund, mit dem Kalte Krieger einst über den SED-Staat herzufallen pflegten.

    Schade ist allerdings, dass sich Taylor in seinem Opus Magnum eben mit jener Sprache des Kalten Krieges kaum beschäftigt - denn die Propagandaschlacht zwischen Ost und West nahm gerade nach dem 13. August mitunter surreale Züge an, die heute weithin vergessen sind. So zum Beispiel der "Lautsprecherkrieg" an der Mauer, der ab dem Herbst 1961 tobte und den Anwohnern hüben wie drüben monatelang den Schlaf raubte:

    "Das ist ja furchtbar! Um 8 Uhr haben wir uns die Ohren zugehalten, wie die Brüder hier die große Schnauze aufgerissen haben! Schlafen ist gar nicht mehr dran zu denken, wenn die anfangen!"

    Auch eine zweite Neuerscheinung zur Mauer macht auf dem Schutzumschlag dem potenziellen Käufer einige Versprechungen: Nämlich dass ihr Autor, der Heidelberger Historiker Edgar Wolfrum, ihre Geschichte lebendig, spannend und mit dem Blick für das Wesentliche erzählen würde. Indes bleibt der 166 Seiten schmale Band nicht nur vom Umfang her weit hinter Taylors Darstellung zurück. Während es dieser versteht, mit seiner oft episodischen Schreibweise die bedrohliche Atmosphäre des Kalten Krieges plastisch greifbar zu machen, lesen sich Wolfrums Schilderungen über weite Strecken seltsam blutleer. Zu lesen sind Zitate aus altbekannten Quellen, verbunden mit durchaus treffenden, aber wenig originellen Einschätzungen des Autors.

    Das Resultat ist eine ebenso solide wie kompakte Gesamtdarstellung aus der "Vogelperspektive" des Historikers. Doch den Leser regelrecht in das Geschehen und die Atmosphäre jener Jahre hineinzuziehen, gelingt Edgar Wolfrum damit nicht. Ganz im Gegensatz zu Taylor, der - nach seinem viel beachteten Buch über den Untergang Dresdens 1945 - hier ein weiteres Mal beweist, wie lebendig man Geschichte mittels Geschichten erzählen kann, ohne dabei in die Niederungen der Dokufiktion abzugleiten. Wozu auch, wenn pure Realität derart spannend ist?
    Marcus Heumann war das über Frederick Taylor: Die Mauer. 13. August 1961 bis 9. November 1989. Erschienen bei Siedler, 585 Seiten für 29 Euro 95. Und: Edgar Wolfrum: Die Mauer - Geschichte einer Teilung. Ein Buch aus dem C.H. Beck Verlag mit 192 Seiten für 16 Euro 90.