Donnerstag, 25. April 2024

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Das Echolot. Fuga furiosa. Ein kollektives Tagebuch.

Das erste "Echolot" war 1993 eine große Überraschung und ein überraschend großer Erfolg: fünzig Jahre nach der militärischen Wende von Stalingrad hatte Kempowski sein über viele Jahre mit Briefen, Photographien, Tagebüchern und Zitaten gefülltes Archiv ein erstes Mal geöffnet und ein riesiges Fresko von Zeugnissen aus dem Januar und Februar 1943 präsentiert. Einen solchen Thesaurus, in dem jede einzelne Stimme aus den Privatsphären im Rücken der Fronten, aus den Höllenzonen des Genozids oder auch den Kriegsgebieten selbst gleichrangig neben Stimmen aus politischen und militärischen Machtzentren und Propagandazentralen standen, hatte es von einem Zeitausschnitt des 2. Weltkriegs bis dahin noch nicht gegeben - und vielen mag dieses erste "Echolot" als eine erst nach 1989 möglich gewordene Form erschienen sein, in den Fundamenten der deutschen Nachkriegsgesellschaften lange versiegelte Erlebnisschichten des 2. Weltkriegs sehr spät doch noch ans Tageslicht zu befördern.

Uwe Pralle | 21.11.1999
    Mit dem neuen "Echolot" hat Kempowski dieses Projekt jetzt in dem Zeitausschnitt der vier Wochen vom 12. Januar bis zum 14. Februar 1945 fortgesetzt. In dieser "Fuga furiosa" - wie der Untertitel lautet - bewegt man sich auf dem schon aus den ersten vier Bänden vertrauten Terrain der Darstellung: angefangen bei der chronologischen Form eines "kollektiven Tagebuchs", illustriert mit Fundstücken aus deutschen Photoalben und zuweilen von Zwischentexten in einer Spanne von Klaus Mann bis zu Hitler und Goebbels unterbrochen, bis hin zu Kempowskis eigentümlichem Gestus, das zeithistori- sche Material zu arrangieren - das in sich tagtäglich wiederholenden Rhythmen angeordnet ist, indem etwa zentrale Schauplätze oder Ereignisse quasi leitmotivisch wiederkehren oder Textfragmente aus Berichten einzelner Zeitzeugen so über das Mosaik der rund 3500 Seiten verteilt sind, dass ihre Stimmlinien in diesem "babylonischen Chorus" sich im Lauf der Lektüre mitunter zu Kapiteln einzelner Lebensgeschichten verdichten, die scharfe Kontraste oder auch Lichtkegel auf das düstere Zeit-Fresko werfen.

    Trotzdem erzeugt das zweite "Echolot" dieses Mal ein merkwürdiges Unbehagen, das vielleicht nicht entstehen würde, wenn nicht auch das erste schon mit dem Finale der Schlacht von Stalingrad einen Zeitausschnitt des 2. Weltkriegs angepeilt hätte, dessen Züge einer - damals überwiegend so verstandenen - deutschen Katastrophe der Zeitausschnitt des neuen "Echolot" nun noch einmal überbietet. Der 12. Januar 1945 markiert den Beginn der Weichseloffensive der Roten Armee, die in wenigen Tagen die deutschen Truppen überrollte, erstmals über die damaligen Reichsgrenzen nach Ostpreussen und Oberschlesien vordrang und jene "Vertreibung" auslöste, die in der Nachkriegszeit der Name für ein millionenfach erlebtes Unheil wurde, das in öffentlichen Diskursen aber höchstens unterschwellig oder auch mitunter sehr verzerrt in den politischen Parolen der Vertriebenenverbände wieder aufgetaucht ist.

    Es ist also wiederum ein deutsches Trauma des 2. Weltkriegs, das am Beginn von diesem "Echolot" steht und von Kempowski sofort mit den drei folgenden Zitaten intoniert ist:

    Dr. Theodor Morell (1885 - 1948) Führerhauptquartier "Adlerhorst" Nach Beendigung des Nachttees (5 Uhr morgens) nach Befinden gefragt. Führer dreimal gegen Holz geklopft und gesagt: "Sehr gut!"

    Aus dem Wehrmachtsbericht:

    "An der Weichselfont hat die lange erwartete Winteroffensive der Bolschewisten begonnen. Nach außergewöhnlich starker Artillerievorbereitung trat der Feind zunächst an der Westfront des Brückenkopfes von Baranow mit zahlreichen Schützendivisionen und Panzerverbänden an. Erbitterte Kämpfe sind entbrannt. Nebenangriffe südlich der Weichsel und im Nordteil des Baranow-Brückenkopfes wurden zerschlagen. Im ostpreußischen Grenzgebiet lag beiderseits der Rominter Heide schweres feindliches Artilleriefeuer auf unseren Stellungen. Zahlreiche bataillonsstarke Angriffe der Sowjets wurden abgewiesen."

    Aus einem Flugblatt der Roten Armee:

    Tötet! Tötet! Es gibt nichts, was an den Deutschen unschuldig ist, die Lebenden nicht und die Ungeborenen nicht! Folgt der Weisung des Genossen Stalin und zerstampft für immer das faschistische Tier in seiner Höhle. Brecht mit Gewalt den Rassenhochmut der germanischen Frauen! Nehmt sie als rechtmäßige Beute!"

    Sicher steht der Text dieses sowjetischen Flugblatts nicht ganz zufällig am Anfang, bevor dann auf vielen hundert Seiten die Erlebnisse von der Flucht vor der Roten Armee dokumentiert sind. Offenbar hat Kempowski so von vornherein deutlich machen wollen, dass die Plünderungen, Vergewaltigungen und Tötungen beim Einmarsch der Roten Armee von der sowjetischen Führung systematisch vorbereitet waren.

    Auch den Schlußpunkt bildet in diesem "Echolot" wiederum ein deutsches Trauma, das auf eine massive Vernichtungsstrategie der Alliierten zurückgeht: auf die Bombardierung Dresdens am 13. und 14. Februar 1945. Mit einer Fülle von Zeugnissen sind der Verlauf der drei Angriffswellen, ihre verheerenden Wirkungen und die ungeheuren Schrecken in diesem Inferno dargestellt:

    "(...) das Inferno dieser Nacht löschte wohl jede Überlegung aus. In immer neuen Serien pfiffen die Bomben hernieder, und unter ihren furchtbaren Explosionen schwankte der ganze Keller, in dessen Dunkel, das hin und wieder nur durch ein jähes Aufflammen erhellt wurde, die Hausbewohner dichtgedrängt beisammenhockten wie todesbange Tiere. Die Luft wurde stickig. Überall tanzten Funken herein, und ich fühlte, daß wir es so nicht mehr lange aushalten konnten."

    Ein Eindruck aus einem der Luftschutzkeller während des zweiten Angriffs, der in der Nacht um 1 Uhr 30 begann. Auch in den Straßen spielten sich gespenstische Szenen ab:

    "Auch das Hygiene-Museum brannte und zeigte wüste Zerstörungen. Als ich eben daran vorübergegangen war, tat es plötzlich einen jähen Blitz und Knall, und im nämlichen Moment schleuderte mich der Luftdruck über einen dicken, am Boden liegenden Baustamm hinweg zwischen eine Anzahl von Leuten, die erhobenen Kopfes dahinterhockten. "Verdammt, das konnte schiefgehen", wandte ich mich an einen Mann neben mir. Aber der glotzte geradeaus und war tot. Tot waren auch die übrigen, die hier kauerten, und ich lief rasch weiter, wobei ich allerdings die Befürchtung nicht los wurde, daß abermals eine spät krepierende Bombe explodieren könnte."

    Ähnlich wie die hier ebenfalls zitierten Beschreibungen in den Tagebüchern Victor Klemperers lassen auch viele dieser Aufzeichnungen und Erinnerungen erkennen, dass die Bombardements nicht nur die physische Existenz der ihnen Ausgesetzten, sondern auch ihre Wahrnehmung der Ereignisse in eine merkwürdige Grenzsituation von äußerster Präsenz und tiefer Abwesenheit versetzt zu haben scheinen: es sind oft sehr scharfe Detailbeobachtungen von einzelnen Momenten, die jedoch von unheimlichen Leerzonen umgeben sind - als sei die Wahrnehmung derjenigen, die inmitten der Druckwellen und Feuerstürme auf eine physische Restexistenz reduziert wurden, dabei ebenfalls zertrümmert worden.

    Diese Zeugnisse mitten aus dem Glutmeer geben bis ins Grauenhafte vergrößerte Detailaufnahmen jener unheimlichen Totale, die sich umgekehrt den anfliegenden britischen Bomberbesatzungen bot. Neben Auszügen aus dem Funkverkehr der Royal Air Force und einigen kurzen Äußerungen von militärischen Planern dieser Luftangriffe hat Kempowski hin und wieder auch Impressionen von Piloten oder Bombenschützen eingeblendet, die vom Anblick der brennenden Stadt unter ihnen manchmal geradezu absorbiert schienen und ihn oft nur durch eine Art von Naturästhetik der Katastrophe wiedergeben konnten:

    "Die von dem Feuerofen heraufsteigende Hitze war bis in meine Kanzel zu spüren. Der Himmel hatte sich leuchtend rot und weiß gefärbt, und das Licht in der Maschine glich dem eines gespenstisch anmutenden Sonnenuntergangs im Herbst. Obwohl wir uns allein über der Stadt befanden, war unser Entsetzen so groß, daß wir viele Minuten lang über der Stadt kreisten, bevor wir, ganz unter dem Eindruck des dort unten gewiß herrschenden Grauens, auf Heimatkurs gingen. Wir konnten den Schein des Feuerorkans noch dreissig Minuten nach Antritt des Heimfluges sehen."

    Das alles sind höchst aufschlußreiche und in einer solchen geradezu epischen Verdichtung bisher noch nie zusammengefaßte Dokumente aus den von Tag zu Tag wachsenden und später so gründlich wie möglich vergessenen Wüsten und Trümmerzonen der vom propagierten "totalen Krieg" jetzt ihrerseits eingeholten nationalsozialistischen Gesellschaft. Tatsächlich bringt Kempowskis dokumentarische Strategie, durch sein "Echolot" die Reflexe zu erfassen, mit denen Hausfrauen, "Reichsarbeitsdienst-Maiden" und Gutsbesitzerinnen, Landarbeiter, Wehrmachtssoldaten und Ärzte, Kriegsgefangene, Schüler, Pfarrer und KZ-Häftlinge auf den ihnen entgegenrasenden Krieg reagierten, oft andere Bilder vom "Zusammenbruch" zum Vorschein, als sie in historischen oder gar militärstrategischen Darstellungen zu finden sind.

    Das betrifft nicht nur die Bombardierung Dresdens, sondern auch die Wirren, die der schnelle Vormarsch der Roten Armee im Osten auslöste. Fast monoton wiederholt sich in den Zeugnissen aus Dörfern und Städten, wie ihre Bewohner, von den sich meist rechtzeitig absetzenden örtlichen NS-Führern über die genaue Lage im Unklaren gelassen, sich erst im letzten Moment auf den verstopften Landstraßen durchzuschlagen suchten und in dem klirrenden Winter inmitten versprengter Truppen durch eine von Erfrorenen und liegengelassenem Hausrat gesäumte Landschaft irrten. Nicht selten sind auch die Eindrücke von einer dem Vormarsch der Roten Armee vorauseilenden Panik, die wie ein apokalyptischer Reiter in das organisierte Leben hineinfuhr. In ei- ner Aufzeichnung aus Pillau in der Danziger Bucht heißt es etwa einmal:

    "Im Hafen drängte alles zu den Schiffen. "Der allgemeine Wirrwarr wurde noch dadurch erhöht, daß völlig desorganisierte Truppen in die Stadt und in die Häuser strömten, plünderten, sich mit den Flüchtlingen vereinigten und ebenfalls auf die Schiffe drängten. Um durch die Absperrungen zum Hafen zu kommen, nahmen Soldaten den Müttern Kinder weg und behaupteten, sie wollten ihre Familie an Bord bringen! Andere hatten sich Frauenkleider angezogen und versuchten, auf diese Weise mit den Schiffen wegzukommen."

    Solche Bilder des Krieges und der sich auflösenden Gesellschaft, die aus einem in den Kulissen und mit den Mitteln des 20. Jahrhunderts wiederkehrenden Dreißigjährigen Krieg zu stammen und von einem neuen Grimmelshausen gesammelt scheinen, gehören zu der aufschlußreichsten Schicht von Reflexen, die dieses "Echolot" beim Hineinhorchen in das vom deutschen Trauma der Vergewaltigung durch den Bolschewismus und das Trauma des von der Royal Air Force in die Steinzeit zurückgebomten Dresden umgrenzte Meer der Ereignisse aufgespürt hat. Sie könnten ein die NS-Zeit und den 2. Weltkrieg umfassendes Kapitel jener "Naturgeschichte der Zerstörung" unter- füttern, die W.G. Sebald einmal als die Kehrseite der potenzierten Kriegstech- niken im 20. Jahrhundert bezeichnet hat - eine gerade in der Nachkriegsära gut verborgene Kehrseite, die so kaum jemals die Frage aufkommen ließ, wie die Erfahrungen von Luftangriffen und Flucht, der Massenmorde und des Zusammenbruchs der NS-Gesellschaft auch in den deutschen Nachkriegsgesellschaften nachwirkten.

    Doch in der Perspektive einer solchen "Naturgeschichte der Zerstörung" betrachtet, zeigen sich sehr schnell auch die Grenzen von Kempowskis "Echolot" - und die Gründe für das Unbehagen an ihm. Zwar sollen in dieser "Fuga furiosa" - wie auch im ersten "Echolot" - offenbar vor allem die sonst ungehörten Stimmen dieses historischen Moments seine individuell erlebten Alltagsseiten zum Vorschein bringen, ohne sie durch historische, politische oder moralische Filter von Interpretationen oder Theorien zu verstellen. Tatsächlich wirken in dieser über fünfzig Jahre später als scheinbar neutraler Spiegel von Erlebnissen in den vier Wochen Anfang 1945 aufgebauten Sammlung aber auch ihrerseits historische, politische und moralische Filter - sei es durch die Auswahl des historischen Zeitausschnitts selbst, sei es andererseits durch Kempowskis recht großzügiges Verständnis davon, was die Quellen solcher erlebter Zeitgeschichte sind.

    Was diese Quellen betrifft, so gehören zu ihnen neben den von Kempowski und vorher schon von anderen gesammelten persönlichen Aufzeichnungen, Briefen und Erinnerungen auch: Nachrichtenagenturmeldungen, Geburtsregistereintragungen, Stenogramme von Lagebesprechungen im Führerhauptquartier, Kriegstagebucheintragungen deutscher und sowjetischer U-Boote, Wehrmachtsberichte, Rundfunkprogrammauszüge, Theater-, Film- und Konzertbesprechungen aus Zeitungen, Todesanzeigen aus deutschen, englischen und amerikanischen Zeitungen und manches mehr. Dass es sich dabei noch um Quellen individuell erlebter Zeitgeschichte handelt, läßt sich allerdings bezweifeln.

    Kempowski scheint folglich eher ein Panorama dieses historischen Ausschnitts anzuzielen, das nicht etwa nur seine individuell erlebten Seiten, sondern einen kompletten Querschnitt dieser Zeit geben soll. Wenn das der Anspruch des "Echolots" sein sollte, bleibt allerdings die Frage, warum diverse Bereiche der deutschen Wirklichkeit ausgespart sind. Um nur einige Beispiele zu nennen: es fehlen hier weitgehend Zeitdokumente aus staatlichen Institutionen, etwa aus der Justiz und Verwaltung, von der Polizei oder auch der Gestapo, ganz zu schweigen von Berichten aus den für die Verwaltung besetzter Gebiete zuständigen Militär- oder SS-Stellen; ebenso sieht es mit Dokumenten von Vereinen und Verbänden, aus Forschung und Wissenschaft sowie der Wirtschaft und Industrie aus (von einigen Zitaten aus den Erinnerungen Albert Speers über die Lage der Rüstungsindustrie einmal abgesehen). Es ist, als hätten alle diese Sphären mit dieser Zeit überhaupt nichts zu tun gehabt. Das soll heißen: für eine Erlebnisgeschichte dieses Zeitausschnitts ist der Quellenbereich des "Echolots" zu weit, während er für einen kompletten Zeitquerschnitt wiederum zu schmal und zu lückenhaft ist.

    Was die Kriterien anbelangt, die der Quellenauswahl und dem Darstellungsspektrum des "Echolot"-Projekts zugrundeliegen, ist man ohnehin auf Spekulationen angewiesen. Kempowski hat es vorgezogen, dieses Material selbst sprechen zu lassen, ohne auch nur den geringsten Kommentar zu geben, wie es zum Sprechen gebracht worden ist. So gibt es auch keinerlei Hinweis, warum beispielsweise gerade der Fokus der Zeit vom 12. Januar bis zum 14. Februar 1945 für dieses Panorama gewählt ist. War hier die Quellenlage besonders gut? Oder weil sich gerade in diesen vier Wochen - mit der Offensive der Roten Armee, dem beginnenden Exodus der deutschen Bevölkerung im Osten, aber auch den im übrigen genau dokumentierten "Todesmärschen", als die Konzentrations- und Vernichtungslager vor der vorrückenden Roten Armee geräumt wurden, sowie schließlich der Bombardierung Dresdens - Ereignisse kreuzten, die für das Schreckensantlitz des 2. Weltkriegs ganz besonders bezeichnend sind?

    Indem das "Echolaut" die Echos der sich zuspitzenden Ereignisse an der Achse der lange verdrängten deutschen Traumen anordnet, gibt es allerdings auch Anlaß zu einer ganz anderen Vermutung: dass Kempowski mit seinem traumatophilen Blick auf die Leidensgeschichte des 2. Weltkriegs darauf zielt, das letzte noch ausstehende Projekt der sogenannten "Normalisierung" des deutschen Verhältnisses zur Vergangenheit ein gutes Stück weiterzutreiben. Denn der Versuch, den damals das deutsche Territorium erreichenden "Krieg bis zur letzten Frau" vor allem aus der Perspektive seiner Opfer darzustellen, läuft nicht nur auf ein tragisches Epos der deutschen Traumen hinaus, so wie es in der Nachkriegsära zumindest öffentlich bisher tabu war. Vielmehr sind dabei mit einer neudeutschen Unbekümmertheit auch die Opfer allesamt gewissermaßen demokratisch gleichgestellt, so als sei plötzlich zwischen dem Holocaust, den Gewalttaten der Roten Armee und dem britischen "area bombing" keinerlei Unterschied mehr zu sehen - mit dem Ergebnis, dass so der Anschein entsteht, als habe man nun in Ostpreussen oder Dresden die Opfer eines an den Deutschen begangenen Holocaust zu beklagen.

    So aufschlußreich viele der Zeugnisse sind, die im "Echolot" aus den alltäg- lich gewordenen Todeszonen des 2. Weltkriegs auftauchen, so diffus, trügerisch und fragwürdig ist es jedoch als geradezu uferloses Fresko im Ganzen. Die Masse von Zeugnissen, Bildern und Szenen verbirgt nicht nur, nach wel- chen Prinzipien - außer dem chronologischen - sie selbst ausgewählt und zusammengestellt sind, sondern verdeckt vor allem auch einige bezeichnende Lücken, die erst bei genauem Hinsehen unter der imposanten Oberfläche dieses Freskos zu finden sind. Am auffälligsten ist eine, die den Preis dafür zeigt, wenn die Faktizität der Ereignisse in ein tragisches Epos von lauter Opfern verwandelt wird. Zwar tauchen in den Berichten, die Überlebende der KZs oder der Todesmärsche gegeben haben, auch die sie schindenden Be- wacher auf, wie etwa in dem Tagebuch eines norwegischen Häftlings aus dem KZ Sachsenhausen:

    "Wir wurden in die Toilettenräume der Baracken "eingestapelt". So etwas ge schieht hier mit Stockschlägen. Ich sah einen jungen Schnösel einen weiß- haarigen, gebeugten Mann schlagen, weil er nicht zur Seite wich, ein anderer "Arier" bearbeitete die Menge mit einem Besenstiel, als wenn die "Menge" eine gefährliche, revolutionäre Masse sei und nicht eine ausgehungerte Ver- sammlung elender, halbtoter Gefangener. Du, mein lieber Arier mit dem Besenstiel, mit dem feinen Halstuch, den Schneiderkleidern (für Sardinen und Speck erstanden), ich werde mich nicht an dir rächen, obwohl es mir in den Fingern juckt, es zu tun. (...) Und dein Herz? Ja, dein Herz ist wohl nicht mehr als ein einfaches Pumpwerk für dein arisches Blut? Oder wie denkst du selbst darüber? Fühlst du überhaupt etwas, wenn du den Besenstiel erhebst und ihn sinken läßt auf die Rückenknochen eines alternden, grauhaarigen, sterbenden ungarischen Juden, der, von Hunger und Kälte gepeinigt, mit nackten Füßen auf den Holzbohlen, mit tröpfelnden Wunden an Händen und Füßen und im Gesicht, den Schlägen zu entkommen sucht?"

    Derartige Fragen an die Täter bleiben nach über einem halben Jahrhundert auch in diesem "Echolot" unbeantwortet. Denn wenn man dort nach Zeugnissen auch solcher Täter oder zumindest aus ihrer Welt sucht, so wird man leer ausgehen - von den Großdämonen wie Hitler, Himmler oder Goebbels einmal abgesehen. Nicht etwa, dass es solche Dokumente nicht geben würde: es gibt sie durchaus, nur eben im "Echolot" nicht - vermutlich, weil solche Di- mensionen der Faktizität dieses Krieges das von Kempowski letztlich vorgelegte tragische Epos erheblich gestört hätten. In dieser Hinsicht setzt das "Echolot" allerdings nur eine seit 1945 ungebrochene Tradition des deutschen Umgangs mit der eigenen Vergangenheit fort.