Dienstag, 16. April 2024

Archiv


Das eigene Herz in der Forschung

Wissenschaftliche Untersuchungen haben den Anspruch, rein faktenbasiert und damit objektiv überprüfbar zu sein. Doch nun stellt ein interdisziplinäres Forschungsprojekt an der FU Berlin die Frage, ob und in welcher Weise Emotionen doch Einfluss auf die wissenschaftliche Arbeit nehmen.

Von Andreas Beckmann | 13.09.2012
    "Ich verabscheue Reisen und Forschungsreisende. Jahre sind vergangen, seit ich Brasilien verließ. Und in all den Jahren habe ich oft den Plan gefasst, dieses Buch zu schreiben. Aber jedes Mal hat mich ein Gefühl der Scham oder des Überdrusses davon abgehalten."

    Dieses Zitat von Claude Lévi-Strauss zielt darauf ab, dass er nach jahrelanger Feldforschung im Amazonasgebiet Brasiliens es erst nach zehn Jahren geschafft hat, sich wieder an die Daten zu setzen. Wenn man sich das vorstellt, wenn man sich dann aber auch vorstellt, dass es völlig ausgeblendet wird, dann ist in dieser Form der Wissensrepräsentation irgendetwas faul.

    Thomas Stodulka ist Ethnologe an der Freien Universität Berlin und spricht durchaus mit Hochachtung von Claude Lévi-Strauss, einem der ganz Großen seines Fachs. Gleichzeitig ist er ein bisschen enttäuscht von Lévi-Strauss, weil der nie erklärt hat, warum ihn bei seiner Feldforschung Scham und Ekel übermannten und wie das sein Werk beeinflusst hat. Gemeinsam mit Psychologen und Literaturwissenschaftlern will Stodulka deshalb in dem Projekt "Emotionen in der Wissenschaft" untersuchen, wie Gefühle die Arbeit von Forschern beeinflussen. Denn Lévi-Strauss ist kein Einzelfall. Das weiß Thomas Stodulka aus eigenen Feldforschungen, bei denen er den Alltag von Obdachlosen in Indonesien beobachtet und selbst immer wieder in emotionale Extremsituationen gerät.

    "In meiner eigenen Forschung ist es so, dass ich jahrelang mit Straßenmenschen, Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zusammengearbeitet habe. Und viele meiner dann zu Freunden gewordenen habe sterben sehen und Sterbebegleitung gemacht habe."

    Vielen dieser Obdachlosen hätte geholfen werden können, doch weil ihnen in der indonesischen Kultur ein schlechtes Karma zugeschrieben wird, erhalten sie oft nicht die optimale medizinische Betreuung.

    "Wenn ich meine eigene Rage und die Wut auf Ärzte, die die Straßenmenschen in den Krankenhäusern schlecht behandeln aufgrund ihres Stigmas. Wenn ich die mir nicht bewusst mache, dann schreibe ich die natürlich schlecht, diese Ärzte. Und versuche gar nicht, deren Perspektive zu verstehen."

    Wenn er von seinen Feldforschungen in Fachzeitschriften berichtet, soll Thomas Stodulka aber erklären, warum diese Ärzte aufgrund ihrer kulturellen Haltungen und Wertmaßstäbe so und nicht anders handeln, vielleicht gar nicht anders handeln können.

    "Man wird dann in der wissenschaftlichen Arbeit fast dazu gezwungen, all die Emotionalität, die da stattfindet, in der Begegnung mit dem sogenannten Forschungsobjekt, auszublenden. Das ist nicht möglich."

    Also könnte es sein, dass sich Gefühle unterschwellig in wissenschaftliche Texte einschleichen. Aber wie und wann geschieht das? Und ließe sich das vermeiden oder dient es der Wissenschaft mehr, Emotionen zuzulassen und kenntlich zu machen? Ebenso wie Thomas Stodulka beschäftigen solche Fragen auch die Berliner Psychologin Katja Liebal.

    "Was wir vorhaben, ist, dass wir Forschern, die ins Feld gehen, Emotionstagebücher zur Verfügung stellen und diese Personen bitten, ihre Emotionen zu dokumentieren, nicht nur im Feld, sondern auch bevor sie ins Feld fahren und nachdem sie wiedergekommen sind."

    Später wollen sie diese Tagebücher mit den beteiligten Wissenschaftlern auswerten, um zu erkennen, wie deren Gefühle ihre Fragestellungen und Beobachtung vielleicht beeinflusst haben. Dass es solche Einflüsse gibt, dessen ist sich Katja Liebal sicher – schon aufgrund eigener Erfahrungen in einem ihrer Spezialgebiete, der Beobachtung von Affen.

    "Ich stelle mich stundenlang vor ein Gehege, im Zoo oder in der Auffangstation mit der Videokamera. Und warte darauf, dass etwas Spannendes passiert und dann nach 100 Stunden sehe ich ein bestimmtes Verhalten und freue mich riesig, dass es tatsächlich aufgetreten ist. Dann muss ich mich aber immer wieder zurücknehmen und sagen: Okay, ich habe in diesen 100 Stunden dieses Verhalten einmal gesehen. Kann ich sagen, dass ein Affe dieses Verhalten x regelmäßig macht? Kann ich das verallgemeinern für alle Affen?"

    Oder hat die Freude über ihre Beobachtung sie dazu gebracht, diese überzubewerten? Katja Liebal weiß, dass selbst erfahrene Kolleginnen vor solchen Fehlern nicht gefeit sind.

    Ich arbeite mit Bonobos. Ich glaube, sie sind die glücklichsten Wesen auf dem Planeten und ich bin sicher, wir können eine Menge von ihnen lernen, weil sie so eine egalitäre und so empathische Gemeinschaft bilden.

    "Diese Forscherin, Sue Savage-Rumbaugh, arbeitet seit sehr vielen Jahren mit Bonobos zusammen. Und ich möchte nicht mal sagen, dass die Argumente, die sie bringt, nicht auf bestimmten Daten beruhen würden, aber woher will sie das wissen und wie kann sie eben diese Schlussfolgerung ziehen, dass es Glück ist, was die Affen empfinden?"

    Weil Affen dem Menschen so ähnlich sind, fließen in Analysen ihres Verhaltens oft menschliche Gefühle mit ein. Forscherinnen haben sie lange Zeit geradezu mütterlich wie Kinder beschrieben, die noch ganz unverdorben ihren Impulsen folgen. Männliche Primatologen charakterisieren sie dagegen oft als Dämonen, die Kriegsverbrechern gleichen, indem sie foltern, vergewaltigen, verstümmeln. Kann es also sein, dass die Gefühle das Forschungsergebnis schon teilweise vorwegnehmen, ohne dass die Wissenschaftler es überhaupt merken? Oliver Lubrich, der an der Universität Bern Literaturwissenschaft lehrt, vermutet, dass genau das selbst bei Forschungsprojekten und Expeditionen passiert ist, die noch heute als historisch bahnbrechend anerkannt sind.

    "Es gibt bei Alexander von Humboldt im Bericht seiner amerikanischen Reise eine sehr schöne Szene, die Landung in Havanna."

    Der Anblick von Havanna, an der Einfahrt des Hafens, ist einer der heitersten und malerischsten, deren man sich an den Küsten des äquinoktialen Amerikas nördlich des Äquators erfreuen kann.

    "Eine Seite später schreibt er das Gegenteil."

    Zur Zeit meines Aufenthaltes boten wenige Städte des spanischen Amerika aus Mangel an guter Ordnung einen widerwärtigeren Anblick.

    "Warum diese 180-Grad-Wende? Weil er nämlich beim Rundgang durch Havanna beobachtet, wie Sklaven verkauft werden. Das heißt, es findet ein Übergang von Euphorie, von ästhetischer Exaltation statt hin zu regelrecht Ekel und politisch auch motivierter emotionaler Ablehnung."

    Wenn sich die Gefühle wandeln, ändert sich der Blick auf den Forschungsgegenstand, konstatiert Oliver Lubrich. Und etwas ganz Ähnliches kann auch ihm passieren, wenn er später die Forschungsberichte studiert und bewertet.

    "Inwiefern lese ich einen Text anders, wenn ich ihn zum wiederholten Mal lese? Weil ich auf bestimmte Phasen des ästhetischen Genusses oder auch der moralischen Entrüstung schon eingestellt bin. All das grundiert oder steuert vielleicht sogar die literaturwissenschaftliche Interpretation."

    Ob am Schreibtisch, im Labor oder bei der Feldforschung – überall spielen Emotionen offenbar eine Rolle. Eigentlich keine Überraschung, meint Lubrich, denn am Anfang jeder Forschung sollte doch ein ganz starkes Gefühl stehen, die Neugier.

    "Allein die Frage, warum habe ich überhaupt ein Interesse an bestimmten Themen? Schon das ist ja zum Teil emotional, psychologisch motiviert."

    Trotzdem gibt es bisher kaum Erhebungen darüber, welche Gefühle Wissenschaftler bei ihrer Arbeit entwickeln und wie diese sich auswirken. Vielleicht liegt das einfach daran, dass ihnen über Generationen beigebracht wurde, sie müssten ihre Emotionen bei der Forschung außen vor lassen. Doch in manchen Fächern, so Thomas Stodulka, lasse sich der Einfluss von Gefühlen schon lange nicht mehr leugnen.

    "Eine sozialwissenschaftliche Forschung beinhaltet ja immer eine Begegnung von Menschen. Wenn ich die Emotionen von anderen Menschen erforsche, dann ist das immer ein interaktiver Prozess, der in Begegnung stattfindet, das heißt, Emotionen funktionieren nicht nur in mir oder in der anderen Person drin, das ist ein relationaler Prozess. Wenn ich mich selbst als Forscher aber ausblende in dieser Interaktion, dann fehlt da was."

    Diese Lücke wollen die Berliner und Berner Forscher mit ihrem Projekt verkleinern. Das Team aus Ethnologen, Psychologen und Literaturwissenschaftlern hat sich vorgenommen, die Wissenschaft ein bisschen mehr über sich selbst aufzuklären. Am Ende, hofft Oliver Lubrich, könnte dann ein neues, angemesseneres Verständnis davon stehen, was Objektivität in der Forschung eigentlich bedeute.

    "Wir neigen dazu, Objektivität als Affektfreiheit zu begreifen. Aber in den letzten Jahren gelangt man immer mehr dazu, Affekte ihrerseits wissenschaftlich zu untersuchen und auch die Rationalität des Gefühls, die Rationalität der Affekte in den Blick zu bekommen. Wenn ich beispielsweise verstehe, dass Ekel ein Indikator ist für eine bestimmte, in dem Moment als unüberwindlich empfundene Differenzerfahrung, dann ist das Teil meiner Reaktion auf das Erforschte. Und wenn ich das reflektiere, ist das Teil einer umso stärkeren Objektivität und Wissenschaftlichkeit meiner Forschung."