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Das Ende der Solidarität?

Im Koalitionsvertrag wurde eine einkommensunabhängige Krankenversicherung vereinbart. Eine schwierige Aufgabe, denn die schwarz-gelbe Koalition ist in dieser Grundfrage heillos zerstritten - und die Opposition sieht das Ende des Sozialstaats nahen.

Von Gerhard Schröder und Pascal Lechler | 16.03.2010
    "Die Koalition der Mitte steht, wir wollen Deutschland in eine gute Zukunft bringen und haben die Grundlagen für ein gutes Jahrzehnt mit dem Koalitionsvertrag gelegt."
    Ronald Pofalla, im Herbst 2009 noch Generalsekretär der CDU, meldete, nachts um halb drei - Vollzug. Nach einem kräftezehrenden Verhandlungsmarathon seien alle strittigen Punkte ausgeräumt, auch in der Gesundheitspolitik. In Zeile 3909 des Abschlussdokuments findet sich der entscheidende Satz:
    "Langfristig wird das bestehende Ausgleichssystem überführt in eine Ordnung mit einkommensunabhängigen Arbeitnehmerbeiträgen, die sozial ausgeglichen werden. Weil wir eine weitgehende Entkoppelung der Gesundheitskosten von den Lohnzusatzkosten wollen, bleibt der Arbeitgeberanteil fest."
    Die notwendigen Schritte, so heißt es im Vertrag weiter, soll eine Regierungskommission festlegen. Morgen trifft diese zu ersten Beratungen zusammen. Eine verkleinerte Kabinettssitzung, der neben Gesundheitsminister Philipp Rösler auch Finanzminister Schäuble, Innenminister de Maiziere, Wirtschaftsminister Brüderle, Arbeitsministerin von der Leyen, Familienministerin Schröder und Verbraucherschutzministerin Aigner angehören. Sie sollen umsetzen, was im Koalitionsvertrag vereinbart wurde, nämlich eine einkommensunabhängige Versichertenprämie einführen. Eine schwierige Aufgabe, denn ein halbes Jahr nach der Unterzeichnung des Vertrages ist die schwarz-gelbe Koalition schon in der Grundfrage heillos zerstritten, auch wenn FDP-Gesundheitsminister Philipp Rösler nach außen Gelassenheit demonstriert:

    "Das sehe ich, wie gesagt, ganz entspannt. Schließlich haben wir einen klaren Koalitionsvertrag, den haben alle Partner unterschrieben. Herr Seehofer mit einer besonders großen Unterschrift. Und ich bin sicher, am Ende gilt für alle, Verträge gelten. Das war schon bei den Römern so und das wird auch bei dieser christlich-liberalen Koalition gelten."
    Gegenwind kommt vor allem aus dem Süden, von der bayerischen CSU. Ministerpräsident und Parteichef Horst Seehofer ist auf Konfrontationskurs eingeschwenkt. Die Einführung einer einkommensunabhängigen Kopfpauschale, das ist mit uns nicht machbar, so die Losung aus Bayern, die Seehofer beharrlich nach Berlin sendet:

    "Ich war und bleibe ein Gegner eines Systems, das vorsieht, eine einheitliche Pauschale mit der Folge, dass die Kleinen mehr bezahlen, damit die Großen weniger bezahlen, liebe Freunde. Ich möchte, dass die Menschen entsprechend ihrer persönlichen Leistungsfähigkeit auch zur Finanzierung unseres Gemeinwesens beitragen."

    Kaum weniger scharf fällt das Urteil der Opposition aus. SPD, Grüne und Linkspartei sind sich in diesem Punkt einig: Dass die Sekretärin genauso viel für die Krankenversicherung bezahlen soll wie der Chef, das sei unsozial und rühre an den Grundfesten unseres Sozialstaats. Harald Weinberg von der Linkspartei:

    "Wenn Sie die Augen aufmachten, würden Sie sehen, dass dieser Weg direkt in den Abgrund führt. Die Kopfpauschale ist unsozial, weil sie eine direkte Umverteilung von unten nach oben ist. Die Kopfpauschale ist nicht finanzierbar, weil ein sozialer Ausgleich jedes Jahr bis zu 40 Milliarden Euro kosten würde."

    Tatsächlich bricht die geplante Einführung einer einheitlichen, vom Einkommen unabhängigen Versichertenprämie mit einer 120-jährigen Tradition. Bislang galt immer: Wer viel verdient bezahlt einen höheren Beitrag als der, der wenig verdient. Ein Grundsatz, der vielen als Garant für soziale Gerechtigkeit gilt. Und der lange Zeit den Kassen auch stabile Finanzen sicherte. Das allerdings hat sich geändert.

    Globalisierung und politische Reformen haben den Arbeitsmarkt in Bewegung gebracht, Minijobs sind auf dem Vormarsch, der Niedriglohnsektor hat sich ausgedehnt, die Erwerbsbiografien werden brüchiger, feste Anstellungen wechseln mit Zeitverträgen und selbstständigen Tätigkeiten.

    Das bringt die Sozialkassen in Bedrängnis: Die Einnahmebasis schwindet. Wir müssen das Gesundheitssystem langfristig auf solidere Füße stellen, fordert daher auch der Gesundheitsökonom Jürgen Wasem:

    "Wir haben zum Beispiel keine Beitragspflicht für die Mieteinnahmen, wir haben keine Beitragspflicht für das Kapitaleinkommen. Und gerade das sind die Einnahmen, die in den letzten zwanzig, dreißig Jahren am Bruttoinlandsprodukt überproportional gewachsen sind. Das heißt, die Quellen die sprudeln zapfen wir weniger an oder gar nicht an und die Quellen, die weniger sprudeln, auf die verlassen wir uns."

    Die Politik hat in den vergangenen Jahrzehnten stets bei den Ausgaben angesetzt, ein Kostendämpfungsgesetz folgte auf das andere, Zusatzbeiträge, Eigenbeteiligung und Praxisgebühren wurden erfunden, um die Lücken zu stopfen. Tatsächlich gelang es so, die Ausgaben halbwegs im Zaum zu halten, sie wuchsen in den vergangenen Jahren nicht stärker als der Rest Wirtschaft – wenngleich, wie die hohen Arzneimittelpreise zeigen, auch da noch einiges zu tun bleibt.
    Das größere Problem aber liege bei den Einnahmen, sagt Daniel Bahr, Staatssekretär im Gesundheitsministerium. Wir müssten die Finanzierung der Kassen auf solidere Füße stellen, müssten sie vom Einkommen der Abhängig Beschäftigten lösen:

    "Aber in den nächsten Jahren müssen wir leider damit rechnen, dass die Ausgaben weiter steigen werden. Also müssen wir uns darüber unterhalten. Wenn wir nicht die Lohnzusatzkosten immer weiter steigen lassen wollen, den Arbeitsmarkt belasten wollen, müssen wir uns überlegen, wie können wir das Gesundheitswesen nachhaltig finanzieren. Und angesichts der Rahmenbedingungen sehe ich nicht viele andere Möglichkeiten, wenn die Lohnzusatzkosten weiter steigen. In dieser dramatischen Situation, mit der wir ja in der größten Wirtschaftskrise sind, würde der Arbeitsmarkt belastet und die Folge wäre Arbeitslosigkeit. Also ist dies eine falsche Finanzierung, die wir in den letzten Jahrzehnten erlebt haben, also müssen wir da raus und dafür legen wir einen Vorschlag vor."
    Zu diesem Ergebnis kam schon 2003 die sogenannte Rürup-Kommission und empfahl zwei Lösungswege: Erstens die Bürgerversicherung, die SPD und Gewerkschaften favorisieren. Sie setzen weiter auf einkommmensbezogene Beiträge, wollen aber die Basis verbreitern: Alle Einkünfte sollen herangezogen werden, auch Mieten und Kapitaleinnahmen zum Beispiel. Das soll für mehr Gerechtigkeit und höhere Einnahmen sorgen. Und zweitens die einkommensunabhängige Kopfpauschale, die nun die schwarz-gelbe Koalition einführen will. Und die auch die Wirtschaftsverbände bevorzugen. Ihr Argument: Gesundheitsausgaben und Arbeitskosten müssen entkoppelt werden. Dieter Hundt, Präsident der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände:

    "Die deutsche Wirtschaft leidet ganz besonders unter hohen Lohnzusatzkosten. Und diese sind ganz wesentlich bedingt durch unsere hohen Sozialversicherungsbeiträge. Und vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung unserer Bevölkerung sind Reformen unumgänglich, wenn wir unsere Systeme lebensfähig und finanzierbar erhalten wollen und gleichzeitig nicht die Wirtschaft in der internationalen Wettbewerbsfähigkeit belasten wollen."
    Die einheitliche Prämie sollen nur die Versicherten zahlen. Der Arbeitgeberbeitrag soll eingefroren werden. Das heißt im Klartext: Den Anstieg der Gesundheitsausgaben zahlen künftig allein die Versicherten, die Unternehmen ziehen sich schrittweise zurück.

    Ein Bruch mit dem Solidarprinzip, für den es keinen Grund gibt, kritisiert SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach:

    "Die Entlastung der Arbeitgeber bei den Gesundheitskosten würde Sinn machen, wenn wir also flächendeckend ein totales Hochlohnland wären, wo man sagen würde, bei diesen sehr hohen Löhnen muss dem Arbeitgeber entgegengekommen werden, sonst fallen die Arbeitsplätze weg. Das stimmt doch gar nicht. Wir sind kein Hochlohnland mehr. Das waren wir in vielen Teilen einmal. Wieso soll Schlecker oder Lidl, wieso sollen die bei den steigenden Gesundheitskosten das Boot verlassen dürfen und stattdessen springt der unsichere Steuerzuschuss ein."
    Wir stellen das Gesundheitssystem nicht nur auf stabile finanzielle Füße, sondern machen es auch sozial gerechter, behaupten dagegen Befürworter wie der liberale Gesundheitspolitiker Daniel Bahr.

    Die Grundidee ist einfach: Jeder zahlt die gleiche Prämie, das sichert den Kassen stabile Einnahmen. Für soziale Gerechtigkeit sorgt dann der Steuerstaat, der jene unterstützt, die sich die Einheitsprämie nicht leisten können. Die soziale Gerechtigkeit wird also ausgelagert vom Gesundheitssystem ins Steuersystem. Und dort ist sie auch viel besser aufgehoben, meint FDP-Mann Bahr. Denn Steuern zahlen nicht nur die abhängig Beschäftigten, sondern auch Freiberufler, Beamte, Unternehmer.
    Das klingt in der Theorie überzeugend, meint auch Gesundheitsökonom Jürgen Wasem. Er erhofft sich von der Prämie stabilere Finanzen und einen stärkeren Wettbewerb zwischen den Kassen. Die Prämie schaffe mehr Transparenz, die Versicherten könnten besser vergleichen und dann zum günstigsten Anbieter wechseln. Das könnte frischen Wind in den Markt bringen, meint Wasem, der die Furcht vor dem Systemwechsel versteht, gleichwohl aber vor Panikmache warnt:

    "Die Einführung einer einkommensunabhängigen Pauschale ist sicher ein großer Schritt, weil sie mit einer langen Tradition von Solidarverständnis in der gesetzlichen Krankenversicherung bricht. Ich glaube aber nicht, dass es zum Untergang der gesetzlichen Krankenversicherung führt und ich glaube, wenn man das vernünftig macht, man auch ein Modell hinkriegt, das durchaus gerecht ist und funktioniert."
    Zentrale Fragen, das räumt auch Wasem ein, sind allerdings noch ungeklärt. Zum Beispiel die Frage, wie der Sozialausgleich funktionieren soll.
    Derzeit zahlen Versicherte zwischen 60 und 290 Euro – je nach Einkommen – an die gesetzlichen Kassen. Die Einheitsprämie müsste im Schnitt bei etwa 150 Euro liegen, damit die Kassen ihre derzeitigen Ausgaben decken können – plus 15 Milliarden an Steuergeldern, die ihnen jetzt schon zufließen.

    Geringverdiener also müssten etwa 90 Euro vom Staat bekommen, um sich die Einheitsprämie leisten zu können. Gutverdiener dagegen können jubilieren, sie sparen durch die Einheitsprämie viel Geld: Stefan Etgeton, Gesundheitsexperte der Verbraucherzentrale Bundesverband:

    "Bei dem Prämienmodell gewinnen natürlich die Gutverdiener, die sehr gut Verdiener, die heute über der Versicherungspflicht und Beitragsbemessungsgrenze sind. Da müsste man nachweisen, dass die über das Steuersystem entsprechend stärker herangezogen werden. Und umgekehrt die, die ganz wenig haben, für die bleibt es letztlich gleich, weil sie über den Zuschuss das kompensiert bekommen. Aber belastet werden die, die knapp darüber sind."
    Unter dem Strich, so schätzen Experten, wären 35 Milliarden Euro an Steuergeldern nötig, um die Einheitsprämie zu finanzieren.

    Doch woher das Geld angesichts der klammen Haushaltslage kommen soll, ist unklar. Zumal die schwarz-gelbe Koalition die Steuern ja nicht erhöhen, sondern massiv senken will. Und ab 2011 hat der Finanzminister einen rigiden Sparkurs angekündigt, zehn Milliarden Euro muss er dann jährlich einsparen, so will es das Grundgesetz. FDP-Gesundheitsminister Rösler wiegelt ab: Die Einheitsprämie werde in kleinen Schritten eingeführt, um niemand zu überfordern.

    Das Beispiel Schweiz allerdings zeigt, dass auch die schrittweise Einführung nicht ohne Risiken ist:
    Zwölf Prozent ihres Haushaltseinkommens muss die vierköpfige Familie Bouchardy aus Landecy im Kanton Genf für ihre Krankenversicherungsprämien bezahlen. Mit 90.000 Franken verdienen die Bouchardys für Schweizer Verhältnisse nicht übermäßig viel – zu viel aber um in den Genuss von Prämienvergünstigungen sprich staatlichen Zuschüssen zu kommen. Kein Wunder, dass Nadja Bouchardy das System der Kopfprämien ganz und gar nicht gerecht findet.

    "Was die Prämien angeht, gibt es bis heute keine ausgleichende Gerechtigkeit. Für jemanden, der ein gutes Einkommen hat, ist das Gesundheitssystem nicht teuer. Ganz im Gegensatz zu jemandem, der ein niedriges Einkommen hat. Hier müsste man einen Ausgleich finden."
    Gerade zu Beginn des Jahres sind die Prämien für die Bouchardys wieder um 70 Franken pro Monat gestiegen. Macht 840 Franken zusätzlich pro Jahr. Im Schnitt zahlt ein Schweizer eine Kopfpauschale von umgerechnet 250 Euro. Hinzu kommt eine jährliche Franchise, also ein Betrag x, der auf jeden Fall erstmal aus eigener Tasche bezahlt werden muss, bevor die Versicherung einspringt. Die niedrigste Franchise beträgt 300 Franken, die höchste 2500 Franken. Mit einer sehr hohen Franchise kann man aber mit seiner Versicherung einen Prämienrabatt von bis zu 40 Prozent aushandeln. Für jeden Arztbesuch wird dann nochmals ein bestimmter Prozentsatz der Behandlungskosten fällig – im Moment sind das zehn Prozent, aber maximal 700 Franken pro Jahr. Hinzu kommt, dass die Kopfpauschale quasi nur Grundleistungen abdeckt. Für Zahnbehandlungen oder für eine freie Arztwahl im Krankenhaus müssen Zusatzversicherungen abgeschlossen werden. Die Bouchardys nehmen an einem Hausarztmodell teil. Damit kann die vierköpfige Familie etwas die Prämienhöhe beeinflussen. Ärgerlich findet Nadja Bouchardy, dass die Grundversicherung von Jahr zu Jahr weniger abdeckt.

    "Ganz viele Medikamente, die zwar von den Ärzten verschrieben werden, werden nicht mehr von der Kasse erstattet. Das sind oft ganz einfache Dinge wie bei einer Erkältung. Die Nasentropfen für meine Tochter beispielsweise wurden uns nicht ersetzt mit dem Hinweis, dass Nasentropfen ein Luxus seien. Und wenn man operiert wird, ist es noch viel schlimmer, weil die Kosten, auf denen man sitzen bleibt, noch viel höher sind."
    Dass gerade Familien aus dem Mittelstand wie die Bouchardys mit den Kopfprämien an die Grenzen ihrer Belastbarkeit kommen, wird inzwischen auch von der sonst eher konservativen und kopfprämienfreundlichen Schweizer Ärztevereinigung FMH kritisch gesehen. FMH Präsident Jacques de Haller sagte bereits vor einem Jahr in einem Zeitungsinterview, dass er sich einen Übergang zu einkommensabhängigen Prämien vorstellen könnte. Angesichts massiv gestiegener Krankenkassenbeiträge zu Beginn des Jahres müsse man ernsthaft alternative Finanzierungsmodelle prüfen, so de Haller.

    "Es ist so in der Schweiz, dass der Anteil der Gesundheitskosten, der aus der eigenen Tasche bezahlt wird von jedem, sehr hoch ist, also er ist wirklich höher als irgendwo anders in Europa, und das belastet die Familien natürlich unglaublich. Ich glaube doch, dass wir ziemlich bald, also innerhalb von wenigen Jahren, werden wir ein anderes System einführen müssen, das noch zu diskutieren ist. Über Finanzierung des Gesundheitswesens, sei es mit Mehrwertsteuer, sei es mit Steuern oder Quellensteuern oder was immer, aber eine Lösung wird gefunden werden müssen."
    Das heute gültige Modell wird in der Schweiz vor allem von den bürgerlichen Parteien, den Christdemokraten, der FDP und der SVP unterstützt. Die Sozialdemokraten hingegen bekämpfen seit jeher die Kopfprämie und treten für einkommensabhängige Krankenkassenbeiträge ein. Für die sozialdemokratische Gesundheitsexpertin Jacqueline Fehr hat sich das Modell bislang nicht bewährt.

    "Insgesamt ziehen wir nach 13 Jahren, seit dieses System in Kraft ist, die Bilanz, dass alle Erwartungen, die man damit hatte, Kostenkontrolle, Qualitätssteigerung, innovative Versorgungsmodelle, all diese Erwartungen nicht erfüllt werden konnten."
    2007 stimmten die Schweizer auf Initiative der Sozialdemokraten und der Grünen über die Kopfprämie ab. Fast 70 Prozent der Schweizer votierten damals gegen einkommensabhängige Krankenkassenbeiträge. Für Urs Brügger von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ist das Abstimmungsergebnis ein Beweis, dass die Schweizer das Kopfprämienmodell als eher gerecht empfinden.

    "Aus Schweizer Sicht würden wir sagen, ich meine, andere Dinge im Leben kosten auch für alle Menschen gleich, Kleider und Nahrung sind auch lebensnotwendige Dinge und alle zahlen die gleichen Preise. Da können sie nicht sagen, ist das gerecht oder ungerecht. Was es wahrscheinlich braucht, ist ein gewisser sozialer Ausgleich. Dass Leute, die sich das dann nicht leisten können, die Prämie, dass die dann eben finanziert werden und ich denke, dass ist doch auch ein Vorteil des schweizerischen Systems, dass dann eben gezielt Härtefälle angegangen werden können, die dann subventioniert werden individuell vom Staat und dann die Prämie verbilligt bekommen."
    Immer weniger Schweizer können die Kopfprämie aus eigener Tasche zahlen. Als das neue Krankenversicherungsgesetz 1996 in Kraft trat, erhielt nur jeder 5. Eidgenosse eine Prämienverbilligung – sprich: einen staatlichen Zuschuss zur Krankenversicherung. Inzwischen ist es aber schon jeder 3. Schweizer. So werden pro Jahr rund 2 Milliarden Euro aus dem Steuersäckel ins System hineingegeben. Angesichts dieses massiven Umverteilungsmechanismus würde Gesundheitspolitikerin Fehr dem deutschen Gesundheitsminister Rösler raten:

    "Finger weg von Kopfpauschalen, wir haben ja Kopfpauschalen und sehen, dass es für rund ein Drittel bis zur Hälfte der Bevölkerung nicht bezahlbar ist. Das heißt, wir vergüten dann wieder über Subventionen einen Teil oder ganz alle Kosten zurück an diese Haushalte, die die Kopfprämie nicht finanzieren können. Das heißt, wir verkomplizieren das System, wir verlangen zuerst Kopfprämien und subventionieren diese dann wieder noch über die unterschiedlichen Kantone in 26 unterschiedlichen Systemen. Damit verlieren wir Gerechtigkeit, weil ein solches System nie gleich gerecht sein kann, wie ein einkommensabhängiges System."
    Die Erfahrungen aus der Schweiz nähren die Vorbehalte beim Nachbarn im Norden. Wie soll die Prämie finanziert werden? Führt die Prämie wirklich zu stabileren Finanzen – oder verschärft sie die Probleme nicht eher, wie auch die gesetzlichen Kassen fürchten.
    60 Prozent der Versicherten wären bei einer Prämie von 150 Euro auf staatliche Zuwendungen angewiesen. Aus Beitragszahlern würden Transferempfänger, Bittsteller, die auf staatliche Subventionen hoffen müssten, warnt SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach:

    "Sie machen zuerst den Bürger zum Bittsteller beim Staat und sagen nachher, diese Bittstellerei können wir uns nicht leisten. Darauf wird es hinauslaufen."
    Auch nüchterne Betrachter wie der Gesundheitsökonom Jürgen Wasem sehen die Risiken. Kernpunkt der Einheitsprämie sei der Steuerzuschuss - nur der garantiere, dass es sozial gerecht zu gehe, dass auch Geringverdiener sich die Prämie leisten könnten. Ein System, das für politische Interventionen anfällig ist. Was geschieht etwa, wenn die Haushaltslage angespannt ist, setzt dann der Finanzminister beim Sozialausgleich den Rotstift an?

    "Wir werden wegen der alternden Bevölkerung immer Druck auf die Ausgaben haben, das heißt, die Ausgaben der Krankenkassen werden steigen, das heißt, der Sozialtransfer würde dem Finanzminister von Jahr zu Jahr mehr belasten. Das wird der nicht wollen. Sondern der wird regelmäßig Forderungen erheben: Bitte schwächt den Sozialausgleich doch etwas ab. Und deswegen ist mein Hauptproblem eigentlich, dass ich in der zeitlichen Dynamik der nächsten zehn, zwanzig Jahre große Bauchschmerzen habe, das der Sozialausgleich nicht lange wirklich gut funktioniert."
    Auch in der Union werden die Zweifel lauter, selbst bei Befürwortern des Prämienmodells wie Jens Spahn. Wie kann der Staat mehr Geld ins Gesundheitssystem pumpen, wenn gleichzeitig die Steuern gesenkt werden – wie die FDP fordert? Wie soll erreicht werden, dass die starken Schultern mehr tragen, wenn sie nicht nur durch die Einheitsprämie entlastet werden, sondern künftig auch weniger Steuern zahlen. Müssten da nicht die Steuern erhöht werden, zumindest für Gutverdienende?

    Auch für den Jens Spahn den Gesundheitspolitischen Sprecher der Union im Bundestag tun sich da noch einige Rätsel auf:

    "Wie man all die Ziele in der Gesundheitspolitik und in der Steuerpolitik, die diese Koalition hat, am Ende zusammenbindet, das wird eine der spannenden Fragen der nächsten Wochen und Monate sein. Sicher ist deutlich, dass wir Spielraum im Haushalt brauchen, den wir uns nicht durch andere Maßnahmen nehmen sollten."
    Die Regierungskommission steht vor einer schwierigen Aufgabe. Viele Fragen sind ungeklärt, die Konzepte noch voller Widersprüche. Und die Koalitionspartner tief zerstritten. Keine guten Voraussetzungen für radikale Reformen mit ungewissen Nebenwirkungen. Unionsgesundheitspolitiker Spahn empfiehlt daher, einen Gang zurückzuschalten. Alles müsse gründlich geprüft werden, sagt er. Die Gefahr des Scheiterns sei zu groß:

    "Weil ich in diesem Punkt Gründlichkeit für wichtig halte, weil wir aufpassen müssen, dass das sonst nicht zum Hartz IV dieser Regierung in der Wahrnehmung der Menschen wird, wenn wir es schlecht machen, sollten wir Wert darauf legen, dass alles durchdacht ist, bevor wir es einführen und nicht auf ein Datum fixiert sein."