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Das Ende einer Kindheit

Dragan Aleksic erzählt vom Aufwachsen im Grenzgebiet zwischen der Vojvodina und Rumänien, in einem Armeleuteviertel von Bela Crkva und von einer vergangenen Zeit - einem unwiederbringlichen "Vorvorgestern".

Von Gregor Dotzauer | 19.04.2011
    Für eine glückliche Kindheit, behauptet ein geflügeltes Wort, ist es nie zu spät. Keine Kränkung, von der sich im Rückblick nicht sagen ließe, sie habe den eigenen Stolz gefördert. Keine Niederlage, die einen nicht zu späteren Siegen motiviert hätte. Wer sich seine Geschichte nur richtig erzählt, könnte man in aller Verwegenheit hoffen, für den nimmt sie immer eine gute Wendung. Was aber tut der Unglückliche, der mit der Kindheit sein Paradies verloren hat? Dragan Aleksics "Geschichten, die vom Glück handeln" machen kein Hehl daraus, dass sie, wie der Titel erklärt, in einem unwiederbringlichen "Vorvorgestern" angesiedelt sind, in einem fernen Land vor unserer Zeit, in einem Serbien, das zu einem Reich namens Jugoslawien gehörte.

    Aleksic setzt dieses Serbien aus 65 farbigen Vignetten noch einmal zusammen. Aber es geht in diesem ungewöhnlich einprägsamen kleinen Buch weniger darum, die Vergangenheit aufzubewahren, als ihren Abdruck lebendig zu halten. Keine Jahreszahl markiert die Szenen, nichts Geschichtliches gibt den Erlebnissen einen Rahmen. "Vorvorgestern" ist eine Schule des poetischen Sehens, in der die ausgenüchterte strenge Sprache des Erwachsenen mit dem staunenden Blick des Kindes zusammenfindet. Über die Person des Ich-Erzählers erfährt man dabei nur das Allernötigste, auch die Mechanismen der Erinnerung werden ausgespart. "Vorvorgestern" sucht nach einer Haltung, mit der sich die Welt heute noch so unverbraucht anschauen lässt, wie sie einem einst gar nicht erscheinen konnte. Das ist das paradoxe Glück, von dem dieses Buch spricht, ein Glück, das einem Niemand nehmen kann.

    Dragan Aleksic erzählt vom Aufwachsen im Grenzgebiet zwischen der Vojvodina und Rumänien, in einem Armeleuteviertel von Bela Crkva, an der Ecke von sogenannter Serben- und Zigeunerstraße. Die Namen verraten schon, welche Welten hier aufeinandertreffen. Es sind die beiden letzten Jahre, die er, der Serbe, dort mit seinen Eltern und der zwei Jahre älteren Schwester verbringt, bevor er ans andere Ende der Kleinstadt ziehen wird, in ein eigenes Haus mit Bad.

    Jeder im Viertel kennt jeden, und dass es unabhängig vom tatsächlichen Verwandtschaftsgrad nur Onkel und Tanten und Omas und Opas gibt, spricht zwar für das familiäre Selbstverständnis dieser multikulturellen Gemeinschaft, verhindert aber keineswegs entsprechende Zerwürfnisse. In das Geschützte dieser Welt ragt schon das Ungeschützte des Erwachsenendaseins hinein. Onkel Franja, der Bäcker, erhängt sich, weil seine Frau einen Liebhaber hat, und Jovica knüpft sein junges Leben an einen Strick, weil sich sein Soldatenleben nicht mit seinem Transvestitentum verträgt.

    Je dramatischer das Erinnerte ist, um so mehr rückt es bei Dragan Aleksic in den Hintergrund. Über das Hörensagen dringt es ein ins Bewusstsein des Ich-Erzählers Bata. Auch das Ende seiner eigenen Kindheit erlebt er so, als hätte er es nicht selbst herbeigeführt. In einer besonders eindringlichen Geschichte berichtet er, wie die Mutter seinem graugesprenkelten Lieblingshahn mit der Schneiderschere die Flügel stutzt, worauf dieser beim nächsten Flugversuch "wie ein Kürbis auf die Erde" plumpst und sich schwer verletzt. Der Gnadentod wird unausweichlich.

    Eines Morgens war er nicht mehr im Hühnerstall. Ich sah überall nach, draußen und drinnen – nichts. Neben dem Baumstumpf, auf dem Holz gehackt wurde, war viel Blut, an der Axt ebenfalls. Ich brach in Tränen aus, während ich mich am Drahtzaun festhielt und die Hühner betrachtete. Ich wusste, dass Mutter ihn nicht getötet hatte, sie hatte ihm nur geholfen, nicht länger zu leiden. Ich wusste, dass ICH es getan hatte.
    Das Leben in Bela Crkva, der Stadt, in der Dragan Aleksic 1958 geboren wurde, ist reich an Erfahrungen des Mangels. Es ist aber auch ein Leben, in dem es an nichts fehlt. Die Gefahr, dass hier etwas pittoresk zurechtgebogen wird, entsteht erst gar nicht. Das leuchtend Poetische ist immer auch das finster Realistische, und selbst ein erster Kuss hat seine Schrecken.

    Sie sagte, ich solle mich auf sie legen. Ich tat es, um zu sehen, wie das ist. – Jetzt sind wir wie Mann und Frau – sagte Zlatica. Aus einem Nasenloch kam ihr immer grüner Rotz und verschwand wieder. – Jetzt musst du mich küssen. Ich konnte nicht. Ich sah auf ihr schwarzes Haar neben dem grünen, dem grasgrünen Korn. Mein Haar war gelb. Ich wollte so schnell wie möglich nach Hause.
    Von überraschenden Details wie dem grünen Rotz lebt jede dieser Miniaturen. Wenn Tante Ruška ihren Kindern die Zehennägel mit dem Brotmesser schneidet, ist nicht die Tatsache selbst das Irritierende, sondern die Art der Bewegung: "Mit der Klinge in der Hand machte sie schnelle Schnitte, als schälte sie Kartoffeln." Wenn Bata von seinem weißen Hahn geträumt hat und am nächsten Morgen in den verschneiten Hof hinausschaut, sagt die Schwester: "Wie weiß alles ist. Wie die Federn von meinem Hahn." Und er: "Der Ziegelstein dort ist sein Kamm." Oder wenn die Familie einen Fahrradausflug an die Nera unternimmt, heißt es:

    Als wir an den Fluss kamen, hielten wir an. Vater setzte meine Schwester auf den Boden. An seinem rechten Hosenbein klemmte eine hölzerne Wäscheklammer. Mutter hob mich aus dem Korb. Die Fahrräder lehnten an einem Baum, dessen Stamm bis zur halben Höhe weiß gekalkt war. Später wischte Vater mit den Hand den Kalk vom Fahrradsitz.

    "Vorvorgestern", Aleksics erstes Buch in deutscher Sprache, ist im serbischen Original bereits 1994 erschienen. Seitdem hat Aleksic nicht nur sechs weitere Bücher veröffentlicht, die zum Teil aus ähnlichen Miniaturen bestehen, einem beliebten Genre der serbischen Gegenwartsliteratur, dessen Reichtum in diesem Frühjahr unter anderem auch David Albahari mit seinem Band "Die Kuh ist ein einsames Tier" unter Beweis stellt. Vor allem hat Aleksic vor fünf Jahren in North Olmsted im amerikanischen Bundesstaat Ohio ein neues Leben begonnen. Der Schmerz von Abschied und Erinnerung findet sich indes schon hier, wenn der erste Umzug stattgefunden hat.

    Die Fenster unseres Hauses an der Straßenseite waren groß, aber in ihnen war nie Sonne. Morgens kam mich nie ein Engel wecken wie im alten Haus. Ich fragte, warum die Sonne nie an mein Fenster kam. Sie sagten: - Das ist die Nordseite. Als hätte ich damals wissen können, was der Norden ist.

    Dragan Aleksic: "Vorvorgestern (Geschichten, die vom Glück handeln)". Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann. Matthes & Seitz, Berlin 2011. 112 Seiten, 14,90 Euro