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Das Ende eines langen Schweigens

Beide sind persönlich gezeichnet vom Mord an dem Bankier Jürgen Ponto. Die eine ist die Tochter des Opfers, die andere Schwester einer Täterin. Corinna Ponto und Julia Albrecht verbindet 30 Jahre nach der Tat das gemeinsame Bedürfnis, doch noch die Wahrheit über den Mord an Jürgen Ponto zu erfahren.

Von Sabine Pamperrien | 04.04.2011
    In der großen Zahl brutaler Verbrechen der Rote Armee Fraktion ist eines von besonderer Perfidie. Am 30. Juli 1977 verschaffte sich Susanne Albrecht unter dem Vorwand eines freundschaftlichen Besuchs mit ihren Komplizen Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt Zugang in das Privathaus des Bankiers Jürgen Ponto. Ihre Komplizen erschossen den Jugendfreund ihres Vaters. Der Vertrauensmissbrauch zerstörte beide Familien.

    Warum Susanne nicht ihn, ihren Vater, erschossen hat, fragt sich der Hamburger Rechtsanwalt Dr. Hans-Christian Albrecht. Die Antwort, aber auch nur diese eine Antwort auf zahllose Fragen, ist leicht. Fürchterlicher als dadurch, dass sie an einem Attentat auf seinen Freund mitwirkte, hat Susanne Albrecht ihren Vater nicht treffen können. Kinder, die in besonderem Maße demonstrieren wollen, gehen nicht den Weg des direkten Angriffs auf die Eltern. Sie fügen ihnen vielmehr etwas zu, was die Eltern unweigerlich erleben und erleiden müssen.

    2007 nahm die jüngere Schwester von Susanne Albrecht Kontakt mit Pontos Tochter Corinna auf. Julia Albrecht war die Patentochter des Bankiers, ihr Vater Pate von Corinna. Die Patentöchter verbindet 30 Jahre nach der Tat das gemeinsame Bedürfnis, doch noch die Wahrheit über den Mord an Jürgen Ponto zu erfahren. Was die beiden Frauen nun in ihrem Buch in Briefen und Analysen bespiegeln, ist weit mehr als die Bewältigung eines traumatischen Verrats. Julia Albrecht war 13 Jahre alt, Corinna Ponto 19, als der Albtraum über sie hereinbrach. Dieser Albtraum manifestiert sich für sie weiterhin im Umgang mit der Geschichte der RAF.

    Unsere Geschichte ist nur eine Miniatur in dem ganzen "RAF-Komplex", aber sie kann dazu beitragen, den Opfern nicht nur das Gesicht, sondern auch ihre eigene Geschichte wiederzugeben. Kollektives Leid kann zu kollektivem Empfinden führen. Die Zeit der RAF gehört zwar zum kollektiven Gedächtnis des Landes, aber es gab kein gemeinschaftliches Leid, und mitnichten gibt es ein kollektives Empfinden. Das Drama interessierte, und es wurde auch gern verwertet, politisch, kulturell, medial, aber der leidvolle Abgrund dahinter wurde nicht gesehen.

    Albrecht machte jahrelang ihren Eltern Vorwürfe, Schuld an den Taten der "geliebten Schwester" zu sein. Erst seit Susanne Albrecht Anfang der 90er-Jahre der Prozess gemachte wurde, verstärkten sich ihre Zweifel an der wahren Rolle ihrer Schwester. Hart urteilt die Juristin und Journalistin, die Aussage ihrer Schwester vor Gericht habe vorrangig dazu gedient, in den Genuss der Kronzeugenregelung zu kommen.

    Weitgehend Konsens, wenn auch nicht deutlich ausgesprochen, war in unserer Familie, dass Susanne sich an der Ermordung von Jürgen Ponto nicht aus freien Stücken und nicht als "echtes" Mitglied der RAF beteiligt hatte. Wir hielten zäh daran fest, dass nicht sein konnte, was nicht sein durfte. Wir hielten fest an dem, was wir uns selbst zuzumuten bereit waren. Die Fakten lagen auf dem Tisch. Nur wollten wir sie nicht wahrhaben.

    Der Mord an Ponto ist eines der wenigen Attentate der RAF, das als aufgeklärt gilt. Die Täter wurden verurteilt. Doch handelte es sich wirklich um eine missglückte Entführung, in deren tragische Folgen Albrecht hineingezogen wurde? Oder handelt es sich doch um einen geplanten Mord? Über die Strategie der Anwälte schreibt Albrecht:

    Diese Haltung, diese Verwirrung über den Tatbeitrag, den emotionalen Tatbeitrag, wenn man so will, spiegelte sich gewissermaßen auch in dem Plädoyer ihres Strafverteidigers: "Möglicherweise", so Dr. Wandschneider, "hatte Susanne den Eindruck, sich opfern zu müssen, damit nichts Schlimmeres passiert." Diese Interpretation könnte typischer für eine deutsche Biografie nicht sein: der Opfermythos der Täter. Der Opfermythos einer jeden Ideologie, die meint, sich über die allgemein anerkannten Werte stellen zu dürfen.

    Für beide Autorinnen ist nicht nur bei den Tätern eine wahrhaftige Auseinandersetzung mit der eigenen Verantwortung unterblieben. Politische Publizistik und Literatur schoben immer nur die Täter in den Fokus der Öffentlichkeit. Diese andauernde Wahrnehmungsstörung reichte bis in die Zuschauerräume der Gerichtssäle. Während Julia Albrecht jedes Detail der Verhandlung registriert und auf zunehmende Distanz zur Schwester geht, erlebt Corinna Ponto den von Solidaritätskundgebungen für die RAF-Terroristen begleiteten Prozess als Schock.

    Eine innere Scham verdeckt meine Erinnerung an diese Gerichtstermine vollkommen. Mir scheint, eine solche Scham ist der Autoaggression verwandt: Man macht sich die Scham, die man von den anderen erwartet, zueigen. Ich erinnere mich an nichts mehr von diesen vier Lebensmomenten. Sie sind verdeckt von einem kompletten Blackout. Nur der Hohn der Zuschauer sitzt mir noch auf der Schulter.

    Ponto wagt die These, dass es einen größeren Zusammenhang im internationalen Terrorismus gab und immer noch gibt. Die Opernsängerin hat ausführlich Akten und Sekundärliteratur gesichtet. Die zahlreichen Pannen bei der Fahndung nach den Terroristen werden fragend in Bezug gesetzt zur Tatsache, dass alle Ermittlungsschritte im Westen sofort auch beim Ministerium für Staatssicherheit bekannt waren. Die Rolle von BKA und Verfassungsschutz ist längst nicht hinreichend erforscht und könnte einige Überraschungen bereithalten. Vielleicht waren auch die Opfer der Attentate nicht so zufällig, wie von den Ermittlern behauptet.

    An dem bis heute vermittelten Bild – da war eine kleine, mitunter coole, ursprünglich auch ernst zu nehmende Gruppe, deren Urmotivation sogar noch verständlich war, die dann aber zu weit gegangen ist – muss gerüttelt werden. Es war viel, viel mehr.

    In der Tat: Die zahlreichen Ungereimtheiten, die Albrecht und Ponto darlegen, lassen die These von bisher unbeachtet gebliebenen Hintermännern plausibel erscheinen. Das als Verschwörungstheorie abzutun, verbietet sich vor dem Hintergrund, dass aus 15.000 Säcken geschredderter Stasi-Akten inzwischen einige Akten über untergetauchte RAF-Terroristen rekonstruiert werden konnten. Den Autorinnen gelingt es, die Klischees zu durchbrechen, die die Aufarbeitung der RAF-Geschichte bisher verstellen. Es geht eben nicht um ein längst erklärtes historisches Phänomen, das seine unterschiedliche Deutung der Kampfrhetorik gegensätzlicher politischer Lager verdankt. Wie beide Autorinnen trotz ihres persönlichen Gezeichnet-Seins durch den Terrorismus nicht nur jedes Lagerdenken umgehen, sondern kritisch reflektieren, was bisher bei der Aufarbeitung versäumt wurde, macht dieses Buch besonders lesenswert.

    Julia Albrecht/Corinna Ponto: Patentöchter. Im Schatten der RAF – ein Dialog.
    Verlag Kiepenheuer & Witsch, 240 Seiten, 18,95 Euro
    ISBN: 978-3-462-04277-1