Wir erleben den Beginn von Zensur. Nächstes Jahr ist es 20 Jahre her, dass Gorbatschov an die Macht kam und die Perestroika begann. Damals entstand eine freie Presse. Wenn man das mit heute vergleicht, wird ganz klar, dass die Perestroika abgeschafft wird.
Und eine Moskauer Journalistikstudentin über Berufswunsch und - wirklichkeit:
Ich will kein Mikrophonhalter der staatlichen Sender sein. Ich will keine langweiligen Nachrichten machen. Ich kann bisher einfach nichts finden, wo ich wirklich arbeiten möchte.
Montag morgen in Moskau, der russischen Macht- und Medienmetropole. Während sich Autofahrer Stoßstange an Stoßstange durch den üblichen Morgenstau über den "Novyj Arbat" quälen, hasten die Passanten zur gleichnamigen Metrostation. Vor dem Eingang verkaufen Händler Blumen, Puzzlespiele, Videos, Getränke, Bücher - und Zeitungen.
Alla hat die Kapuze ihrer Steppjacke über ihre Wollmütze gezogen und tritt neben ihrem Zeitungsstand von einem Bein aufs andere. Alla ist nicht sehr gesprächig. Ihren Nachnamen möchte sie nicht nennen. Und auch andere Fragen am liebsten nicht beantworten. Ob das denn überhaupt erlaubt sei, auf offener Straße fremde Leute zu interviewen, will sie wissen.
Ein Mann Mitte 40 ist stehen geblieben und wirft einen Blick auf die Schlagzeilen. Die Zeitungen sind mit Wäscheklammern beschwert. Im Schnitt kosten sie 8 Rubel, das sind etwa 25 Cent - auch für einen russischen Geldbeutel erschwinglich. Einige tragen noch immer die Titel der Sowjetzeit: Moskauer Komsomolze oder Komsomolzenwahrheit. Andere heißen Der Kaufmann, Unabhängige Zeitung oder Sportexpress. Der Mann entscheidet sich für ein Rätselheft mit Witzen.
Das Heft lese ich in der Mittagspause, beim Tee. Da will ich über nichts nachdenken. Tageszeitungen lese ich nicht. Die lügen doch alle.
Zwanzig Jahre nach Beginn von Glasnost' und Perestroika steuert die Glaubwürdigkeit der russischen Medien wieder einem Tiefpunkt entgegen. Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre hatten die Russen Schlange gestanden, um eine der Zeitungen zu ergattern, die auf einmal frei berichten konnten. Die Enthüllungen über das kollabierende Sowjetsystem fanden ein Massenpublikum. Diese Zeiten sind vorbei. Eine Frau bleibt stehen, sucht in ihrer großen Handtasche nach dem Portemonaie.
Die Zeitungsartikel sind allesamt bestellt. Ich glaube überhaupt niemandem mehr.
Und dann drucken sie immer nackte Frauen ab. Schauen Sie mal... Früher wurden die Leute dafür erschossen.
Mit dem Geiseldrama von Beslan wurde auch für Außenstehende deutlich, an welch engem politischen Gängelband die russischen Medien gehalten werden. Der Antiterrorkampf ist für Präsident Putin ein willkommener Vorwand, um die Pressefreiheit nun immer weiter einzuschränken. Seit Russland mit Vladimir Putin einen Geheimdienstler als Präsidenten hat, sind viele Zeitungen zu reinen Verlautbarungsblättern geworden. Ihre Auflagen sind dementsprechend rapide gesunken.
Noch schlimmer steht es um das Fernsehen. Ein Jahr nach seinem Amtsantritt, im Frühjahr 2001, ließ Putin den unabhängigen Fernsehsender NTW von Truppen des Inlandsgeheimdienstes stürmen und übertrug die Leitung einem Regierungsbeamten. Im darauf folgenden Winter wurde dem regierungskritischen Sender TW-6 buchstäblich der Stecker herausgezogen. Seitdem befinden sich alle überregionalen Fernsehkanäle unter staatlicher Kontrolle. Im Radio sieht es ähnlich aus.
Das Boulevardblatt "Zizhn'" verkauft die Händlerin Alla fast an jeden zweiten. Politik kommt dort fast gar nicht vor. Auch Anzeigenblätter sind gefragt. Hochglanzzeitschriften wie "Geld", "Lisa", "Hello!" oder "Mach mal Pause" bleiben dagegen genau so liegen wie die russischen Ausgaben von Geo oder Vogue.
Ein Geschäftsmann ist stehen geblieben. Anzug. Krawatte. Aktentasche. Er kauft die Izvestija. Die Zeitung hatte Anfang September Aufsehen erregt, als ihr Chefredakteur von den Besitzern zum Rücktritt gedrängt wurde. Auslöser war die kritische Berichterstattung der Izvestija über die missglückte Befreiung der Geiseln von Beslan gewesen. Die Izvestija gehört mehrheitlich einem dem Kreml nahestehenden Milliardär.
Ich kaufe die Izvestija nur noch aus Gewohnheit. Weil ich sie immer gekauft habe. Aber weil sie den Chefredakteur entlassen haben, werde ich damit allmählich aufhören. Allein die Tatsache, dass so ein Eingriff möglich ist, hat mich erschreckt.
Vor den Redaktionsräumen der Novaja Gazeta hängt eine Dienstanweisung aus der Chefredaktion: Mittwochs habe der Arbeitstag um 10 Uhr zu beginnen, um halb elf die Planungskonferenz. Jetzt ist es viertel vor elf, und noch immer sitzen nicht alle verantwortlichen Redakteure am Tisch.
Die Novaja Gazeta gilt als eine der letzten überregionalen Zeitungen in Russland, die es wagt, Präsident Putin und seine Regierung zu kritisieren. Zwei mal die Woche erscheint das Blatt. Jetzt, wenige Stunden vor Redaktionsschluss, steht noch immer nicht fest, was auf die Seite 1 soll: Ein Artikel über das Vorhaben Putins, die Gewaltenteilung einzuschränken und die Gouverneure künftig nicht mehr direkt wählen zu lassen, sondern zu ernennen; oder ein Beitrag von Anna Politkovskaja über angebliche erste Pläne zu einer weiteren Einschränkung der unabhängigen Gerichtsbarkeit. Chefredakteur Dmitrij Muratov zieht an seiner Zigarette. Er plädiert für Anna Politkovskaja. Die Journalistin ist berühmt. Für ihre engagierten Reportagen aus Tschetschenien wurde sie im Ausland mit diversen Preisen ausgezeichnet.
In unserer Redaktion gibt es, wie in allen Redaktionen in Russland, Reporter, und Leute, die ihre Meinung schreiben. Sie färben ihre Nachrichtentexte subjektiv ein. Dazu gehört auch Anna Politkovskaja. Das sind die Edelfedern Russlands.
Chefredakteur Dmitrij Muratov beugt sich über den Probedruck eines Artikels. Es geht um die Verleihung des Medienpreises der Fernsehakademie. Eine Preisträgerin hat der Novaja Gazeta ein Interview gegeben. Die Unterzeile: "Jetzt ist nicht die Zeit der Profis - weder in der Politik, noch im Machtapparat, noch im Fernsehen".
Wir erleben noch nicht das Ende von Glasnost, aber wir erleben den Beginn von Zensur. Nächstes Jahr ist es 20 Jahre her, dass Gorbatschov an die Macht kam und die Perestroika begann. Damals wurden unabhängige Gerichte geschaffen, damals fanden freie Wahlen statt, damals gab es ein freies Parlament, und es entstand eine freie Presse. Wenn man das mit heute vergleicht, wird ganz klar, dass die Perestroika abgeschafft wird.
Im Fernsehen wird vor allem das gezeigt, was dem Präsidenten gefällt: Dass in Tschetschenien eine erfolgreiche Antiterroroperation läuft, dass die Leute gut leben, und dass das Land stabil ist. Aber das stimmt nicht. Im Dezember haben wir seit zehn Jahren Krieg. Das ist keine Antiterroroperation, sondern das ist Krieg. Und darüber schreiben wir.
Die Staatsmacht reagiert auf solche Kritik, indem sie die Novaja Gazeta mit Klagen überzieht. Oder indem sie Anzeigenkunden unter Druck setzt. Sogar vor Mord scheint sie nicht zurückzuschrecken. Star-Autorin Anna Politkovskaja wurde im September auf dem Weg nach Beslan vermutlich vergiftet und entging nur knapp dem Tod. Sie wäre nicht das erste Opfer gewesen.
Seit vier Jahren läuft die Untersuchung wegen des Mordes an unserem Ressortleiter Igor Domnikov. Den haben Killer umgebracht.
Oder unser Korrespondent im Gebiet Krasnodar, Sergej Solovkin. Zwei mal hat ein Auftragsmörder auf ihn geschossen. Solovkin lebt jetzt in Deutschland. Zurück kann er nicht. Die Auftraggeber sind noch immer nicht gefunden.
Und bis heute werden mir hunderte von Fragen im Zusammenhang mit dem rätselhaften und plötzlichen Tod unseres stellvertretenden Chefredakteurs gestellt, Juri Schtschekotschichin.
Muratov zeigt auf ein Foto neben seinem Schreibtisch. Ein Mann mit weißen Haaren und tiefen Lachfalten schaut herausfordernd in die Kamera.
Das ist Jura Schtschekotschichin. Er war mein engster Freund. Das ist schwer.
Juri Schtschekotschichin leitete das Ressort für Investigativgeschichten der Novaja Gazeta. Außerdem war er Dumaabgeordneter und arbeitete im parlamentarischen Ausschuß für Korruptionsbekämpfung. Er starb vor gut einem Jahr nach nur einer Woche schwerer Krankheit.
Sein Nachfolger, der 29jährige Roman Schlejnov, ist ein schlanker zurückhaltender Mann in braunem Cordanzug. Gern zeigt er das Büro seines ehemaligen Chefs: Ein fensterloser, stickiger Raum, voll gestopft mit Akten.
Juri Schtschekotschichin hat zuletzt an einer Geschichte über Geldwäsche und Waffenhandel recherchiert. Auch die Präsidialverwaltung war darin verwickelt. Wir wissen bis heute nicht, woran Schtschekotschichin gestorben ist.
Roman Schlejnov verschränkt die Arme, lehnt sich an die Wand. Auch ihn interessiert vor allem Korruption, und zwar auf höchster politischer Ebene.
Teilweise liegen diese Fälle schon ein paar Jahre zurück. Korruption kettet die Beteiligten eng aneinander. Wenn einer mehrere Straftaten begangen hat, aber alle Verfahren gegen ihn eingestellt wurden, und der Betreffende immer noch auf seinem Posten im Staatsapparat sitzt, dann ist er erpressbar. Es gab diverse Strafverfahren, die eingestellt wurden und die bis heute als Druckmittel gegen die Betroffenen eingesetzt werden können. Ich glaube, das ist sogar der wesentliche Machtmechanismus, mit dem Putin den Staat unter Kontrolle hält.
Schlejnovs Problem ist, dass er solche Vorwürfe nur sehr schwer belegen oder beweisen kann. Oft kann er sie noch nicht einmal überprüfen. Eine ausgewogene Berichterstattung, in der beide Seiten zu Wort kommen, sei in Russland so gut wie unmöglich, meint der Journalist.
Du rufst irgendwo an und willst eine Stellungnahme, als Gegenstimme zu anderen Äußerungen und Zitaten. Aber es passiert das genaue Gegenteil. Die Leute versuchen, das Erscheinen deines Artikels zu blockieren. Und sei es durch Druck auf deine Bekannten, die dann zu dir kommen und sagen: Lass das mal besser mit der Veröffentlichung...
Schlejnov geht in die Bar. Im Fernseher läuft NTW. Der einst unabhängige Sender gehört heute dem Staatskonzern Gasprom und einer Sankt Petersburger Bank. Die verfügt angeblich über enge Verbindungen zum politischen und persönlichen Umfeld Vladimir Putins. Seit der Übernahme des Senders bietet NTW vor allem seichte Unterhaltung. Alle paar Minuten kündigt eine Vorschau eine neue Reality-Show an. Der Titel dies mal: "Mein dicker, widerlicher Bräutigam".
Hinter dem Tresen bereitet Stalina Uspenskaja die Vorspeisen für den Mittagstisch vor: Tomaten mit saurem Hering, halbe Eier in Senfsoße, Wurströllchen mit Krautsalat.
Stalina Uspenskaja ist die gute Seele der Redaktion.
Das hier ist keine Kantine, sondern eine Bar. Wir reden mit jedem Journalisten, der hier etwas isst. Unsere Zeitung ist die beste. Und die progressivste. Wir schreiben die Wahrheit. Wir schreiben, wie es wirklich ist. Ob das noch lange möglich ist, ist schwer zu sagen. Wer weiß, wie sich die Politik entwickelt. Aber noch ist unsere Zeitung wie eine frische Brise. Roma, was möchtest du, mein Junge? Pudding?
Roman Schlejnov nimmt einen Schokopudding mit an den Schreibtisch. Doch bevor er geht, zeigt er auf ein Foto an der Wand. Michail Gorbatschov ist darauf abgelichtet, bei der 10-Jahr-Feier der Zeitung.
Er ist ein langjähriger Freund der Redaktion. Wir haben ähnliche Ansichten. Er hat die Redaktion Mitte der 90er Jahre unterstützt, als wir nicht einmal Räume hatten. Damals hat er uns mit Computern geholfen.
Hier liegt der wunde Punkt der Redaktion. Denn die Novaja Gazeta gehört zwar nicht dem Staat; unabhängig ist sie deshalb aber noch lange nicht. Im Gegenteil: Das Blatt ist auf Sponsoren angewiesen. Fragt man nach Namen, erntet man Schweigen. Sie wollten niemanden gefährden, sagen die Redakteure. Kritiker werfen der Zeitung denn auch vor, sie lasse sich von der Opposition instrumentalisieren. Die Journalisten der Novaja Gazeta würden Geld bekommen dafür, dass sie Regierungsvertreter kritisieren. Roman Schlejnov, Leiter der Investigativabteilung, weist das von sich. Er habe noch nie für einen Artikel Geld genommen.
Mir haben schon sehr viele Leute Geld angeboten. Das kommt ständig vor. Eine meiner ersten großen Recherchen war über den Export von Militärflugzeugen nach Afrika. Auf dem Weg zu der Fabrik, aus der die Flugzeuge verschwunden sind, hat mir jemand von der Staatsanwaltschaft gesagt: Wissen Sie, reden Sie mit dem Direktor der Fabrik, da bekommen sie einen großen informativen und einen materiellen Vorteil. Sie hatten 25.000 Dollar gesammelt, damit ich die Recherche abbreche... Ich habe abgelehnt. Wir haben die Geschichte dann veröffentlicht. Jetzt sind, vielleicht auch dank uns, solche Geschäfte mit Afrika zumindest schwieriger geworden.
Donnerstagvormittag in Nischnij Novgorod. Der Bürgermeister hat zum Pressegespräch eingeladen, wie jede Woche. Einen Anlass gibt es nicht. Nischnij Novgorod liegt an der Wolga, eine knappe Tagesreise südöstlich von Moskau. Unter dem progressiven Gouverneur Boris Nemzov war es einmal ein Zentrum der Reformen, doch mittlerweile regieren hier wieder Kommunisten. Der Bürgermeister ist parteilos und damit eine Ausnahme. Bei den Journalisten ist er sehr beliebt.
Natascha Odinzova gibt ihre Jacke an der Garderobe ab und geht mit ihrem Kameramann hinauf in den dritten Stock. In Strassenbekleidung darf man nicht zum Bürgermeister. Eilig kämmt sie sich noch einmal das lange schwarze Haar. Natascha ist 25 und einer der Stars von NNTW, dem Nischnij Novgoroder Fernsehen. Es gehört zu hundert Prozent dem Regionalparlament.
Heute machen wir einen Beitrag für die Nachrichten. Das Hauptthema wird der Beginn der Heizperiode sein. Ich soll den Zuschauern erklären, welche Häuser schon beheizt sind, welche noch nicht, ob die sozialen Einrichtungen dabei sind, und wie lange sich das ganze noch hinzieht, denn draußen ist es ja schon ziemlich kalt...
In Russland hängen fast alle Wohnhäuser und öffentlichen Gebäude an der Fernwärme. Der Beginn der Heizperiode sorgt alle Jahre wieder für Aufregung, weil nicht überall rechtzeitig mit dem Heizen begonnen wird. Bei Natascha zuhause ist es noch kalt, bei Aljoscha, dem Kameramann, dagegen schon warm.
Bis zum Beginn des Pressegesprächs bleiben noch zehn Minuten Zeit. Immer mehr Journalisten versammeln sich im Vorzimmer. Schnell wird es eng.
Jaroslav Gunin, auch er erst Mitte 20, arbeitet für eine regionale Nachrichtenagentur. Das Thema Meinungsfreiheit beschäftige in Russland jeden, meint Jaroslav. Er möchte das aber nicht an der Berichterstattung über Beslan festmachen. Im Ausland war der russischen Regierung und den russischen Journalisten vorgeworfen worden, sie hätten während der Geiselnahme im nordossetischen Beslan bewusst Fakten zurückgehalten. So sprachen die russischen Medien lange Zeit von etwa 300 Geiseln, obgleich sich jeder ausrechnen konnte, dass es tatsächlich an die tausend Menschen waren, die mehrere Tage in der Schule gefangen gehalten wurden. Politiker und Journalisten hätten das Leben der Geiseln damit erst recht gefährdet, so der Vorwurf. Jaroslav wehrt ab.
Meine Kollegen waren in Beslan. Sie haben gut gearbeitet. Sie haben direkt per Mobiltelefon weitergegeben, was sie gesehen haben. Es gab einige Einschränkungen, aber gerade im Fall von Beslan waren die nötig. Denn es hätte geschadet, bekannt zu machen, wo sich welche Truppen befinden.
Was aber die Meinungsfreiheit insgesamt betrifft: Die gibt es in Russland nicht. Die Rechte von Journalisten sind bei uns stark eingeschränkt.
Bei uns in Nischnij Novgorod gibt es Medien, die gehören dem Gouverneur, und es gibt Medien, die gehören dem Gebietsparlament. Der Gouverneur und das Parlament sind erbitterte Feinde. Dementsprechend werden die einen Journalisten möglichst nicht zu Veranstaltungen des Parlaments eingeladen und die anderen Journalisten möglichst nicht zu Veranstaltungen des Gouverneurs.
Die anderen scherzen: Für diese Äußerungen werde er morgen abgeholt... Es ist zur Zeit wieder mutig, so offen zu reden. Mitarbeiter russischer staatlicher Medien scheuen die Mikrofone ihrer westlichen Kollegen. Auch unsere Anfrage bei den Moskauer Zentralredaktionen der staatlichen Sender wurden abgelehnt. "Unsere Journalisten geben keine Interviews, sie führen sie", ließ der Nachrichtenchef des kremltreuen Ersten Kanals mitteilen.
Der Bürgermeister von Nischnij Novgorod, Vadim Bulavinov, ist ein Mann mittleren Alters in grauem Anzug und mit sorgsam geföhntem Haar. Er bittet die Journalisten herein und nimmt am Kopfende eines langen Tisches Platz. Unter der Decke hängt eine Kamera. Sie filmt das Geschehen im Büro: Den riesigen schweren Schreibtisch, die russische Fahne, das Foto von Präsident Putin an der Wand, und die etwa 40 Journalisten, die sich auf den Stühlen drängen. Die Daten werden live ins Internet übertragen. Der Bürgermeister ist stolz auf diese neueste Erfindung. Sie soll Offenheit und Bürgernähe vermitteln.
Jaroslav, der Agenturjournalist, will wissen, ob der Beginn der Heizperiode erfolgreich verlaufen sei. Bürgermeister Bulavinov antwortet ausführlich: Nur DREI Tage nach dem offiziellen Beginn der Heizperiode würden SCHON 70 Prozent der Häuser beheizt. Das sei ein gutes Ergebnis. Von einem Erfolg zu sprechen, sei zu früh. Er sei jedoch optimistisch.
Es folgen Gefälligkeitsfragen. Einer erkundigt sich nach den Geburtstagsgrüßen des Bürgermeisters für Präsident Putin.
Natascha eilt zurück in die Redaktion. Der Kameramann verschwindet kurz im Technikraum. Sie ist zufrieden mit dem Termin beim Bürgermeister. Mit ihrer Arbeit ist sie es nicht.
Aljoscha hat mir einen Kassettenrekorder von zuhause mitgebracht. Ich lerne Englisch, mit Sprachkassetten. Ich will weg von hier. In Europa gibt es viele russischsprachige Fernsehsender. Dort will ich arbeiten.
Hier verdient man nichts, und ich habe keine Möglichkeit, mich zu verwirklichen. Ich glaube, ich kann mehr, als ich hier zeigen kann.
Der Beginn von Glasnost und Perestroika war auch der Anfang des kritischen Journalismus in Russland. Und der stieß damals auf ein großes Echo. Die Menschen standen Schlange vor Zeitungsständen und Buchhandlungen, um die Berichte und Reportagen über die dunklen Seiten des Sowjetregimes zu lesen. Heute scheint es, als seien die Russen übersättigt. Das Interesse an politischer Information ist erlahmt. Umsatz wird mit Unterhaltung gemacht. Vor allem - mit Krimis.
Eine der meist gelesenen Krimiautorinnen ist Tatjana Ustinova. Die 36jährige wohnt in einem Vorort von Moskau, in einem gemütlichen Einfamilienhaus am Rande einer Waldsiedlung. Im Garten blühen Astern. Der Apfelbaum ist schon fast kahl. Eine schwarze Katze schleicht um den Wohnzimmertisch. Die Mutter serviert Käsebrote und Tee in blauen Porzellantassen.
Tatjana Ustinova trägt Jeans, Pulli und einen Kurzhaarschnitt. Aufmerksam blickt sie durch ihre markante schwarze Hornbrille. Schon mit ihrem ersten Krimi "Personalnyj angel", "Der Schutzengel", landete Tatjana Ustinova einen Bestseller. Die junge Katerina, kreativer Kopf einer Public-Relations-Agentur, erhält den Auftrag, den Wahlkampf des Oligarchen Timofej Kolzov zu betreuen. Kolzov will Gouverneur von Kaliningrad werden. Da er über kein großes Charisma verfügt, kann das nur mit Hilfe einer glänzenden PR-Kampagne gelingen. Katerina macht sich an die Arbeit. Auf ihren Rat hin erteilt Kolzov Bauaufträge für Schiffe und schafft so Arbeitsplätze. Mit Hilfe von Mittelsmännern zettelt er einen Bandenkrieg in der Kaliningrader Drogenmafia an. Der zeigt die Hilflosigkeit der Polizei und wirft schlechtes Licht auf Kolzovs Gegner, den amtierenden Gouverneur. Wie erwartet, springen die Medien voll auf das Thema an. Doch auch der Gegenkandidat hat ein PR-Team. Es beginnt ein regelrechter Medienkrieg. Tatjana Ustinova nimmt zum Lesen die Brille ab.
Das Hauptziel war erreicht. Die Zeitungen schrieben gierig über den Bandenkrieg im Kaliningrader Gebiet und über die übliche Machtlosigkeit der Polizei; über Bomben, die in irgendwelchen Mercedessen versteckt wurden, und über die sogenannten "Personen kaukasischer Nationalität", die in der Nähe der Explosionen gesehen worden waren.
"Die armen Kaukasier", dachte Katerina, als sie die Zeitungen las. "Immer werden ausgerechnet sie zur falschen Zeit am falschen Ort gesehen."
Die Journalisten, die sie auf ihrer Seite wusste, besserten ihr Gehalt auf, indem sie der Welt von der Furchtlosigkeit Timofej Kolzovs erzählten. Sie berichteten, ein Fingerzeig von ihm reiche aus, um sämtliche kriminelle Lokalgrößen derart in Panik zu versetzen, dass sie sich zu wüste Schießereien hinreißen ließen.
Timofej Kolzov nahm nur noch nach perfekter Vorbereitung an Live-Sendungen teil. Sie hatten eine Fernsehausrüstung gekauft und zwei Studios: Eins in Moskau und eins in Kaliningrad.
Zeitungen, Fernsehen und Radio berichteten über Timofej Kolzovs Kampf gegen die Drogen, über Timofej Kolzovs Frau, über Timofej Kolzovs Fabrik und über Timofej Kolzovs Stadt.
Unbegreiflich war nur eins: Warum die andere Seite schwieg.
Das entspricht fast vollständig der Wahrheit. Natürlich ist auch ein bisschen Dichtung dabei, schließlich ist das ein Krimi. Aber abgesehen davon weiß ich, dass es in Russland alle Arten von schwarzen und grauen PR-Techniken gibt, dass es Journalisten gibt, die gegen Geld bestellte Artikel schreiben oder sogar ganze Werbekampagnen organisieren und sich damit ein kleines Vermögen verdienen. Bestellte Artikel oder Beiträge hat es auch unter Jelzin schon gegeben, als ich beim Fernsehen war. Das war an der Tagesordnung.
Schwarze PR - so nennen russische Journalisten jene Artikel, die auf Bestellung und gegen Bares geschrieben werden. Tatjana Ustinova zündet sich eine lange, extra dünne Zigarette an. Sie kam Anfang der 90er Jahre zum Staatsfernsehen. Erst war sie Reporterin im Morgenprogramm. Wenig später wechselte sie in den Apparat von Präsident Boris Jelzin und berichtete aus dem Kreml. Noch unter Jelzin stieg sie aus dem politischen Journalismus aus und begann, Krimis zu schreiben. Jetzt sitzt sie bereits an ihrem achtzehnten Buch. Viele ihrer Romane spielen im Politiker- und Journalisten-Milieu.
Die andere Seite, das Wahlkampfteam des noch amtierenden Gouverneurs, schwieg hartnäckig. Und sehr bald, nachdem der Rausch über die Siege Timofej Kolzovs in den ersten gekauften und objektiven Meinungsumfragen verflogen war, wurde klar, dass die andere Seite mit Bedacht schwieg.
Der Leiter der gegnerischen Kampagne hieß Grinja Ostrovoi. Grinja Ostrovoi war eine Berühmtheit. Unter Journalisten und PR-Leuten kursierten Legenden über ihn. Er galt als Spezialist für "schwarze" Wahlen und stand im Ruf, auch noch dem aussichtslosesten Kandidaten zum Sieg verhelfen zu können. Seine Taktik bestand vor allem darin, den Konkurrenten in den Schmutz zu ziehen.
Katerina kannte Grinja gut, und sie wartete nur darauf, dass er irgendwo in Erscheinung treten würde. Und als es dann geschah, sah es so aus, als würde Grinja ihre monatelange Arbeit im Handstreich zunichte machen.
Allein im März wurden Katerina drei Interviews mit Timofej Kolzov im landesweiten und zwei im Lokalfernsehen abgesagt. Kolzovs Gegenkandidat, der amtierende Gouverneur, ließ ihn einfach ins Leere laufen. Er trat vor den Mitarbeitern der Staatsanwaltschaft auf und lobte sie für ihre glänzende Arbeit im Kampf gegen Drogen - sowohl in der Presse, als auch im Fernsehen. Am Ende glaubten alle, dass es die Staatsanwaltschaft unter direkter Leitung des Gouverneurs gewesen war, die gegen die Drogenbanden gekämpft hatte - und nicht Timofej Kolzov.
Die Lokalzeitungen schrieben, dass auf dem Grundstück von Kolzovs Strandvilla eigentlich ein Sanatorium für die Opfer von Tschernobyl hatte errichtet werden sollen. Und sie deuteten sogar nebulös an, dass Kolzov die Tschernobyl-Gelder eingestrichen hatte.
Katerina magerte ab, wurde hohlwangig und begann, schlecht zu schlafen.
Ustinova legt das Buch zur Seite.
Dass die Medien heute ihre Rolle so spielen können, ist meines Erachtens das Ergebnis des ungestümen und krankhaften Wachstums der Medienlandschaft.
Jedes Kind muss, um erwachsen zu werden, bestimmte Entwicklungsstufen durchmachen: Einem Kleinkind bringen wir erst bei, zu sitzen, dann zu laufen, sich nicht mit Brei zu bekleckern, das Spielzeug nicht rumzuschmeißen... Und dann besteht Hoffnung, dass, wenn es groß wird, ein anständiger Mensch aus ihm wird, der sich das Essen nicht mit den Händen in den Mund stopft und der die Füße nicht auf den Tisch legt.
Es ging alles viel zu schnell. 1991 - das ist noch gar nicht lange her - lebten wir plötzlich in einem ganz anderen Land. Dort herrschten plötzlich ganz andere Gesetze: Es ließ sich auf einmal viel Geld verdienen, wenn man für jemanden bestimmte Artikel schrieb oder bestimmte Fernsehbeiträge drehte. Die Journalisten berauschten sich an der Macht der Medien. Jeder bildete sich ein, er könne irgendwie den Lauf der Welt mitbestimmen.
Journalisten sind doch sehr nahe am Olymp, besonders die politischen Journalisten. Und in bestimmten Momenten fragten sich eben viele von ihnen: Warum eigentlich nicht? Wenn ein Politiker einen bestimmten Posten haben will, liegt doch der Gedanke nahe: "Hm, ich schreib jetzt mal dies oder das über den, und dann kriegt der den Posten nicht." Da sinken die Hemmschwellen beträchtlich.
Der Krimi geht natürlich gut aus. Der Oligarch Timofej Kolzov überlebt einen Mordanschlag, und er gewinnt nicht nur die Wahl zum Gouverneur des Kaliningrader Gebietes, sondern er heiratet auch noch Katerina, die beiden werden glücklich und bekommen zwei Kinder. Dass es im richtigen Leben mit den russischen Medien ebenso positiv ausgeht, glaubt Ustinova eher nicht.
Ich habe Angst vor dem Wort Zensur. Ich bin 36, und ich erinnere mich sehr gut an die Zeit, als der einzige Bestseller in unserem Land ein Buch von unserem Generalsekretär Leonid Breschnev war. Und es gab eine einzige Zeitung mit dem Namen "Pravda", "Die Wahrheit". Das war schrecklich. Es wäre furchtbar, wenn es in diese Richtung zurückginge. Wenn wir gemeinsam in einem Staat leben, dann haben wir auch das Recht zu erfahren, was in diesem Staat passiert.
Wir leben doch nicht im Irrenhaus. Und wir brauchen keinen Chefarzt, der bestimmt, was uns aufregt und was nicht. Wir sind alle erwachsene Leute, und wir sind für uns selbst verantwortlich, für unsere Kinder, für unseren Beruf - und am Ende auch für unser Land.
Im Hörsaal der renommierten Journalistischen Fakultät der Staatlichen Universtität in Moskau verschandeln dicke Heizungsrohre die hohen Wände. Putz bröckelt. Etwa vierzig Studenten sitzen an unbequemen Sperrholztischen. Thema der Vorlesung ist das Zeitungsinterview. Einige schreiben mit, andere sind mit ihren Mobiltelefonen beschäftigt oder tuscheln. Sie sind im zweiten Studienjahr und gerade mal 17, 18 Jahre alt.
Die Professorin, Maria Lukina, eine blonde Frau um die vierzig in einem modischen blauen Hosenanzug, steht vor einem Laptop und wirft ihre Schaubilder per Videobeamer an die Wand. Eindringlich erklärt sie die Besonderheiten des russischen Presserechts. Dass zum Beispiel Beamte von Journalisten verlangen können, dass die Fragen drei Tage vor dem Interviewtermin schriftlich eingereicht werden. Und dass im Gegenzug Journalisten eine schriftliche Begründung einfordern können, wenn die Beamten Interviewanfragen ablehnen.
Nach der Vorlesung nimmt die Professorin ihren Laptop unter den Arm und geht auf den Flur.
Meine Freunde unter den Dozenten und ich fühlen eine gewisse Ausweglosigkeit. Wir reden hier zwar darüber, wie die Presse in einer demokratischen Gesellschaft funktionieren muss. Aber sobald die Studenten in die Redaktionen gehen, sobald sie mit offiziellen Quellen arbeiten wie etwa mit dem Pressedienst des Präsidenten, erleben sie eine große Entäuschung. Ich kann den Studenten nur eine Art Leitfaden vermitteln, das Handwerk. Damit müssen sie dann zurechtkommen. Sie müssen ja irgendwie an Informationen herankommen.
Maria Lukina hat selbst an der Staatlichen Universität ihren Abschluss gemacht. Das war 1980.
Das war schrecklich. Ich erinnere mich an rein gar nichts, was uns beigebracht wurde. Mir fiel es nach dem Abschluss sehr schwer, im Journalistenalltag zurecht zu kommen. Als dann aber 1985 die Perestroika begann, fing für uns Journalisten eine traumhafte Zeit an. Das waren sieben glückliche Jahre. Ich glaube, so viel Freiheit, wie wir damals hatten, gibt es heute in keinem westlichen Land. Wir waren völlig ohne jede Zensur.
Heute ist Lukina stellvertretende Dekanin der Fakultät. Die Universität gelte als Hort demokratischer Prinzipien, sagt Lukina, und die Mehrheit der Dozenten versuche, diese Linie auch heute beizubehalten.
Lukina geht in ihr Büro. Auf dem Flur hängt eine Wochenzeitung aus. "Der Journalist" wird von Studenten gemacht. Die nächste Ausgabe ist gerade in der Schlussphase. Zwölf Studenten sitzen im Redaktionsraum an Computern. Nadja und Mascha suchen Fotos im Internet. Mascha hat für die Ausgabe einen Artikel über Putin geschrieben.
Besser gesagt: Über die Widersprüche in Putins Auftritten. Mal sagt er, wir leben in einer Übergangswirtschaft; vor 20 Tagen hat er noch gesagt, Russland sei eine Marktwirtschaft. Ich nehme Ausschnitte aus den beiden Auftritten und zeige, dass er sich selbst widerspricht.
Ihre Freundin Nadja interessiert sich dagegen mehr für Kultur. Sie hofft, über Redaktionspraktika den Einstieg in eine unabhängige Zeitung zu schaffen.
Wir alle hier meinen, dass mit den Medien bestimmte Dinge passieren, die nicht sein sollten. Dauernd werden irgendwelche Sendungen abgesetzt. Und bei den Zeitungen gibt es redaktionelle und personelle Eingriffe. Bisher betrifft mich das nicht so sehr. Ich versuche, darüber nicht zu sehr nachzudenken...
Die beiden wenden sich wieder dem Computer zu. In der Cafeteria herrscht unterdessen Hochbetrieb. Zwei Frauen verkaufen Fladenbrote, gefüllt mit Krautsalat und einem Würstchen. Im Fernseher laufen Musikvideos.
An einem der Tische beugt sich Regina über ein Manuskript. Der Tee in ihrem Plastikbecher ist schon kalt geworden. Regina ist im dritten Studienjahr und möchte Radiojournalistin werden. Das Studium sei zu theoretisch, klagt sie. Deshalb hat sie beim russischen Staatsradio als freie Mitarbeiterin gearbeitet. Ein halbes Jahr hat sie das ausgehalten.
Ich wollte dort lernen, wie man Reportagen macht. Ich habe über typische Lokalthemen berichtet. Politik kam fast gar nicht vor. Ich weiß nur, wo ich nicht arbeiten möchte: Ich will kein Mikrophonhalter der staatlichen Sender sein. Ich will keine langweiligen Nachrichten machen. Ich kann bisher einfach nichts finden, wo ich wirklich arbeiten möchte.
Regina rührt in ihrem Tee, packt das Manuskript zusammen.
Als wir uns für den Studienplatz beworben haben, mussten wir angeben, warum wir Journalisten werden wollen. Ich habe erst neulich daran gedacht, was ich damals geschrieben habe, und ich musste lange lachen. Ich habe tatsächlich geschrieben, dass ich der Gesellschaft dienen will. Ich wollte die Leute informieren und all das... Ich war wirklich idealistisch... Ehrlich gesagt, ist mittlerweile ziemlich viel davon verflogen. Obwohl, wenn ich professionelle Arbeit sehe, wenn ich schöne Stimmen kluger Leute höre, die wirklich interessante und wichtige Dinge sagen und denen man zuhören möchte - dann kommt ein bisschen was von meinem Idealismus zurück.
Genau darauf setzt Maria Lukina, die stellvertretende Dekanin. Sie ist auf dem Weg zur nächsten Vorlesung.
Es ist vielleicht nicht patriotisch, das zu sagen, aber mir scheint, unsere Journalisten sind nicht so mutig und nicht so professionell ausgebildet wie im Westen. Ihnen ist das Renommee wichtiger. Und sie haben immer gleich die Zensur im Kopf. Dabei vergessen sie, für wen sie eigentlich da sind: Für den Zuhörer, der wissen soll, was geschieht.
Vielleicht tragen die jungen Leute dazu bei, dass die Journalisten in Russland mutiger werden und sich nicht mehr so unterordnen. Ich hoffe das.
Zu fünft ist das Team von TW-6 Vladimir zum Interviewtermin auf der Datscha des Regionalpolitikers erschienen. TW-6 Vladimir gehörte ursprünglich zu dem gleichnamigen überregionalen Kanal des Oligarchen Boris Beresovskij, einem erbitterten Gegner Vladimir Putins. Als der Sender vor zweieinhalb Jahren geschlossen wurde, behielt die Redaktion in der Provinzstadt Vladimir den Namen einfach bei. Und sie versucht, drei Autostunden von Moskau entfernt, die Programmpolitik des alten TW-6 fortzuführen - gegen alle Widrigkeiten.
Befragt wird heute der stellvertretende Vorsitzende des Regionalparlaments, Alexander Sinjagin, ein Kommunist. Es geht um Änderungen des Wahlgesetzes. Kritiker vermuten, dass die Gesetzesänderungen exakt auf die Bedürfnisse der kommunistischen Partei zugeschnitten sind.
Als das Interview beendet ist, lässt sich Sergej Schedrin, einer der beiden Kameramänner, auf die Rückbank des Kleinbusses fallen. Er zieht die schwarze Daunenjacke aus und schiebt seine Schirmmütze in den Nacken.
Ich bin nicht zufrieden. Wir haben nicht klar gemacht, worum es wirklich geht. Die Leute werden das nicht verstehen. Es ist furchtbar, da redet einer Russisch, in deiner Sprache, aber du verstehst ihn trotzdem nicht. Also, ich habe keine Erklärung gehört, warum sie das Gesetz so verabschiedet haben. Er hat gesagt, sie wollen Gelder sparen. Was hat das damit zu tun? Ich hab' das nicht verstanden.
Sergej ist nicht nur erster Kameramann, sondern auch Journalist, und er leitet die Aktuellredaktion. Vor zwei Jahren hatte er ein Stipendium der Freien Universität Berlin und hat im Reichstag bei Politikerinterviews assistiert. Dass die meisten russischen Politiker nicht reden könnten, sei symptomatisch, sagt Sergej. Sie flüchteten sich in die Expertensprache, weil sie ihre Arbeit im Unterschied zu ihren Kollegen in Westeuropa nicht als öffentlichen Job verstünden.
Bei uns im Parlament finden die Pressekonferenzen in einem Raum statt, in dem der Redner mit dem Rücken zum Licht sitzt. Das ist für uns Kameraleute eine Katastrophe. Seit sechs Jahren bitten wir sie, einen Schirm aufzustellen. Da sollen sie ihre Internetadresse raufschreiben oder sonst irgendwas. Aber die kriegen das nicht auf die Reihe. DAS sind die Beziehungen zur Presse.
Sergej greift nach dem Mobiltelefon. Ein Anruf von NTW aus Moskau. Der Sender hat keinen eigenen Korrespondenten in Vladimir. Wenn etwas passiert, geht der Auftrag an TW-6.
Auf der Fernstrasse ist ein LKW verunglückt, nachts bei Kilometer 215. Angeblich sind vier Tonnen Flüssigkeit ausgelaufen. Eventuell war das Zeug giftig.
NTW will die Bilder bereits in den 16-Uhr-Nachrichten ausstrahlen. Jetzt ist es halb zwei. Das Mittagessen muss ausfallen.
Der Unglückswagen steht noch am Straßenrand, mit geöffneten Tankluken. Zwei Männer kuppeln den Tanklaster an eine Zugmaschine an.
Während Sergej von weitem die Unglücksstelle filmt, nimmt sein Kollege Details auf: Die schmierige Flüssigkeit, die noch immer vom Tankwagen auf den Erdboden tropft; die Lache darunter; die weißen Schaumflocken, mit denen das verseuchte Erdreich abgedeckt wurde. Der Laster war mit dem Hinterrad auf den unbefestigten Seitenstreifen geraten und umgekippt. Mindestens die Hälfte der Flüssigkeit sei ausgelaufen, meint der Fahrer. Neun Tonnen. Was er da transportiert habe, ob es giftig sei, wisse er nicht.
Am Straßenrand wartet Sergej darauf, dass sich das Gespann mit dem Unglücksfahrzeug in Bewegung setzt. Die Kamera liegt auf seiner rechten Schulter. Er hat seine Mütze mit dem Schirm in den Nacken gedreht.
Wie spät ist es jetzt? 14:13? Um 15:40 wird das Material schon in Moskau sein.
Bilder aus erster Hand. Er könne nicht sagen, dass auf ihn direkt Druck ausgeübt werde, meint Sergej. Aber auch er spüre eine schleichende Bedrohung der Glasnost'.
Die Machthaber in den Provinzen sind bemüht, bloss nichts nach außen dringen zu lassen, was eventuell nicht hundertprozentig der Linie des Kreml entspricht. Jetzt hat Putin gesagt: Die Gouverneure sollen ernannt werden. Und sie alle haben zugestimmt, 89 Gouverneure. Das ist eher Selbstzensur als als Zensur. Und die betrifft alle. Das fängt bei der Regierung an und hört bei den Journalisten auf.
Vor allem aber dürfe der Staat keine Medien besitzen, meint Sergej.
Hier passiert eine solche Gehirnwäsche... Es gibt ein geflügeltes Wort, das wäre witzig, wenn es nicht so tragisch wäre. Es stammt von einem Moderator des staatlichen Fernsehens. Er hat gesagt: Wenn es keine Sensation gibt, dann fangen wir mit Putin an. Das ist ein Zitat. Das sagt doch alles.
Die Zugmaschine mit dem Unglückslaster setzt sich in Bewegung. Sergej schaltet die Kamera an. Fünf Minuten später bricht das Team auf. Die Bilder werden nie in Moskau ankommen. Zwar wird sich herausstellen, dass der LKW wirklich Gefahrgut transportierte; dass die ausgelaufene Flüssigkeit Phenol und Formaldehyd enthielt. Auch wird das Team von TV-6 über Kopfschmerzen klagen. Doch die Überspielung der Bilder zu NTW wird nicht zustande kommen, denn der Staatsrundfunk in Vladimir lässt Sergej einfach nicht ins Studio.
Und eine Moskauer Journalistikstudentin über Berufswunsch und - wirklichkeit:
Ich will kein Mikrophonhalter der staatlichen Sender sein. Ich will keine langweiligen Nachrichten machen. Ich kann bisher einfach nichts finden, wo ich wirklich arbeiten möchte.
Montag morgen in Moskau, der russischen Macht- und Medienmetropole. Während sich Autofahrer Stoßstange an Stoßstange durch den üblichen Morgenstau über den "Novyj Arbat" quälen, hasten die Passanten zur gleichnamigen Metrostation. Vor dem Eingang verkaufen Händler Blumen, Puzzlespiele, Videos, Getränke, Bücher - und Zeitungen.
Alla hat die Kapuze ihrer Steppjacke über ihre Wollmütze gezogen und tritt neben ihrem Zeitungsstand von einem Bein aufs andere. Alla ist nicht sehr gesprächig. Ihren Nachnamen möchte sie nicht nennen. Und auch andere Fragen am liebsten nicht beantworten. Ob das denn überhaupt erlaubt sei, auf offener Straße fremde Leute zu interviewen, will sie wissen.
Ein Mann Mitte 40 ist stehen geblieben und wirft einen Blick auf die Schlagzeilen. Die Zeitungen sind mit Wäscheklammern beschwert. Im Schnitt kosten sie 8 Rubel, das sind etwa 25 Cent - auch für einen russischen Geldbeutel erschwinglich. Einige tragen noch immer die Titel der Sowjetzeit: Moskauer Komsomolze oder Komsomolzenwahrheit. Andere heißen Der Kaufmann, Unabhängige Zeitung oder Sportexpress. Der Mann entscheidet sich für ein Rätselheft mit Witzen.
Das Heft lese ich in der Mittagspause, beim Tee. Da will ich über nichts nachdenken. Tageszeitungen lese ich nicht. Die lügen doch alle.
Zwanzig Jahre nach Beginn von Glasnost' und Perestroika steuert die Glaubwürdigkeit der russischen Medien wieder einem Tiefpunkt entgegen. Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre hatten die Russen Schlange gestanden, um eine der Zeitungen zu ergattern, die auf einmal frei berichten konnten. Die Enthüllungen über das kollabierende Sowjetsystem fanden ein Massenpublikum. Diese Zeiten sind vorbei. Eine Frau bleibt stehen, sucht in ihrer großen Handtasche nach dem Portemonaie.
Die Zeitungsartikel sind allesamt bestellt. Ich glaube überhaupt niemandem mehr.
Und dann drucken sie immer nackte Frauen ab. Schauen Sie mal... Früher wurden die Leute dafür erschossen.
Mit dem Geiseldrama von Beslan wurde auch für Außenstehende deutlich, an welch engem politischen Gängelband die russischen Medien gehalten werden. Der Antiterrorkampf ist für Präsident Putin ein willkommener Vorwand, um die Pressefreiheit nun immer weiter einzuschränken. Seit Russland mit Vladimir Putin einen Geheimdienstler als Präsidenten hat, sind viele Zeitungen zu reinen Verlautbarungsblättern geworden. Ihre Auflagen sind dementsprechend rapide gesunken.
Noch schlimmer steht es um das Fernsehen. Ein Jahr nach seinem Amtsantritt, im Frühjahr 2001, ließ Putin den unabhängigen Fernsehsender NTW von Truppen des Inlandsgeheimdienstes stürmen und übertrug die Leitung einem Regierungsbeamten. Im darauf folgenden Winter wurde dem regierungskritischen Sender TW-6 buchstäblich der Stecker herausgezogen. Seitdem befinden sich alle überregionalen Fernsehkanäle unter staatlicher Kontrolle. Im Radio sieht es ähnlich aus.
Das Boulevardblatt "Zizhn'" verkauft die Händlerin Alla fast an jeden zweiten. Politik kommt dort fast gar nicht vor. Auch Anzeigenblätter sind gefragt. Hochglanzzeitschriften wie "Geld", "Lisa", "Hello!" oder "Mach mal Pause" bleiben dagegen genau so liegen wie die russischen Ausgaben von Geo oder Vogue.
Ein Geschäftsmann ist stehen geblieben. Anzug. Krawatte. Aktentasche. Er kauft die Izvestija. Die Zeitung hatte Anfang September Aufsehen erregt, als ihr Chefredakteur von den Besitzern zum Rücktritt gedrängt wurde. Auslöser war die kritische Berichterstattung der Izvestija über die missglückte Befreiung der Geiseln von Beslan gewesen. Die Izvestija gehört mehrheitlich einem dem Kreml nahestehenden Milliardär.
Ich kaufe die Izvestija nur noch aus Gewohnheit. Weil ich sie immer gekauft habe. Aber weil sie den Chefredakteur entlassen haben, werde ich damit allmählich aufhören. Allein die Tatsache, dass so ein Eingriff möglich ist, hat mich erschreckt.
Vor den Redaktionsräumen der Novaja Gazeta hängt eine Dienstanweisung aus der Chefredaktion: Mittwochs habe der Arbeitstag um 10 Uhr zu beginnen, um halb elf die Planungskonferenz. Jetzt ist es viertel vor elf, und noch immer sitzen nicht alle verantwortlichen Redakteure am Tisch.
Die Novaja Gazeta gilt als eine der letzten überregionalen Zeitungen in Russland, die es wagt, Präsident Putin und seine Regierung zu kritisieren. Zwei mal die Woche erscheint das Blatt. Jetzt, wenige Stunden vor Redaktionsschluss, steht noch immer nicht fest, was auf die Seite 1 soll: Ein Artikel über das Vorhaben Putins, die Gewaltenteilung einzuschränken und die Gouverneure künftig nicht mehr direkt wählen zu lassen, sondern zu ernennen; oder ein Beitrag von Anna Politkovskaja über angebliche erste Pläne zu einer weiteren Einschränkung der unabhängigen Gerichtsbarkeit. Chefredakteur Dmitrij Muratov zieht an seiner Zigarette. Er plädiert für Anna Politkovskaja. Die Journalistin ist berühmt. Für ihre engagierten Reportagen aus Tschetschenien wurde sie im Ausland mit diversen Preisen ausgezeichnet.
In unserer Redaktion gibt es, wie in allen Redaktionen in Russland, Reporter, und Leute, die ihre Meinung schreiben. Sie färben ihre Nachrichtentexte subjektiv ein. Dazu gehört auch Anna Politkovskaja. Das sind die Edelfedern Russlands.
Chefredakteur Dmitrij Muratov beugt sich über den Probedruck eines Artikels. Es geht um die Verleihung des Medienpreises der Fernsehakademie. Eine Preisträgerin hat der Novaja Gazeta ein Interview gegeben. Die Unterzeile: "Jetzt ist nicht die Zeit der Profis - weder in der Politik, noch im Machtapparat, noch im Fernsehen".
Wir erleben noch nicht das Ende von Glasnost, aber wir erleben den Beginn von Zensur. Nächstes Jahr ist es 20 Jahre her, dass Gorbatschov an die Macht kam und die Perestroika begann. Damals wurden unabhängige Gerichte geschaffen, damals fanden freie Wahlen statt, damals gab es ein freies Parlament, und es entstand eine freie Presse. Wenn man das mit heute vergleicht, wird ganz klar, dass die Perestroika abgeschafft wird.
Im Fernsehen wird vor allem das gezeigt, was dem Präsidenten gefällt: Dass in Tschetschenien eine erfolgreiche Antiterroroperation läuft, dass die Leute gut leben, und dass das Land stabil ist. Aber das stimmt nicht. Im Dezember haben wir seit zehn Jahren Krieg. Das ist keine Antiterroroperation, sondern das ist Krieg. Und darüber schreiben wir.
Die Staatsmacht reagiert auf solche Kritik, indem sie die Novaja Gazeta mit Klagen überzieht. Oder indem sie Anzeigenkunden unter Druck setzt. Sogar vor Mord scheint sie nicht zurückzuschrecken. Star-Autorin Anna Politkovskaja wurde im September auf dem Weg nach Beslan vermutlich vergiftet und entging nur knapp dem Tod. Sie wäre nicht das erste Opfer gewesen.
Seit vier Jahren läuft die Untersuchung wegen des Mordes an unserem Ressortleiter Igor Domnikov. Den haben Killer umgebracht.
Oder unser Korrespondent im Gebiet Krasnodar, Sergej Solovkin. Zwei mal hat ein Auftragsmörder auf ihn geschossen. Solovkin lebt jetzt in Deutschland. Zurück kann er nicht. Die Auftraggeber sind noch immer nicht gefunden.
Und bis heute werden mir hunderte von Fragen im Zusammenhang mit dem rätselhaften und plötzlichen Tod unseres stellvertretenden Chefredakteurs gestellt, Juri Schtschekotschichin.
Muratov zeigt auf ein Foto neben seinem Schreibtisch. Ein Mann mit weißen Haaren und tiefen Lachfalten schaut herausfordernd in die Kamera.
Das ist Jura Schtschekotschichin. Er war mein engster Freund. Das ist schwer.
Juri Schtschekotschichin leitete das Ressort für Investigativgeschichten der Novaja Gazeta. Außerdem war er Dumaabgeordneter und arbeitete im parlamentarischen Ausschuß für Korruptionsbekämpfung. Er starb vor gut einem Jahr nach nur einer Woche schwerer Krankheit.
Sein Nachfolger, der 29jährige Roman Schlejnov, ist ein schlanker zurückhaltender Mann in braunem Cordanzug. Gern zeigt er das Büro seines ehemaligen Chefs: Ein fensterloser, stickiger Raum, voll gestopft mit Akten.
Juri Schtschekotschichin hat zuletzt an einer Geschichte über Geldwäsche und Waffenhandel recherchiert. Auch die Präsidialverwaltung war darin verwickelt. Wir wissen bis heute nicht, woran Schtschekotschichin gestorben ist.
Roman Schlejnov verschränkt die Arme, lehnt sich an die Wand. Auch ihn interessiert vor allem Korruption, und zwar auf höchster politischer Ebene.
Teilweise liegen diese Fälle schon ein paar Jahre zurück. Korruption kettet die Beteiligten eng aneinander. Wenn einer mehrere Straftaten begangen hat, aber alle Verfahren gegen ihn eingestellt wurden, und der Betreffende immer noch auf seinem Posten im Staatsapparat sitzt, dann ist er erpressbar. Es gab diverse Strafverfahren, die eingestellt wurden und die bis heute als Druckmittel gegen die Betroffenen eingesetzt werden können. Ich glaube, das ist sogar der wesentliche Machtmechanismus, mit dem Putin den Staat unter Kontrolle hält.
Schlejnovs Problem ist, dass er solche Vorwürfe nur sehr schwer belegen oder beweisen kann. Oft kann er sie noch nicht einmal überprüfen. Eine ausgewogene Berichterstattung, in der beide Seiten zu Wort kommen, sei in Russland so gut wie unmöglich, meint der Journalist.
Du rufst irgendwo an und willst eine Stellungnahme, als Gegenstimme zu anderen Äußerungen und Zitaten. Aber es passiert das genaue Gegenteil. Die Leute versuchen, das Erscheinen deines Artikels zu blockieren. Und sei es durch Druck auf deine Bekannten, die dann zu dir kommen und sagen: Lass das mal besser mit der Veröffentlichung...
Schlejnov geht in die Bar. Im Fernseher läuft NTW. Der einst unabhängige Sender gehört heute dem Staatskonzern Gasprom und einer Sankt Petersburger Bank. Die verfügt angeblich über enge Verbindungen zum politischen und persönlichen Umfeld Vladimir Putins. Seit der Übernahme des Senders bietet NTW vor allem seichte Unterhaltung. Alle paar Minuten kündigt eine Vorschau eine neue Reality-Show an. Der Titel dies mal: "Mein dicker, widerlicher Bräutigam".
Hinter dem Tresen bereitet Stalina Uspenskaja die Vorspeisen für den Mittagstisch vor: Tomaten mit saurem Hering, halbe Eier in Senfsoße, Wurströllchen mit Krautsalat.
Stalina Uspenskaja ist die gute Seele der Redaktion.
Das hier ist keine Kantine, sondern eine Bar. Wir reden mit jedem Journalisten, der hier etwas isst. Unsere Zeitung ist die beste. Und die progressivste. Wir schreiben die Wahrheit. Wir schreiben, wie es wirklich ist. Ob das noch lange möglich ist, ist schwer zu sagen. Wer weiß, wie sich die Politik entwickelt. Aber noch ist unsere Zeitung wie eine frische Brise. Roma, was möchtest du, mein Junge? Pudding?
Roman Schlejnov nimmt einen Schokopudding mit an den Schreibtisch. Doch bevor er geht, zeigt er auf ein Foto an der Wand. Michail Gorbatschov ist darauf abgelichtet, bei der 10-Jahr-Feier der Zeitung.
Er ist ein langjähriger Freund der Redaktion. Wir haben ähnliche Ansichten. Er hat die Redaktion Mitte der 90er Jahre unterstützt, als wir nicht einmal Räume hatten. Damals hat er uns mit Computern geholfen.
Hier liegt der wunde Punkt der Redaktion. Denn die Novaja Gazeta gehört zwar nicht dem Staat; unabhängig ist sie deshalb aber noch lange nicht. Im Gegenteil: Das Blatt ist auf Sponsoren angewiesen. Fragt man nach Namen, erntet man Schweigen. Sie wollten niemanden gefährden, sagen die Redakteure. Kritiker werfen der Zeitung denn auch vor, sie lasse sich von der Opposition instrumentalisieren. Die Journalisten der Novaja Gazeta würden Geld bekommen dafür, dass sie Regierungsvertreter kritisieren. Roman Schlejnov, Leiter der Investigativabteilung, weist das von sich. Er habe noch nie für einen Artikel Geld genommen.
Mir haben schon sehr viele Leute Geld angeboten. Das kommt ständig vor. Eine meiner ersten großen Recherchen war über den Export von Militärflugzeugen nach Afrika. Auf dem Weg zu der Fabrik, aus der die Flugzeuge verschwunden sind, hat mir jemand von der Staatsanwaltschaft gesagt: Wissen Sie, reden Sie mit dem Direktor der Fabrik, da bekommen sie einen großen informativen und einen materiellen Vorteil. Sie hatten 25.000 Dollar gesammelt, damit ich die Recherche abbreche... Ich habe abgelehnt. Wir haben die Geschichte dann veröffentlicht. Jetzt sind, vielleicht auch dank uns, solche Geschäfte mit Afrika zumindest schwieriger geworden.
Donnerstagvormittag in Nischnij Novgorod. Der Bürgermeister hat zum Pressegespräch eingeladen, wie jede Woche. Einen Anlass gibt es nicht. Nischnij Novgorod liegt an der Wolga, eine knappe Tagesreise südöstlich von Moskau. Unter dem progressiven Gouverneur Boris Nemzov war es einmal ein Zentrum der Reformen, doch mittlerweile regieren hier wieder Kommunisten. Der Bürgermeister ist parteilos und damit eine Ausnahme. Bei den Journalisten ist er sehr beliebt.
Natascha Odinzova gibt ihre Jacke an der Garderobe ab und geht mit ihrem Kameramann hinauf in den dritten Stock. In Strassenbekleidung darf man nicht zum Bürgermeister. Eilig kämmt sie sich noch einmal das lange schwarze Haar. Natascha ist 25 und einer der Stars von NNTW, dem Nischnij Novgoroder Fernsehen. Es gehört zu hundert Prozent dem Regionalparlament.
Heute machen wir einen Beitrag für die Nachrichten. Das Hauptthema wird der Beginn der Heizperiode sein. Ich soll den Zuschauern erklären, welche Häuser schon beheizt sind, welche noch nicht, ob die sozialen Einrichtungen dabei sind, und wie lange sich das ganze noch hinzieht, denn draußen ist es ja schon ziemlich kalt...
In Russland hängen fast alle Wohnhäuser und öffentlichen Gebäude an der Fernwärme. Der Beginn der Heizperiode sorgt alle Jahre wieder für Aufregung, weil nicht überall rechtzeitig mit dem Heizen begonnen wird. Bei Natascha zuhause ist es noch kalt, bei Aljoscha, dem Kameramann, dagegen schon warm.
Bis zum Beginn des Pressegesprächs bleiben noch zehn Minuten Zeit. Immer mehr Journalisten versammeln sich im Vorzimmer. Schnell wird es eng.
Jaroslav Gunin, auch er erst Mitte 20, arbeitet für eine regionale Nachrichtenagentur. Das Thema Meinungsfreiheit beschäftige in Russland jeden, meint Jaroslav. Er möchte das aber nicht an der Berichterstattung über Beslan festmachen. Im Ausland war der russischen Regierung und den russischen Journalisten vorgeworfen worden, sie hätten während der Geiselnahme im nordossetischen Beslan bewusst Fakten zurückgehalten. So sprachen die russischen Medien lange Zeit von etwa 300 Geiseln, obgleich sich jeder ausrechnen konnte, dass es tatsächlich an die tausend Menschen waren, die mehrere Tage in der Schule gefangen gehalten wurden. Politiker und Journalisten hätten das Leben der Geiseln damit erst recht gefährdet, so der Vorwurf. Jaroslav wehrt ab.
Meine Kollegen waren in Beslan. Sie haben gut gearbeitet. Sie haben direkt per Mobiltelefon weitergegeben, was sie gesehen haben. Es gab einige Einschränkungen, aber gerade im Fall von Beslan waren die nötig. Denn es hätte geschadet, bekannt zu machen, wo sich welche Truppen befinden.
Was aber die Meinungsfreiheit insgesamt betrifft: Die gibt es in Russland nicht. Die Rechte von Journalisten sind bei uns stark eingeschränkt.
Bei uns in Nischnij Novgorod gibt es Medien, die gehören dem Gouverneur, und es gibt Medien, die gehören dem Gebietsparlament. Der Gouverneur und das Parlament sind erbitterte Feinde. Dementsprechend werden die einen Journalisten möglichst nicht zu Veranstaltungen des Parlaments eingeladen und die anderen Journalisten möglichst nicht zu Veranstaltungen des Gouverneurs.
Die anderen scherzen: Für diese Äußerungen werde er morgen abgeholt... Es ist zur Zeit wieder mutig, so offen zu reden. Mitarbeiter russischer staatlicher Medien scheuen die Mikrofone ihrer westlichen Kollegen. Auch unsere Anfrage bei den Moskauer Zentralredaktionen der staatlichen Sender wurden abgelehnt. "Unsere Journalisten geben keine Interviews, sie führen sie", ließ der Nachrichtenchef des kremltreuen Ersten Kanals mitteilen.
Der Bürgermeister von Nischnij Novgorod, Vadim Bulavinov, ist ein Mann mittleren Alters in grauem Anzug und mit sorgsam geföhntem Haar. Er bittet die Journalisten herein und nimmt am Kopfende eines langen Tisches Platz. Unter der Decke hängt eine Kamera. Sie filmt das Geschehen im Büro: Den riesigen schweren Schreibtisch, die russische Fahne, das Foto von Präsident Putin an der Wand, und die etwa 40 Journalisten, die sich auf den Stühlen drängen. Die Daten werden live ins Internet übertragen. Der Bürgermeister ist stolz auf diese neueste Erfindung. Sie soll Offenheit und Bürgernähe vermitteln.
Jaroslav, der Agenturjournalist, will wissen, ob der Beginn der Heizperiode erfolgreich verlaufen sei. Bürgermeister Bulavinov antwortet ausführlich: Nur DREI Tage nach dem offiziellen Beginn der Heizperiode würden SCHON 70 Prozent der Häuser beheizt. Das sei ein gutes Ergebnis. Von einem Erfolg zu sprechen, sei zu früh. Er sei jedoch optimistisch.
Es folgen Gefälligkeitsfragen. Einer erkundigt sich nach den Geburtstagsgrüßen des Bürgermeisters für Präsident Putin.
Natascha eilt zurück in die Redaktion. Der Kameramann verschwindet kurz im Technikraum. Sie ist zufrieden mit dem Termin beim Bürgermeister. Mit ihrer Arbeit ist sie es nicht.
Aljoscha hat mir einen Kassettenrekorder von zuhause mitgebracht. Ich lerne Englisch, mit Sprachkassetten. Ich will weg von hier. In Europa gibt es viele russischsprachige Fernsehsender. Dort will ich arbeiten.
Hier verdient man nichts, und ich habe keine Möglichkeit, mich zu verwirklichen. Ich glaube, ich kann mehr, als ich hier zeigen kann.
Der Beginn von Glasnost und Perestroika war auch der Anfang des kritischen Journalismus in Russland. Und der stieß damals auf ein großes Echo. Die Menschen standen Schlange vor Zeitungsständen und Buchhandlungen, um die Berichte und Reportagen über die dunklen Seiten des Sowjetregimes zu lesen. Heute scheint es, als seien die Russen übersättigt. Das Interesse an politischer Information ist erlahmt. Umsatz wird mit Unterhaltung gemacht. Vor allem - mit Krimis.
Eine der meist gelesenen Krimiautorinnen ist Tatjana Ustinova. Die 36jährige wohnt in einem Vorort von Moskau, in einem gemütlichen Einfamilienhaus am Rande einer Waldsiedlung. Im Garten blühen Astern. Der Apfelbaum ist schon fast kahl. Eine schwarze Katze schleicht um den Wohnzimmertisch. Die Mutter serviert Käsebrote und Tee in blauen Porzellantassen.
Tatjana Ustinova trägt Jeans, Pulli und einen Kurzhaarschnitt. Aufmerksam blickt sie durch ihre markante schwarze Hornbrille. Schon mit ihrem ersten Krimi "Personalnyj angel", "Der Schutzengel", landete Tatjana Ustinova einen Bestseller. Die junge Katerina, kreativer Kopf einer Public-Relations-Agentur, erhält den Auftrag, den Wahlkampf des Oligarchen Timofej Kolzov zu betreuen. Kolzov will Gouverneur von Kaliningrad werden. Da er über kein großes Charisma verfügt, kann das nur mit Hilfe einer glänzenden PR-Kampagne gelingen. Katerina macht sich an die Arbeit. Auf ihren Rat hin erteilt Kolzov Bauaufträge für Schiffe und schafft so Arbeitsplätze. Mit Hilfe von Mittelsmännern zettelt er einen Bandenkrieg in der Kaliningrader Drogenmafia an. Der zeigt die Hilflosigkeit der Polizei und wirft schlechtes Licht auf Kolzovs Gegner, den amtierenden Gouverneur. Wie erwartet, springen die Medien voll auf das Thema an. Doch auch der Gegenkandidat hat ein PR-Team. Es beginnt ein regelrechter Medienkrieg. Tatjana Ustinova nimmt zum Lesen die Brille ab.
Das Hauptziel war erreicht. Die Zeitungen schrieben gierig über den Bandenkrieg im Kaliningrader Gebiet und über die übliche Machtlosigkeit der Polizei; über Bomben, die in irgendwelchen Mercedessen versteckt wurden, und über die sogenannten "Personen kaukasischer Nationalität", die in der Nähe der Explosionen gesehen worden waren.
"Die armen Kaukasier", dachte Katerina, als sie die Zeitungen las. "Immer werden ausgerechnet sie zur falschen Zeit am falschen Ort gesehen."
Die Journalisten, die sie auf ihrer Seite wusste, besserten ihr Gehalt auf, indem sie der Welt von der Furchtlosigkeit Timofej Kolzovs erzählten. Sie berichteten, ein Fingerzeig von ihm reiche aus, um sämtliche kriminelle Lokalgrößen derart in Panik zu versetzen, dass sie sich zu wüste Schießereien hinreißen ließen.
Timofej Kolzov nahm nur noch nach perfekter Vorbereitung an Live-Sendungen teil. Sie hatten eine Fernsehausrüstung gekauft und zwei Studios: Eins in Moskau und eins in Kaliningrad.
Zeitungen, Fernsehen und Radio berichteten über Timofej Kolzovs Kampf gegen die Drogen, über Timofej Kolzovs Frau, über Timofej Kolzovs Fabrik und über Timofej Kolzovs Stadt.
Unbegreiflich war nur eins: Warum die andere Seite schwieg.
Das entspricht fast vollständig der Wahrheit. Natürlich ist auch ein bisschen Dichtung dabei, schließlich ist das ein Krimi. Aber abgesehen davon weiß ich, dass es in Russland alle Arten von schwarzen und grauen PR-Techniken gibt, dass es Journalisten gibt, die gegen Geld bestellte Artikel schreiben oder sogar ganze Werbekampagnen organisieren und sich damit ein kleines Vermögen verdienen. Bestellte Artikel oder Beiträge hat es auch unter Jelzin schon gegeben, als ich beim Fernsehen war. Das war an der Tagesordnung.
Schwarze PR - so nennen russische Journalisten jene Artikel, die auf Bestellung und gegen Bares geschrieben werden. Tatjana Ustinova zündet sich eine lange, extra dünne Zigarette an. Sie kam Anfang der 90er Jahre zum Staatsfernsehen. Erst war sie Reporterin im Morgenprogramm. Wenig später wechselte sie in den Apparat von Präsident Boris Jelzin und berichtete aus dem Kreml. Noch unter Jelzin stieg sie aus dem politischen Journalismus aus und begann, Krimis zu schreiben. Jetzt sitzt sie bereits an ihrem achtzehnten Buch. Viele ihrer Romane spielen im Politiker- und Journalisten-Milieu.
Die andere Seite, das Wahlkampfteam des noch amtierenden Gouverneurs, schwieg hartnäckig. Und sehr bald, nachdem der Rausch über die Siege Timofej Kolzovs in den ersten gekauften und objektiven Meinungsumfragen verflogen war, wurde klar, dass die andere Seite mit Bedacht schwieg.
Der Leiter der gegnerischen Kampagne hieß Grinja Ostrovoi. Grinja Ostrovoi war eine Berühmtheit. Unter Journalisten und PR-Leuten kursierten Legenden über ihn. Er galt als Spezialist für "schwarze" Wahlen und stand im Ruf, auch noch dem aussichtslosesten Kandidaten zum Sieg verhelfen zu können. Seine Taktik bestand vor allem darin, den Konkurrenten in den Schmutz zu ziehen.
Katerina kannte Grinja gut, und sie wartete nur darauf, dass er irgendwo in Erscheinung treten würde. Und als es dann geschah, sah es so aus, als würde Grinja ihre monatelange Arbeit im Handstreich zunichte machen.
Allein im März wurden Katerina drei Interviews mit Timofej Kolzov im landesweiten und zwei im Lokalfernsehen abgesagt. Kolzovs Gegenkandidat, der amtierende Gouverneur, ließ ihn einfach ins Leere laufen. Er trat vor den Mitarbeitern der Staatsanwaltschaft auf und lobte sie für ihre glänzende Arbeit im Kampf gegen Drogen - sowohl in der Presse, als auch im Fernsehen. Am Ende glaubten alle, dass es die Staatsanwaltschaft unter direkter Leitung des Gouverneurs gewesen war, die gegen die Drogenbanden gekämpft hatte - und nicht Timofej Kolzov.
Die Lokalzeitungen schrieben, dass auf dem Grundstück von Kolzovs Strandvilla eigentlich ein Sanatorium für die Opfer von Tschernobyl hatte errichtet werden sollen. Und sie deuteten sogar nebulös an, dass Kolzov die Tschernobyl-Gelder eingestrichen hatte.
Katerina magerte ab, wurde hohlwangig und begann, schlecht zu schlafen.
Ustinova legt das Buch zur Seite.
Dass die Medien heute ihre Rolle so spielen können, ist meines Erachtens das Ergebnis des ungestümen und krankhaften Wachstums der Medienlandschaft.
Jedes Kind muss, um erwachsen zu werden, bestimmte Entwicklungsstufen durchmachen: Einem Kleinkind bringen wir erst bei, zu sitzen, dann zu laufen, sich nicht mit Brei zu bekleckern, das Spielzeug nicht rumzuschmeißen... Und dann besteht Hoffnung, dass, wenn es groß wird, ein anständiger Mensch aus ihm wird, der sich das Essen nicht mit den Händen in den Mund stopft und der die Füße nicht auf den Tisch legt.
Es ging alles viel zu schnell. 1991 - das ist noch gar nicht lange her - lebten wir plötzlich in einem ganz anderen Land. Dort herrschten plötzlich ganz andere Gesetze: Es ließ sich auf einmal viel Geld verdienen, wenn man für jemanden bestimmte Artikel schrieb oder bestimmte Fernsehbeiträge drehte. Die Journalisten berauschten sich an der Macht der Medien. Jeder bildete sich ein, er könne irgendwie den Lauf der Welt mitbestimmen.
Journalisten sind doch sehr nahe am Olymp, besonders die politischen Journalisten. Und in bestimmten Momenten fragten sich eben viele von ihnen: Warum eigentlich nicht? Wenn ein Politiker einen bestimmten Posten haben will, liegt doch der Gedanke nahe: "Hm, ich schreib jetzt mal dies oder das über den, und dann kriegt der den Posten nicht." Da sinken die Hemmschwellen beträchtlich.
Der Krimi geht natürlich gut aus. Der Oligarch Timofej Kolzov überlebt einen Mordanschlag, und er gewinnt nicht nur die Wahl zum Gouverneur des Kaliningrader Gebietes, sondern er heiratet auch noch Katerina, die beiden werden glücklich und bekommen zwei Kinder. Dass es im richtigen Leben mit den russischen Medien ebenso positiv ausgeht, glaubt Ustinova eher nicht.
Ich habe Angst vor dem Wort Zensur. Ich bin 36, und ich erinnere mich sehr gut an die Zeit, als der einzige Bestseller in unserem Land ein Buch von unserem Generalsekretär Leonid Breschnev war. Und es gab eine einzige Zeitung mit dem Namen "Pravda", "Die Wahrheit". Das war schrecklich. Es wäre furchtbar, wenn es in diese Richtung zurückginge. Wenn wir gemeinsam in einem Staat leben, dann haben wir auch das Recht zu erfahren, was in diesem Staat passiert.
Wir leben doch nicht im Irrenhaus. Und wir brauchen keinen Chefarzt, der bestimmt, was uns aufregt und was nicht. Wir sind alle erwachsene Leute, und wir sind für uns selbst verantwortlich, für unsere Kinder, für unseren Beruf - und am Ende auch für unser Land.
Im Hörsaal der renommierten Journalistischen Fakultät der Staatlichen Universtität in Moskau verschandeln dicke Heizungsrohre die hohen Wände. Putz bröckelt. Etwa vierzig Studenten sitzen an unbequemen Sperrholztischen. Thema der Vorlesung ist das Zeitungsinterview. Einige schreiben mit, andere sind mit ihren Mobiltelefonen beschäftigt oder tuscheln. Sie sind im zweiten Studienjahr und gerade mal 17, 18 Jahre alt.
Die Professorin, Maria Lukina, eine blonde Frau um die vierzig in einem modischen blauen Hosenanzug, steht vor einem Laptop und wirft ihre Schaubilder per Videobeamer an die Wand. Eindringlich erklärt sie die Besonderheiten des russischen Presserechts. Dass zum Beispiel Beamte von Journalisten verlangen können, dass die Fragen drei Tage vor dem Interviewtermin schriftlich eingereicht werden. Und dass im Gegenzug Journalisten eine schriftliche Begründung einfordern können, wenn die Beamten Interviewanfragen ablehnen.
Nach der Vorlesung nimmt die Professorin ihren Laptop unter den Arm und geht auf den Flur.
Meine Freunde unter den Dozenten und ich fühlen eine gewisse Ausweglosigkeit. Wir reden hier zwar darüber, wie die Presse in einer demokratischen Gesellschaft funktionieren muss. Aber sobald die Studenten in die Redaktionen gehen, sobald sie mit offiziellen Quellen arbeiten wie etwa mit dem Pressedienst des Präsidenten, erleben sie eine große Entäuschung. Ich kann den Studenten nur eine Art Leitfaden vermitteln, das Handwerk. Damit müssen sie dann zurechtkommen. Sie müssen ja irgendwie an Informationen herankommen.
Maria Lukina hat selbst an der Staatlichen Universität ihren Abschluss gemacht. Das war 1980.
Das war schrecklich. Ich erinnere mich an rein gar nichts, was uns beigebracht wurde. Mir fiel es nach dem Abschluss sehr schwer, im Journalistenalltag zurecht zu kommen. Als dann aber 1985 die Perestroika begann, fing für uns Journalisten eine traumhafte Zeit an. Das waren sieben glückliche Jahre. Ich glaube, so viel Freiheit, wie wir damals hatten, gibt es heute in keinem westlichen Land. Wir waren völlig ohne jede Zensur.
Heute ist Lukina stellvertretende Dekanin der Fakultät. Die Universität gelte als Hort demokratischer Prinzipien, sagt Lukina, und die Mehrheit der Dozenten versuche, diese Linie auch heute beizubehalten.
Lukina geht in ihr Büro. Auf dem Flur hängt eine Wochenzeitung aus. "Der Journalist" wird von Studenten gemacht. Die nächste Ausgabe ist gerade in der Schlussphase. Zwölf Studenten sitzen im Redaktionsraum an Computern. Nadja und Mascha suchen Fotos im Internet. Mascha hat für die Ausgabe einen Artikel über Putin geschrieben.
Besser gesagt: Über die Widersprüche in Putins Auftritten. Mal sagt er, wir leben in einer Übergangswirtschaft; vor 20 Tagen hat er noch gesagt, Russland sei eine Marktwirtschaft. Ich nehme Ausschnitte aus den beiden Auftritten und zeige, dass er sich selbst widerspricht.
Ihre Freundin Nadja interessiert sich dagegen mehr für Kultur. Sie hofft, über Redaktionspraktika den Einstieg in eine unabhängige Zeitung zu schaffen.
Wir alle hier meinen, dass mit den Medien bestimmte Dinge passieren, die nicht sein sollten. Dauernd werden irgendwelche Sendungen abgesetzt. Und bei den Zeitungen gibt es redaktionelle und personelle Eingriffe. Bisher betrifft mich das nicht so sehr. Ich versuche, darüber nicht zu sehr nachzudenken...
Die beiden wenden sich wieder dem Computer zu. In der Cafeteria herrscht unterdessen Hochbetrieb. Zwei Frauen verkaufen Fladenbrote, gefüllt mit Krautsalat und einem Würstchen. Im Fernseher laufen Musikvideos.
An einem der Tische beugt sich Regina über ein Manuskript. Der Tee in ihrem Plastikbecher ist schon kalt geworden. Regina ist im dritten Studienjahr und möchte Radiojournalistin werden. Das Studium sei zu theoretisch, klagt sie. Deshalb hat sie beim russischen Staatsradio als freie Mitarbeiterin gearbeitet. Ein halbes Jahr hat sie das ausgehalten.
Ich wollte dort lernen, wie man Reportagen macht. Ich habe über typische Lokalthemen berichtet. Politik kam fast gar nicht vor. Ich weiß nur, wo ich nicht arbeiten möchte: Ich will kein Mikrophonhalter der staatlichen Sender sein. Ich will keine langweiligen Nachrichten machen. Ich kann bisher einfach nichts finden, wo ich wirklich arbeiten möchte.
Regina rührt in ihrem Tee, packt das Manuskript zusammen.
Als wir uns für den Studienplatz beworben haben, mussten wir angeben, warum wir Journalisten werden wollen. Ich habe erst neulich daran gedacht, was ich damals geschrieben habe, und ich musste lange lachen. Ich habe tatsächlich geschrieben, dass ich der Gesellschaft dienen will. Ich wollte die Leute informieren und all das... Ich war wirklich idealistisch... Ehrlich gesagt, ist mittlerweile ziemlich viel davon verflogen. Obwohl, wenn ich professionelle Arbeit sehe, wenn ich schöne Stimmen kluger Leute höre, die wirklich interessante und wichtige Dinge sagen und denen man zuhören möchte - dann kommt ein bisschen was von meinem Idealismus zurück.
Genau darauf setzt Maria Lukina, die stellvertretende Dekanin. Sie ist auf dem Weg zur nächsten Vorlesung.
Es ist vielleicht nicht patriotisch, das zu sagen, aber mir scheint, unsere Journalisten sind nicht so mutig und nicht so professionell ausgebildet wie im Westen. Ihnen ist das Renommee wichtiger. Und sie haben immer gleich die Zensur im Kopf. Dabei vergessen sie, für wen sie eigentlich da sind: Für den Zuhörer, der wissen soll, was geschieht.
Vielleicht tragen die jungen Leute dazu bei, dass die Journalisten in Russland mutiger werden und sich nicht mehr so unterordnen. Ich hoffe das.
Zu fünft ist das Team von TW-6 Vladimir zum Interviewtermin auf der Datscha des Regionalpolitikers erschienen. TW-6 Vladimir gehörte ursprünglich zu dem gleichnamigen überregionalen Kanal des Oligarchen Boris Beresovskij, einem erbitterten Gegner Vladimir Putins. Als der Sender vor zweieinhalb Jahren geschlossen wurde, behielt die Redaktion in der Provinzstadt Vladimir den Namen einfach bei. Und sie versucht, drei Autostunden von Moskau entfernt, die Programmpolitik des alten TW-6 fortzuführen - gegen alle Widrigkeiten.
Befragt wird heute der stellvertretende Vorsitzende des Regionalparlaments, Alexander Sinjagin, ein Kommunist. Es geht um Änderungen des Wahlgesetzes. Kritiker vermuten, dass die Gesetzesänderungen exakt auf die Bedürfnisse der kommunistischen Partei zugeschnitten sind.
Als das Interview beendet ist, lässt sich Sergej Schedrin, einer der beiden Kameramänner, auf die Rückbank des Kleinbusses fallen. Er zieht die schwarze Daunenjacke aus und schiebt seine Schirmmütze in den Nacken.
Ich bin nicht zufrieden. Wir haben nicht klar gemacht, worum es wirklich geht. Die Leute werden das nicht verstehen. Es ist furchtbar, da redet einer Russisch, in deiner Sprache, aber du verstehst ihn trotzdem nicht. Also, ich habe keine Erklärung gehört, warum sie das Gesetz so verabschiedet haben. Er hat gesagt, sie wollen Gelder sparen. Was hat das damit zu tun? Ich hab' das nicht verstanden.
Sergej ist nicht nur erster Kameramann, sondern auch Journalist, und er leitet die Aktuellredaktion. Vor zwei Jahren hatte er ein Stipendium der Freien Universität Berlin und hat im Reichstag bei Politikerinterviews assistiert. Dass die meisten russischen Politiker nicht reden könnten, sei symptomatisch, sagt Sergej. Sie flüchteten sich in die Expertensprache, weil sie ihre Arbeit im Unterschied zu ihren Kollegen in Westeuropa nicht als öffentlichen Job verstünden.
Bei uns im Parlament finden die Pressekonferenzen in einem Raum statt, in dem der Redner mit dem Rücken zum Licht sitzt. Das ist für uns Kameraleute eine Katastrophe. Seit sechs Jahren bitten wir sie, einen Schirm aufzustellen. Da sollen sie ihre Internetadresse raufschreiben oder sonst irgendwas. Aber die kriegen das nicht auf die Reihe. DAS sind die Beziehungen zur Presse.
Sergej greift nach dem Mobiltelefon. Ein Anruf von NTW aus Moskau. Der Sender hat keinen eigenen Korrespondenten in Vladimir. Wenn etwas passiert, geht der Auftrag an TW-6.
Auf der Fernstrasse ist ein LKW verunglückt, nachts bei Kilometer 215. Angeblich sind vier Tonnen Flüssigkeit ausgelaufen. Eventuell war das Zeug giftig.
NTW will die Bilder bereits in den 16-Uhr-Nachrichten ausstrahlen. Jetzt ist es halb zwei. Das Mittagessen muss ausfallen.
Der Unglückswagen steht noch am Straßenrand, mit geöffneten Tankluken. Zwei Männer kuppeln den Tanklaster an eine Zugmaschine an.
Während Sergej von weitem die Unglücksstelle filmt, nimmt sein Kollege Details auf: Die schmierige Flüssigkeit, die noch immer vom Tankwagen auf den Erdboden tropft; die Lache darunter; die weißen Schaumflocken, mit denen das verseuchte Erdreich abgedeckt wurde. Der Laster war mit dem Hinterrad auf den unbefestigten Seitenstreifen geraten und umgekippt. Mindestens die Hälfte der Flüssigkeit sei ausgelaufen, meint der Fahrer. Neun Tonnen. Was er da transportiert habe, ob es giftig sei, wisse er nicht.
Am Straßenrand wartet Sergej darauf, dass sich das Gespann mit dem Unglücksfahrzeug in Bewegung setzt. Die Kamera liegt auf seiner rechten Schulter. Er hat seine Mütze mit dem Schirm in den Nacken gedreht.
Wie spät ist es jetzt? 14:13? Um 15:40 wird das Material schon in Moskau sein.
Bilder aus erster Hand. Er könne nicht sagen, dass auf ihn direkt Druck ausgeübt werde, meint Sergej. Aber auch er spüre eine schleichende Bedrohung der Glasnost'.
Die Machthaber in den Provinzen sind bemüht, bloss nichts nach außen dringen zu lassen, was eventuell nicht hundertprozentig der Linie des Kreml entspricht. Jetzt hat Putin gesagt: Die Gouverneure sollen ernannt werden. Und sie alle haben zugestimmt, 89 Gouverneure. Das ist eher Selbstzensur als als Zensur. Und die betrifft alle. Das fängt bei der Regierung an und hört bei den Journalisten auf.
Vor allem aber dürfe der Staat keine Medien besitzen, meint Sergej.
Hier passiert eine solche Gehirnwäsche... Es gibt ein geflügeltes Wort, das wäre witzig, wenn es nicht so tragisch wäre. Es stammt von einem Moderator des staatlichen Fernsehens. Er hat gesagt: Wenn es keine Sensation gibt, dann fangen wir mit Putin an. Das ist ein Zitat. Das sagt doch alles.
Die Zugmaschine mit dem Unglückslaster setzt sich in Bewegung. Sergej schaltet die Kamera an. Fünf Minuten später bricht das Team auf. Die Bilder werden nie in Moskau ankommen. Zwar wird sich herausstellen, dass der LKW wirklich Gefahrgut transportierte; dass die ausgelaufene Flüssigkeit Phenol und Formaldehyd enthielt. Auch wird das Team von TV-6 über Kopfschmerzen klagen. Doch die Überspielung der Bilder zu NTW wird nicht zustande kommen, denn der Staatsrundfunk in Vladimir lässt Sergej einfach nicht ins Studio.