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Das Ende von Russland

Wladiwostok, was für ein Name! Synonym für das Unbekannte, schon als Kind staunte man, wenn die Mutter mit dem Finger ganz nach rechts auf die Weltkarte zeigte und erklärte 'schau mal, hier ist das Ende von Russland’. Eigentlich war Wladiwostok immer auch das Ende der Welt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollendeten die russischen Eroberer das Werk, das Iwan der Schreckliche im 16. Jahrhundert begonnen hatte: die Eroberung der Gebiete jenseits des Urals. Sie drangen vor bis ans Japanische Meer und an die Grenzen zu Korea, China und die Mongolei. Um ihre Macht abzusichern, gründeten sie mehrere Städte, darunter am 2. Juli 1860, also heute vor 145 Jahren Wladiwostok.

Von Wolf-Sören Treusch | 02.07.2005
    " In der morgendlichen Dunkelheit taucht zuerst ein heller Lichtkegel, ein riesiger Scheinwerfer auf. Die E-Lok gewaltig, die Waggons viel höher und größer als europäische Züge. Die Einfahrt nach einer Reise quer durch Russland ist unspektakulär, nicht einmal eine Begrüßung per Lautsprecherdurchsage. Als die Türen sich öffnen in Wladiwostok, wird Gepäck herausgereicht. "

    Einmal mit der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau nach Wladiwostok - 9288 Kilometer: ARD-Korrespondent Hermann Krause ist nicht der einzige, der sich diesen Traum erfüllt hat. Jedes Jahr nehmen Tausende aus dem Westen die Strapazen der siebentägigen Zugreise auf sich, um die "Beherrscherin des Ostens", wie Wladiwostok übersetzt heißt, zu besuchen. Der mehrfach umgebaute und frisch renovierte Bahnhof ist das Juwel der Stadt. Ansonsten bestimmen klobige, ungestaltete Wohntürme aus Beton die Szenerie. Über zahllose Hügel steigt die Stadt hinab zum Japanischen Meer.

    " Von einem stillgelegten Fährboot in einer malerischen Bucht dröhnt noch kurz vor Mitternacht amerikanischer Disco-Sound. Jugendliche diskutieren erhitzt über die Vorzüge westeuropäischer Luxusautos. Junge Damen flanieren in neuester Mode am Ufer. Wladiwostok im fernen Osten ist eine Woche nach der Aufhebung der Besuchersperre im Frühherbst 1988 eine lebenslustige, gepflegte und - so widersprüchlich es klingen mag - weltoffene Stadt. "

    Der Journalist Johannes Grotzky war einer der ersten Ausländer, die Wladiwostok wieder besuchen durften. 55 Jahre lang war die Stadt aus Sicherheitsgründen für Ausländer wie für Sowjetbürger geschlossen. Weil hier die sowjetische Pazifikflotte stationiert war, hatte man über Wladiwostok die höchste Sicherheitsstufe verhängt.

    Im Stadtzentrum stehen einige Jugendstil- und Gründerzeitbauten - Wladiwostoks Blütezeit liegt weit zurück. Am 2. Juli 1860 wurde die Stadt als Militärposten in der Wildnis gegründet, die Taiga war so nah, dass im ersten Winter alle Hunde von Tigern gefressen wurden. Aber schon bald entwickelte Wladiwostok einen bescheidenen Wohlstand. Vor allem dank der neugierigen Kaufleute aus aller Welt. Jelena Alexejewa, Leiterin des Heimatmuseums.

    " Aus den Archiven wissen wir, dass das Verhältnis von Russen zu Ausländern fast 50 zu 50 war. Rund 60 Prozent Russen und 40 Prozent Ausländer. Wir können also sagen, eine Megapolis. Um von den Deutschen zu reden: ihr ethnischer Anteil betrug zehn Prozent. Doch beim Güterumschlag und den Investitionen betrug er 90 Prozent. "

    Auch ein Einwanderer aus der Schweiz, ein gewisser Juli Iwanowitsch Brynner gehörte zu den Pionieren von Wladiwostok, der Vater des späteren Hollywood-Stars Yul Brynner.

    Um 1900 herum war Wladiwostok eine florierende Handelsmetropole, "Neues Amerika" wurde das Land am Pazifik genannt, futuristische Postkartenmotive, die eine Hängebrücke über der Bucht zeigten, machten die Runde. Dann kam der erste Weltkrieg und mit ihm die Rote Armee, Wladiwostok wurde zu einer Stadt der Soldaten, wurde abgeschlossen.

    Nach einem Besuch in den USA 1959 sprach Kremlchef Nikita Chruschtschow vollmundig davon, Wladiwostok zum sowjetischen San Francisco machen zu wollen, aber erst 'Glasnost’ und 'Perestroika’ gaben der Stadt eine neue Perspektive.

    Seitdem Wladiwostok wieder offen ist, sind vor allem die Chinesen gekommen. Als billige Arbeitskräfte, aber auch als spendable Besucher. Spielkasinos und blonde Europäerinnen warten auf sie auf russischer Seite. Etwa 2.000 Chinesen, heißt es, überschreiten mittlerweile täglich die Grenze. Jelena Alexejewa:

    " China erkennt sozusagen bis heute unser Recht auf dieses Gebiet nicht an. Die meinen, ihrem Status nach gehöre das alles ihnen. Mir wurde einmal die Frage gestellt, und zwar ziemlich aggressiv: 'wie stehen Sie dazu, dass Sie auf unserem Gebiet leben’? Und wie ich im Lauf der Führung nachwies, dass wir tatsächlich auf unserem eigenen Gebiet leben, da war es drei Sekunden später rings um mich leer. "

    Japanische und koreanische Automarken bestimmen das Straßenbild, viele Bewohner Wladiwostoks verdienen ihr Geld im Autohandel. Die in großen Teilen ausgemusterte Pazifikflotte der Sowjetarmee, die im Hafen vor sich hin rostet, geht als Schrott in den Export nach China und Südkorea. Wladiwostok möchte wirtschaftlicher Knotenpunkt sein zwischen Asien und Europa, aber noch ist es ein weiter Weg. Seinen Bewohnern ist es egal.

    " Warum immer diese Eile. Und hier ist sowieso das Ende von Russland, jetzt kommt nur noch der Ozean. "