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Das Erbe des Manns

Ein Mann zu sein ist einfach? In Frido Manns Rückblick auf sein Enkeldasein des großen Thomas finden sich achterbahnartige Höhen und Tiefen, die nur erahnen lassen, wie schwer das Erbe des Namens sein muss. "Inzwischen lebe ich friedlich mit der Erinnerung an einen liebevollen Großvater Thomas Mann, auch wenn er mich einst in "Doktor Faustus" literarisch ermordet hat," schreibt Frido auf seiner Webseite.

Von Florian Felix Weyh | 31.08.2008
    Jeder Mann ist Sohn, jede Frau Tochter. Daraus folgert, dass der Mann zugleich Sohn eines Sohnes sein muss, die Frau Tochter einer Tochter ... und so weiter, in der Ahnenreihe verdünnt, bis man das kaum mehr wahrzunehmen vermag. Im Leben eines Normalsterblichen verliert dieser Umstand Jahr um Jahr an Bedeutung. Irgendwann lebt man die eigene Biografie, statt die der Eltern oder gar Großeltern fortzusetzen und vergisst, woher man kommt. Wenn man vergessen darf:

    "Von meinen Lehrern werde ich insgesamt akzeptiert. Einzig der für mich unerklärlichen Abneigung des jungen, temperamentvollen und autoritären Lateinlehrers fühle ich mich geradezu ausgeliefert, sodass ich mit Angst jeder Lateinstunde entgegenblicke. Mein Schwatzen mit dem Banknachbar beendet der betreffende Lehrer einmal mit dem keifenden Ausruf: "Jetzt sei mal endlich still, Thomas Mann!""

    Im Wortsinn ist dieser Rüffel falsch, in der Kränkungsabsicht hingegen ein Volltreffer: Eine Generation überspringend, wird hier der Enkel mit der Bürde eines großen Namens befrachtet, damit ihm sein Leben lang nicht entfalle, woher er stammt und welche dynastischen Forderungen auf ihm ruhen. Freilich wächst dieser Enkel beim Großvater auf und sprengt damit die übliche Generationenfolge, die im Fall der Familie Mann so ihre Tücken hat. Enkel Fridos Vater Michael versagt nämlich in der Rolle des Vaters komplett, weil ihm schon die des Sohnes schwer zu schaffen macht. Genauer: Er verweigert sich der Vaterrolle aktiv und verfolgt zusammen mit seiner Frau egozentrische Lebenspläne fernab des Kraftzentrums Thomas und Katja Mann. Denn wo Kraft ist, lauert auch Vernichtung - alle Mann-Kinder, mit Ausnahme von Erika, haben das so empfunden und ihre Konsequenzen daraus gezogen. Die zweite Generation - erschreckend ausgedünnt, sechs Kinder zeugten gerade mal zwei Enkelinnen und zwei Enkel -, diese zweite Generation hingegen übt sich in Mimikry - oder Identifikation, je nach Wertung des folgenden Vorfalls. Vierzehn Jahre alt ist Frido Mann:

    "Kilchberg, Weihnachtstage 1954. An einem der gemeinsam mit meinem Großvater verbrachten Nachmittage übe ich mich mit seiner Hilfe und zu unserem großen beiderseitigen Vergnügen darin, seine Unterschrift nachzuahmen. Der Nachname klappt eigentlich schon ganz gut. Das von Kringel zu Kringel schweifende und steil herabfallende hohe "M" und dann das sich anschließende eckige "a" und das zweifache "n". Den Vornamen muss ich allerdings sehr viel länger üben, besonders die kunstvoll ineinander verhakten Buchstaben "T" und "h" am Anfang. Aber das Allerschönste folgt am Schluss: Die Unterstreichung des vollen Namens. Der gegen die leichte Abwärtsneigung sowohl des Vor- als auch des Nachnamens leicht aufsteigende und sich dann bogenförmig dem Geschriebenen zuneigende Strich, der dem Namen seine letzte Stütze und Gültigkeit verleiht. Gesagt, getan. Mit fröhlichem Schwung wird unter Großvaters Unterschrift der Schlussstrich gezogen. "

    Kein Schlussstrich, Beginn einer Achterbahnfahrt, genannt eigenes Leben. Thomas Mann stirbt, als Frido fünfzehn Jahre alt ist, und er dem Großvater kurz zuvor noch etwas Selbstgeschriebenes übergeben hat. Man wittert förmlich die Gefährdung, denkt an die unglückliche Tante Monika, deren beachtliche poetische Lebensleistung vom Vater nie anerkannt wurde, und natürlich an den Onkel Klaus, dessen eigentliche Todesursache - "Herzschlag" hatte man dem Kind Frido einst erklärt - erst in jenen Tagen offenbart wird: Suizid.

    "Warum hat er sich das Leben genommen?" Meine Mutter: "Weil er zu schnell geschrieben und nichts gelernt hat." Das muss wieder entschlüsselt werden. Es ist die Zeit, in der mein Vater seine Bratsche an den Nagel hängte, um durch ein solides Universitätsstudium, möglichst weit weg vom Europa seines Vaters, in den USA, "etwas zu lernen". Diese Warnung galt auch mir. Ich hatte zu dieser Zeit angefangen, Sonatensätze zu komponieren und Romanfragmente zu produzieren. "

    "Herkunft und Talent", könnte man die beiden Menetekel nennen, die sich schon früh über Frido Manns Leben zusammenballten. Beide zunächst positive Attribute: Wer wollte als Kind nicht einen berühmten Namen tragen und in auskömmlichem Wohlstand leben, der eine Berufswahl gemäß den Forderungen des Talents und nicht den Erfordernissen des Broterwerbs erlaubte? Und wer hätte schon im Ernst etwas gegen die Leichtigkeit einzuwenden, die einem eine spezielle Begabung schenkt? Vom Vater Michael erbt Frido die Musikalität, vom Großvater den scharfen, mit unermüdlicher Wissbegier gepaarten Intellekt. Nach dem Abitur studiert er zunächst Musik, doch das genügt dem unruhigen Geist nicht. Ein spirituelles Erweckungserlebnis als Korrepetitor beim "Parsifal", gepaart mit einer unglücklichen Liebe zu einer strengen Katholikin, treibt ihn in die Arme der Kirche. Zwar will er nie ein Priester Roms werden, doch promoviert er in Theologie, schlägt die wissenschaftliche Laufbahn beim berühmten Karl Rahner ein - doch springt kurz vor einer drohenden eigenen Lehrstuhlberufung ab und beginnt noch einmal von vorne.

    Nun schreibt sich Frido Mann in Psychologie ein, arbeitet in der Psychiatrie, habilitiert sich unter halb erstaunlichen, halb grotesken Umständen in DDR der 70er-Jahre - der Schweizer Pass macht's möglich -, erhält nach kaum verwunderlichen Querelen einen Lehrstuhl in Westdeutschland ... aber das genügt ihm auch nicht. Er immatrikuliert sich für Medizin, vollendet diese dritte Ausbildung allerdings nicht mehr, weil eine Passion an die Tür klopft - jene, die schon in der Pubertät stürmte und drängte: das Schreiben. Wo man hinschaut, Talent, Talent, auch wenn die ersten Publikationen vom Literaturbetrieb verschmäht in eher randständigen Verlagen erschienen. Früher hätte man Frido Mann einen Götterliebling genannt. Doch bescheren Götter ihren Günstlingen solche Eltern?

    "Im Vergleich zu meinem Großvater oder zu Golo erlebe ich meinen Vater im Grunde wie ein riesiges Kind mit völlig unberechenbaren und daher sehr anstrengenden, extremen Stimmungsschwankungen. Er leidet sehr deutlich unter seiner eigenen Zerrissenheit und darunter, sich selbst so wenig unter Kontrolle zu haben. "

    ... schreibt Frido Mann, inzwischen 68, im Abstand der Jahre über seinen Vater. Auch die Mutter hinterlässt keinen sehr sympathischen Eindruck:

    "Ihre Bestrafungs- oder Androhungsmethoden zeichnen sich durch besondere, angsterzeugende Subtilität aus. Schon fast ein Ritual, vor dem ich mich jedes Mal fürchte, ist es, wenn sie abends im Bad meine beschmutzte Unterhose entdeckt, das Schiebefenster öffnet, die Hose hinausstreckt und sagt: "Jetzt zeige ich deine Bäh-Hose dem lieben Gott im Himmel."

    Doch, wie gesagt, Frido Mann entrinnt einer anzunehmenden Erziehungshölle, weil die Eltern ihn und den Bruder Tony frühzeitig den Anverwandten übergeben; selbst eine Adoption durch Elisabeth Mann-Borgese steht zeitweilig zur Debatte. Umso verwunderlicher, dass eben jene Rabeneltern Jahre später ein indisches Findelkind adoptieren, zu dem der "Bruder" Frido schon deswegen keine Beziehung entwickeln kann, weil zwischen zwei Besuchen im kalifornischen Elternhaus achtzehn Jahre liegen. Die Eltern empfangen, wenn überhaupt, ihre leiblichen Kinder nur an neutralen Orten in Europa. Selbst diese Distanz schützt Vater und Sohn nicht vor einer jahrlangen Feindschaft, die erst kurz vor dem möglicherweise suizidalen Tode Michael Manns aufgehoben wird. Bezeichnenderweise spielt da wieder die nächste Generation die Rolle des Krampflösers. So wie einst Frido auf dem Schoße Thomas Manns Unbefangenheit ausstrahlte, tut das nun Fridos Söhnchen Stefan bei Michael Mann. Und siehe: dessen Herz geht auf.

    "Cher ami - Es war gut und freundlich, dass Du einmal persönlich von Dir hören ließest, während wir uns hier Deines Sprösslings erfreuen. Er ist ja unheimlich intelligent, begabt und lieb. - Der Golo hielt immer meine Söhne für eine beneidenswerte Lebensleistung - ich wusste es besser. Nun bin ich aber so weit, dasselbe von Deinem Sohn zu halten. Von Deinen anderen Leistungen weiß ich allzu wenig, worüber Du Dich mit Recht beklagst und diesen Zustand beenden willst. Du überschätzt ihn aber in seiner Negativität. Die Distanz, zu der wir uns entschieden haben, sollte kein störender Punkt in Deinem Leben sein. Vater und Söhne sollten sich viel öfters aus dem Wege gehen, als dies gemeinhin der Fall ist. Und mir scheint, wir haben unsere Sache relativ gut gemacht. Lass doch mal wieder von Dir hören, von Deiner Arbeit und Deinen Problemen. Eben höre ich Stephans Stimmchen aus dem Swimmingpool, sehr wohlig. Aber vorgestern Abend hatte er Heimweh; und zwar kam der Anfall, weil, da, während er schon fest geschlafen, ich einen Moment sein Zimmer betrat, er geglaubt hatte, es sei sein Vater ... Mythische Verwirrung. Lies Kleists Amphytrion! Gruß Papa"

    Was für ein Festmahl für Familientherapeuten, Psychoanalytiker, Biografie-Vampire! Allein das vereinnahmende väterliche "Wir" im Satz von der Entscheidung zur Distanz - wer hat denn da für wen entschieden? - spricht Bände und lädt zu einem Diskurs über Schuld und Blindheit ein, so wie der Amphytrion-Vergleich schnurstracks ins Freudsche Universum führt. Doch mit der Psychoanalyse hat es der Gesprächstherapeut Frido Mann nicht so sehr, und das Verblüffendste an seinem autobiografischen Bericht ist dessen Deutungsenthaltsamkeit. Fast könnte man dies für einen Trick des von der Kritik bislang eher gebeutelten Autors halten:

    "Dass ich heute Schriftsteller bin, nehmen mir viele Menschen übel."

    ... schallt es einem bereits von seiner Webseite entgegen, und besondere Fairness erwartet Frido Mann vom Literaturbetrieb offensichtlich nicht mehr. Was läge da näher, als die Kritiker ins offene Messer gewagter, klischierter, gar an den Haaren herbeigezogener Interpretationen laufen zu lassen, für die die Mannsche Familiensaga immer gut ist? Frido Manns "Achterbahn" enthält diesbezüglich etliche Fallstricke, selbst wenn ein Kritiker nie die Tatsache vergessen mag, dass sich ein Leben nicht rezensieren lässt, weswegen jede Beckmesserei bei Autobiographien auf ihn selbst zurückfällt. Ja, es gibt so viele Verlockungen, Schlüsse zu ziehen, das fängt schon beim Titel an. Die "Achterbahn" meint nämlich nicht nur Frido Manns Leben, sondern spielt auf eine zentrale Szene vor seiner Geburt an:

    "Frühjahr oder Frühsommer 1940. Ein Vergnügungspark im einige hundert Meilen nördlich von Los Angeles gelegenen San Francisco. Ein seit einem Jahr glücklich verheiratetes, junges Emigrantenpaar, das Anfang des Jahres auf einem Flüchtlingsschiff unversehrt den deutschen Torpedos und Minen im Atlantik entkam und bald an die kalifornische Westküste zog. Das Paar schiebt sich richtungslos durch die Menschenmasse und lässt sich vom Lärm der Drehorgelmusik, von Marktschreiern, Schlangenbeschwörern und Schießbuden betäuben. Die beiden bleiben vor einer Achterbahn stehen. Sie beobachten, wie sich die durchgeschüttelten und benommenen Fahrgäste mit noch käsebleichen Gesichtern aus den Waggons herausschälen. Das junge Ehepaar löst an der Kasse zwei Karten. Der Kassierer blickt etwas irritiert auf den deutlich vorgewölbten Bauch der Frau und schaut den beiden kopfschüttelnd hinterher. Ja, er hat ganz richtig gesehen. Die Frau ist schwanger, hochschwanger."

    Frido Mann beschreibt diesen Vorfall nur und äußert nicht den doch so nahe liegenden Verdacht, dass es sich um einen unbewussten Anschlag auf sein ungeborenes Leben gehandelt haben könnte - umso mehr, als der Vater später exakt in diese Kerbe haut:

    "Vielleicht zwanzig Jahre später erzählt mir mein Vater Michael lachend von dieser Achterbahnfahrt in San Francisco. "Als dich die Mama damals erwartete, waren wir jung und unerfahren" (er war 21, sie 24), um dann, immer noch lachend, hinzuzufügen: "Und darum bist du ja auch so missraten.""

    Wieder ein Schlag unter die Gürtellinie, der so viele Gegenschläge provozieren könnte - jetzt, wo der Sohn das letzte Wort hat! Doch gerade um sich vor diesen Verlockungen zu schützen, die kaum ins Selbstbild einer lebenslang durch Theologie- und Psychologiestudien erarbeiteten Gelassenheit passen würden, errichtet Frido Mann einen literarischen Schutzwall. Dessen Grundbaustein ist verblüffend simpel, doch ungeheuer wirksam. Er lautet: Präsens. Man könnte den Zwilling "Präsenz" gleich mit anfügen, resultiert sie doch aus der Zeitform des Erzählten: Der Lebensweg wird zwar nicht chronologisch, aber durchweg in der Gegenwartsform geschildert. Szene reiht sich an Szene, manchmal durchbrochen von einem erinnerten Dialog, der in Maßen Reflexion zulässt, durch die Redeform jedoch zugleich wieder den Furor des gekränkten Kindes eindämmt: Nie ist Zorn ohne Gegenargument zu lesen. Summa summarum spiegelt das eine außerordentliche Bewältigungsleistung wider, deren wenige analytischen Zugriffe dem eigenen Selbst gelten. Etwa wenn Frido Mann die konkurrenzgeprägte Atmosphäre auf dem Konservatorium beschreibt:

    "Ich merke im Lauf der Zeit, dass ich, selber aus einer Familie voller gegenseitiger Rivalitäten stammend, durchaus anfällig für diese Neigung bin und mich leicht in den Sog dieser wenig partnerschaftlichen und solidarischen Einstellung hineinziehen lasse."

    "Ganz entspannt im Hier und Jetzt" hieß ein Psychobestseller aus den 70ern, und das Prinzip strikter Gegenwartsverankerung scheint seine Meriten zu haben, schützt es doch davor, sich von der Vergangenheit vereinnahmen zu lassen. Gerade im Falle der Mann-Dynastie mit ihren krakenhaften, neurotischen Auswüchsen über die Generationsgrenzen hinweg, erscheint es als plausibles Remedium. So kommt Frido Mann fast automatisch dem von heute aus betrachtet reichlich skurrilen, gegenwartsfixierten Ichfindungsgetriebe jener Jahre nahe. Als Anhänger des amerikanischen Therapeuten Carl Rogers absolviert er sogenannte "Encounter"-Seminare, die als Selbsterfahrungsinstrumente weltweit Furore machen und selbst konservative Akademiker wie den Hamburger Reinhard Tausch in den Bann ziehen:

    "Der bisher sich immer spröde und unnahbar zurückhaltend gebende Psychologieprofessor Tausch spricht jetzt in das voll besetzte Auditorium mit emphatisch bewegten Worten und wie von missionarischer Erleuchtung erfüllt. Er berichtet von seinen persönlichen Erlebnissen in jenem Encounter-Seminar in ganz neuen Dimensionen, benutzt Formulierungen wie "grenzenlose Möglichkeit offener, persönlicher Entfaltung und Selbstfindung" und "Wahrhaftigkeit und Authentizität zwischenmenschlicher Begegnung". Die allseits geachtete Koryphäe scheint ihre berüchtigte wissenschaftliche Strenge und geradezu unerbittliche, oft trocken und dürr anmutende Empirieversessenheit völlig über Bord geworfen zu haben."

    Wie könnte der lebenslang nach Wahrheit und Kontakt - oder Wahrheit im Kontakt - suchende Frido Mann, der sich als ein "ungeduldiger und unerfahrener, sich selbst und die allgemeine Situation überschätzender Himmelsstürmer" einstuft, diesem Angebot auf Weltverbesserung durch Selbstverbesserung widerstehen? Dass sich die Heilsversprechungen der Seminare dann doch - privat wie im professionellen Einsatz - in irdischen Resultaten ernüchtern, steht auf einem anderen Blatt und trübt die Begeisterung kaum - einen Versuch war es wert! Nur an einem Punkt gerät das Stilprinzip, Leben im Präsens zu erzählen, an eine schmerzhafte Grenze. Die von kompletter Blauäugigkeit geprägte Episode in der DDR, in eigenen Worten ein "trotz allem faszinierender Staat", bekommt zwar eine nachgereichte Entschuldigung, doch kaschiert diese die politische Blindheit des Autors nur notdürftig. Zu blind für einen Intellektuellen dieses Kalibers, der sich mit einer guten Portion oppositionellen Mutwillens in der DDR habilitiert, was zweifelsohne in Westdeutschland zum geringeren Anpassungspreis möglich gewesen wäre. Denn in der DDR heißt der Preis Stasi:

    "Wieder aus purer Neugierde auf das Weitere und auch, weil meine hiesige Habilitation bereits in einem knappen Jahr stattfinden soll, sage ich den Herren, so wie ich es seinerzeit im Theologiestudium gelernt habe, das, was sie am liebsten hören möchten. Mit großem Wohlgefallen hören sie sich meine kritische Einstellung zum politischen System des "nichtsozialistischen Auslands" an, nach der sie mich gefragt haben, und sie scheinen meine Äußerungen über die besonderen Vorzüge des DDR-Staats durchaus zu schätzen. Umso bewusster wird mir, dass ich beim nächsten Mal beginnen muss, mich aus der Sache wieder zurückzuziehen und meine Verfolger abzuschütteln."

    Das gelingt zwar letztlich, weil sich der Gastwissenschaftler weigert, eine IM-Verpflichtung zu unterschreiben, doch bleibt das schale Gefühl, hier habe sich ein prominenter Mann zum nützlichen Idioten eines Unterdrückungsstaates gemacht. Allein zu glauben, man könne in einer Diktatur Psychologie als objektive Wissenschaft ohne staatlichen Einfluss betreiben und werde nur aufgrund akademischer Leistungen von der Regierung eingeladen, zeigt ein Maß von Wirklichkeitsfremde, die Frido Mann trotz aller romantischen Ideale hätte schon damals auffallen müssen. Auch die nachträgliche Blickkorrektur klingt inmitten eines so emphatisch geschriebenen Lebensberichts seltsam hölzern und unorganisch. Sie ist eben eine von der Geschichte abverlangte Pflichtübung und deckt sich nicht mit der eigenen Erinnerung:

    "Aus heutiger Sicht würde ich allerdings selbst konzedieren, dass meine damalige Haltung in gewisser Hinsicht naiv war. Die volle Tragweite des DDR-Unrechtssystems mit Mauer und Schießbefehl, Zuchthaus- und Spitzelterror und damit die Zwiespältigkeit meines dortigen therapeutischen Engagements ist mir erst sehr viel später richtig bewusst geworden. Aber damals sah ich in erster Linie nicht das Staatsgebilde, sondern die Menschen und die äußerst zaghaft in die Praxis umgesetzten Ideale des Systems - und hatte zu wenig Augen für dessen alltägliche brutale Wirklichkeit."

    Noch eine weitere emotionale Leerstelle enthält das Buch, in dem so viel von Vätern, Großvätern und Söhnen die Rede ist, vermutlich aus Diskretion: Frauen bleiben weitgehend abwesend. Frido Manns erste und zweite Gattin - wohlgemerkt: dieselbe, nach einer Scheidungspause heiratet man sich erneut - firmiert nur unter ihrem Initial und bleibt als eigenständige Person weitgehend ausgespart. Das dürfte kaum ihrer Lebensleistung an der Seite dieses in seinen Ambitionen so weit ausgreifenden und darum schwierigen Manns entsprechen, geht aber vermutlich auf ein Gentleman's Agreement zurück: Christine Heisenberg, Tochter des Physiknobelpreisträgers, entstammt zwar auch einer prominenten Familie, doch dem Mann'schen Fluch, alles Tun sei öffentlich und dem sezierenden Blick der Fangemeinde ausgesetzt, muss sie sich wahrlich nicht unterwerfen. Dieser Fangemeinde ist mit Frido Manns Memoiren vermutlich ein letztes Mal ausgiebig gedient. Doch was Klatsch und Nachrede angeht höchstens zu fünfzig Prozent, und das lässt den Fluch allmählich verblassen. Urenkel Stephan wird wohl nicht mehr darunter leiden. Der erste freie Mann.