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"Das Erdbeerfeld"

Die niederländische Autorin Renate Dorrestein gilt als Meisterin des psychologischen Thrillers. In "Das Erdbeerfeld" wird ein Mann in einer gepflegten Neubausiedlung ermordet. Er soll versucht haben, das Mädchen Loos zu vergewaltigen. Ihre Mutter gibt zu, ihn getötet zu haben.

Von Simone Hamm | 27.06.2005
    Die Neubausiedlung liegt vor der Stadt. Die Mütter erzählen einander, dass sie das große Los gezogen haben. Sie haben einfach das Beste aus zwei Welten, aus Stadt und Land: Moderne Badezimmer, schicke Küchen aus rostfreiem Edelstahl und eine blühende Wiese hinterm Haus. Doch die Kinder spüren, dass es anders ist:

    " Sie beugten sich über unseren Buggy und gaben mit geröteten Wangen beschwichtigende Laute von sich. Man konnte hören, wie froh sie waren, dass wir wenigstens noch mehr als sie einer Fremdbestimmung unterworfen waren. Sie konnten sich immerhin selbst den Hintern abwischen. "

    Eindrucksvoll schildert Renate Dorrestein in ihrem Roman "Das Erdbeerfeld" die Enge und Spießigkeit des scheinbar so glücklichen Vorortlebens. Und die Unruhe der unausgefüllten Frauen.

    " Ihre Männer gingen zur Arbeit, während sie zu Hause blieben mit den Kindern. Das nahmen sie sowohl den Kindern als auch den Männern krumm. Die Männer waren den ganzen Tag weg und machten irgendwelche schöne Sachen woanders, und ihre Frauen haben ihr Leben aufgeopfert für die Kinder. Das ist natürlich nicht wahr, wir wissen alle, dass es andersherum ist. Die Kinder sind der Gnade der Eltern ausgeliefert. Aber die Mütter schienen sich zur Aufgabe gemacht zu haben, immer etwas zu klagen und zu murren zu haben. "

    Einzig das Mädchen Loos und ihre seltsame kleine Familie sind anders. Loos lebt nicht in der Neubausiedlung, sondern mitten im alten Ortskern - mit zwei Männern und ihrer Mutter. Die Mutter riecht nach Patschuli statt nach Paris von Yves St. Laurent. Sie trägt fließende, schwarze Gewänder und sie legt Tarot Karten. Sie hat für jedes Problem eine Lösung. Alle Mütter sind vernarrt in sie.

    " Die Mütter sind anfänglich verrückt nach der Mutter von Loos. Es ist eine freie, mutige Frau, die sie bewundern, aber sie sind auch ein bisschen eifersüchtig auf sie. "

    Und alle Kinder sind vernarrt in Loos. Sie ist die wildeste, fröhlichste. phantasievollste.

    " Sie wird anders erzogen, sie darf alles, ein wildes abenteuerliches Mädchen. Anders Sein hat auch gefährliche Seiten, kann sich gegen einen kehren. "

    Und genau das passiert. Als die Kinder in der Schule lesen und schreiben lernen, ist die wunderbare Loos auf einmal die schlechteste Schülerin, sie kann der Klasse nicht folgen. Die Kinder haben bisher immer zu ihr aufgeguckt und plötzlich gibt es da nichts mehr zu bewundern.

    Und dann wird im Dorf ein Mann ermordet. Er soll versucht haben, Loos zu vergewaltigen. Die Mutter gibt zu, ihn überrascht und getötet zu haben.

    " Die Mutter geht ins Gefängnis. Und wie das oft ist bei sexueller Gewalt: das Opfer - Loos - bekommt die Schuld. Jeder kehrt sich gegen sie. Auch die Eltern der anderen Kinder sind böse auf sie, denn über sie sind in ihre friedliche Gemeinschaft Gewalt und sexuelle Übergriffe eingekehrt.. "

    Und plötzlich wird Loos zur Außenseiterin. Ist sie nicht immer schon merkwürdig gewesen? Renate Dorrstein springt zwischen den Zeiten, wechselt die Perspektive. Kühl berichtet sie aus der Sichtweise derer, die Loos bis aufs Blut quälen. Eindringlich lässt sie Loos ihr Martyrium schildern. Ein Martyrium, das sie schweigend erträgt.

    " Ich hab vor ein paar Jahren einen Artikel in der Zeitung gelesen über Quälerei. Das war sehr aufschlussreich. Es scheint, dass hunderttausend Kinder im Jahr die Opfer von extremen Mobbing von Klassenkameraden werden. Ohne dass es von den Eltern bemerkt wird oder den Lehrern. In der Geschichte wird eine Mutter zitiert, die nicht begreift, warum ihre 8-jährige Tochter immer so still und bleich aus der Schule kommt. Bis sie Drohbriefe in ihrer Jackentasche findet, Und da standen dann Dinge wie "wir zünden dich an" "Gossenhure". Das war an ein achtjähriges Mädchen gerichtet. Ich fand es sehr schockierend, dass ein Mädchen In diesem Alter das Opfer von so einer Quälerei wird. Und ich will eigentlich versuchen, zu begreifen, wie so etwas passieren kann ohne dass Eltern und Lehrer es bemerken. "

    Jahrelang wird Loos gequält. Und dann geschieht, was in solchen Fällen fast immer geschieht. Das Opfer geht, die Mobber bleiben. Loos, die inzwischen zwölf Jahre alt ist, die beiden Männer und die Mutter, die mittlerweile ihre Strafe abgesessen hat, werden wegziehen.

    " Die Würfel waren schnell gefallen. Wenn man erst mal Hundescheiße und tote Ratten im Briefkasten fand, war man nicht mehr so wählerisch. Die Wahl fiel auf eine Insel, die am äußersten Rand von Europa lag: Lewis. Wir hatten sie aufs Geratewohl herausgepickt, aber weiter von der bewohnten Welt entfernt sein konnte man fast nicht. "

    Noch lange ist Loos verstört. Sie wird sich ihren Platz in der Gemeinschaft der Dorfkinder hart erkämpfen. Spätestens hier merkt der Leser, dass die offizielle Version vom Tode des Mannes aus der Neubausiedlung so nicht stimmen kann. In einer beklemmenden Szene befriedigt die kleine Loos einen Jungen.

    " Es war noch um einiges ekliger, als meine Mutter es mir damals geschildert hatte. Oder vielleicht hatte ich es mir nicht richtig gemerkt. Ich war damals erst sechs gewesen und außerdem total in Panik. "

    Was ist wirklich geschehen in jener Nacht? Erst als sie achtzehn ist, fällt es Loos wie Schuppen von den Augen. Irgendetwas stimmt hier nicht. Die Mutter, die für sie getötet haben will, um sie zu schützen oder um sie zu rächen. Die beiden Männer, die sich so selbstlos für sie aufgeopfert haben. Und dabei niemals etwas von ihrem Leid gespürt haben wollen.

    " Der Weg zu meinen tagtäglichen Folterungen war von denen gepflastert worden, in die ich mein Vertrauen gesetzt hatte. "

    "Das Erdbeerfeld" ist ein Roman von der Lüge und der Wahrheit. Wer kann wann die Wahrheit ertragen. Ist eine gut gemeinte Lüge heilsam oder kann sie ein ganzes Leben zerstören? So wie die Mütter in der Vorortsiedlung sich und ihrer Familie etwas vormachen, so ist auch Loos jahrelang nur etwas vorgespielt worden. Loos muss erkennen, dass ein jeder in ihrer Umgebung zu aller erst nur an sich selbst gedacht hat.

    " Die Männer sind sicher nicht unschuldig, aber das sind die Personen in meinen Büchern eigentlich nie. Wenn man nur über liebe, artige, unschuldige Menschen schriebe, dann hätten wir ganz dünne Bücher. Es gäbe auch nur wenig Interessantes zu erzählen. In einem guten Roman braucht man schlechte Menschen, in jedem Fall Menschen mit schlechten Eigenschaften, die Probleme haben. "

    Es ist die verborgene, dunkle Seite, die Renate Dorrestein fasziniert. Das Böse, was hervorkommt, wenn nur ein wenig an der glatten Oberfläche kratzt. Erst langsam ahnen die Leser, das sich unter einer ersten Schicht, die schon schrecklich genug ist, noch viel Schrecklicheres verbirgt. In den Niederlanden gilt Renate Dorrestein als Meisterin des psychologischen Thrillers. Zu recht.