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Das erotische Denken

Der Surrealismus gilt als eine der intellektuellen Bewegungen des 20. Jahrhunderts. Ausgehend von Frankreich fand er auch seinen Weg nach Deutschland, doch gab es hierzulande auch eine eigenständige Form des Surrealismus? Dieser Frage ging eine interdisziplinäre Tagung am Literaturarchiv Marbach nach.

Von Christian Gampert |
    Gibt es einen deutschen Surrealismus? Natürlich gab es deutsche Surrealisten - Max Ernst zum Beispiel wollte "sich selbst fremd werden" und eine unbekannte Zivilisation entdecken. Der kunsthistorische Altmeister Werner Spies sah die Bewegung zu Beginn des Symposions aber als sehr französische, gar Pariser Angelegenheit. "Dada" war destruktiv, hämisch, negativistisch und international; der Surrealismus dagegen frankophon und positiv: auf die Errichtung einer anderen, freieren Gesellschaftsform gerichtet. Drogenrausch und Traum, de sofort protokolliert wurde, Montagetechniken und "Écriture automatique", das automatische Schreiben unter Ausschaltung des Bewusstseins, sollten nicht nur eine neue Kunst und Literatur hervorbringen, "das Auge in den Zustand der Wildheit versetzen", sondern auch den Kapitalismus stürzen.

    Das hielt Club-Vorsitzenden André Breton allerdings nicht davon ab, eifersüchtig über die Einhaltung seiner Dogmen zu wachen, mit Ausschlussverfahren und dergleichen. Es gab nämlich auch ein deutsches surrealistisches Manifest: sein Verfasser Iwan Goll, der den Menschen wieder zum Kind machen wollte und das Kino des Charlie Chaplin für das Nonplusultra hielt, wurde von Breton ganz schnell exkommuniziert.

    Gleichwohl schwappte die produktive, antibürgerliche Energie der Bewegung auch nach Deutschland über - Walter Benjamin war der Vermittler. Trotz grundsätzlicher Sympathien war es Benjamin allerdings nicht recht klar, wie etwa Duchamps Pissoirs und Flaschentrockner denn den Kommunismus befördern sollten. Und am Sozialismus war Benjamin weitaus mehr gelegen als an Wahnsinn, Trunkenheit, Montage, sagte in Marbach der Kunsthistoriker Beat Wyss:

    "Er kritisierte sie, ihre Libertinage, Opium, Rausch. Die profane Erleuchtung kommt bei ihm ohne Rauschmittel aus."

    Die profane Erleuchtung, also das plötzliche Aufscheinen einer Erkenntnis, eines Bildes, das auftaucht wie eine Gottheit - ein Schlüsselbegriff surrealistischer Wahrnehmung. Man kann auch sagen: eine Stimmung, die in den Dingen selbst verborgen ist. Für den Literaturwissenschaftler Hans-Ulrich Gumbrecht bezeichnet diese Stimmung aber auch die panikartigen Zweifel der Künstler seit den 1910er Jahren, ob sie überhaupt noch ein adäquates Bild der Welt produzieren könnten. Deshalb einerseits der Rückbezug auf die Romantik, andererseits die Suche nach neuen Erzählweisen - also Joyce, Musil, Kafka.

    Bei diversen großen deutschen Autoren sind surrealistische Ansätze zu beobachten: etwa bei Robert Walser mit seiner "labyrinthischen Schreibweise" oder bei Heiner Müller, der in einzelnen Szenen seines "Gundling"-Stücks versuchte, sich selbst als Autor quasi auszuschalten und dort nur noch Zitate und Gedankensplitter montierte. Auch der frühe Gottfried Benn favorisierte die "Allmacht des Traums", den Halbschlaf, das Zwischenreich. Trotzdem kann man von einem deutschen Surrealismus nicht sprechen, sagt die Heidelberger Germanistin Friederike Reents - die Antwort sei ein klares Jein:

    "Die Antwort muss Jein lauten. Es gab bei Benn in frühen Texten starke Anklänge, als wenn er von oben auf eine Bewegung blickt, die es noch gar nicht gab - da lag eine Stimmung in der Luft."

    Es lag was in der Luft - neue literarische Techniken, die in Deutschland aber anders ausgebildet wurden als bei den (durch ihre Theorie) eher eng organisierten französischen Surrealisten um Breton, Aragon und Soupault. Deren emphatisches Ich, das sich einerseits selber verflüchtigen, andererseits die Gesellschaft umstürzen wollte, hat in den übrigen europäischen Literaturen kein Pendant. Und den Benjaminschen Lieblingsbegriff der "profanen Epiphanie" hält der Londoner Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer sowieso für fragwürdig.

    "Epiphanie - was heißt das? Erscheinung Gottes. Weil man an Gott aber nicht mehr glauben kann, muss man das Ganze profanisieren. Aber das geht nicht: Entweder ist man erleuchtet oder eben nicht."