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Das erschöpfte Ich ohne Ausweg

Die Schriftstellerin und ehemalige Leistungssportlerin Ines Geipel hat ein Buch mit dem Titel "Seelenriß" über den Zusammenhang zwischen Depression und Leistungsdruck geschrieben. Dabei dient ihr der Sport als Modell für die moderne Zeit, der sich ein großer Teil der Menschen immer weniger gewachsen fühlt.

Von Hans-Joachim Föller | 03.10.2010
    Fast hätte er es geschafft und er wäre die Nummer eins im Tor der deutschen Fußballnationalmannschaft geworden. Aber fast genügt im Profifußball nicht. Der Zeitverlust für das Auskurieren einer Handverletzung hatte ihn während der Nominierungsphase für die Fußballweltmeisterschaft in Südafrika behindert und aus der Bahn geworfen. Am 10. November 2009 stand der Fast-Nationaltorwart Robert Enke in der Nähe von Hannover im Gleisbett eines Regionalzuges und suchte den Tod.

    Soweit ist die Geschichte bekannt. Ines Geipel dient sie als Einstieg in das Thema Depression. Rund 15 Millionen Menschen leiden in Deutschland an der bleiernen Erschöpfung des Selbst. Einer von ihnen war Robert Enke. Von ihm erzählten seinerzeit die Medien bestenfalls nur die halbe Geschichte. Damals war er lediglich der Mann aus Hannover. Aber davor gab es auch noch ein Leben. Und für dieses interessiert sich Ines Geipel, die die Welt des Leistungssports und seine Systemzwänge am Beispiel der DDR aus eigener Anschauung kennt. Denn Enke stammte aus Jena und wuchs in der SED-Diktatur auf. Er gehört zur Generation der heute 30-Jährigen, deren Angehörige mit Blick auf das Ende der DDR häufig von Trauer sprechen, weil damals ihre Kindheit zu Ende ging. Geipel nimmt diese Bedingungen von Enkes Entwicklung in einen panoptischen Blick, verknüpft politische und Gesellschaftsgeschichte mit Schilderungen des örtlichen Fußballmilieus. In den sensiblen Beschreibungen der Autorin werden Außenwelt und Innenwelt entgrenzt. In der Zusammenfügung als Seelenbild sind alle Eindrücke gleich. So entsteht die Situation vom Ich in einer Druckkammer, das nicht nur um das innere Gleichgewicht, sondern geradezu ums Überleben kämpft. Geipel interessiert sich für die Genese der Krankheit. Erst sie eröffne, wie sie wörtlich schreibt, "den Blick auf eine dunkle Grammatik des Selbst".

    Dabei geht es Geipel nicht nur um den Sport als stilprägendes Paradigma der modernen Leistungsgesellschaft. Denn die Praxis des Schneller, Höher, Weiter findet sich auch in anderen Bereichen menschlichen Daseins: in den Elitehochschulen, dem Finanzsystem. Zu den großen Stärken dieser Autorin bei der Suche nach Ursachen für die Krankheit Depression gehört ihre Fähigkeit, Zusammenhänge deutlich zu machen: von den Gewalterfahrungen der beiden Weltkriege über den Mißbrauch von Sportlern im DDR-Zwangsdopingsystem bis hin zum praktizierten Gehirndoping in der modernen Leistungsgesellschaft - stets anschaulich beschrieben an Einzelschicksalen. Hierbei interessiert sich Geipel besonders für die Nahstelle zwischen Geschichte und Mensch. Sie wirft die beunruhigende Frage auf, warum das Depressionsbarometer in Deutschland doppelt so hoch ausschlägt wie in anderen Industrieländern.

    Die Antworten sucht sie in einer Geschichte, die den Deutschen ganz besonders im Nacken sitzt. Nach Ansicht der Autorin ist diese in den Seelen der Menschen regelrecht implodiert. Nicht zuletzt stelle das Gefühl unerlöster Kollektivschuld nach wie vor eine große Belastung dar. Um diese These zu belegen, zitiert sie aus einer aktuellen Studie des Frankfurter Sigmund-Freud-Instituts, das die deutsche Spezifik kumulativer Traumata zum Gegenstand hat. Auf diese Weise wird plausibel, warum es die Deutschen besonders schwer haben, warum sie weit häufiger depressiv werden als andere Völker. Auf die Erfahrungswucht ihrer Gewalterfahrungen im 20. Jahrhundert legt sich die unverstandene Gegenwart. Auf diese Weise werden die Sinnverluste noch verstärkt. Erläuternd zitiert Geipel die Leiterin des Frankfurter Sigmund-Freud-Institus, Marianne Leuzinger-Bohleber: "Wer depressiv ist, reagiert vor allem sensibel auf moderne Entwurzelungsprozesse." Depression sei eine Krankheit der Ideale. Sinn und Lebensfreude seien heute schwerer denn je zu finden.

    Schlechte Aussichten für die Gesundung. Denn die Systemimperative des großen Apparates haben nicht nur im Sport die Herrschaft übernommen. Ob sich der Mensch von diesen befreien kann, ist offen. Ines Geipel hat in ihrem erstaunliche Zusammenhänge aufzeigenden Buch den Finger in eine offene Wunde gelegt, eine Wunde, die weiter aufreißen und heftiger schmerzen wird. Nach Ansicht der Weltgesundheitsorganisation wird die Depression im Jahr 2020 die zweithäufigste Krankheit sein.

    "Seelenriss - Depression und Leistungsdruck" von Ines Geipel ist im Verlag Klett-Cotta erschienen. Es kostet 18,95 Euro.