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Das erste anthroposophische Krankenhaus der Bundesrepublik

Herdecke ist ein besonderes Juwel in der deutschen Krankenhauslandschaft.

Von Jens Brüning | 11.11.2004
    Lobte der damalige Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer vor zehn Jahren das Gemeinschaftskrankenhauses Witten-Herdecke. Die "Klinik ohne Chefarzt" wurde am 11. November 1969 als erste Klinik, die sich an der Philosophie Rudolf Steiners orientiert, eröffnet. Im Mittelpunkt des medizinischen Denkens und Handelns steht hier der Zusammenhang von Mensch und Natur. Als Leitbild formulierten die Gründer:

    Unterstütze den kranken Menschen darin, seine individuellen Möglichkeiten zu verwirklichen, und in der Auseinandersetzung mit seinem kranken Leib, seinem Schicksal und der Umwelt neue Verwirklichungsmöglichkeiten zu erlangen.

    Anthroposophisches Denken geht über die materialistische Fixierung auf das Leben zwischen Geburt und Tod hinaus. Das Gemeinschaftskrankenhaus Witten-Herdecke hat fast fünfhundert Betten für die regionale Versorgung in den bedeutsamen Fachabteilungen von der Notfallmedizin bis zur psychiatrischen Behandlung und steht auch überregional allen Kassen- und Privatpatienten offen. Das Krankenhaus war auch Motor bei der Gründung der Privatuniversität Witten-Herdecke und ist nach wie vor deren medizinischer Fachbereich. Der Neurologe Konrad Schily gehört zum Gründerkreis des Hauses:

    Wir versuchen, rationale Medizin zu machen, also wir versuchen, nicht irgendwelche Glaubensgrundsätze zu pflegen, woher sie auch immer kommen. Es gibt auch schulmedizinische Glaubensgrundsätze. Aber wir konnten uns immer darauf einigen, dass das Menschenbild Steiners, der sagt: Der Mensch besteht aus Leib, Seele und Geist, dass wir damit leben können.

    Dieses Konzept kommt bei den Patienten gut an.

    Das gemeinsame Entscheiden, das sind so Ansätze, die mir sehr zusagen, und dass man eben miteinander spricht und nicht einfach irgendwas über meinen Kopf entschieden wird, sondern dass man im Gespräch sein muss.

    Die Neurologin Susanne Völlinger:

    Es ist nicht so, dass die Schulmedizin beschnitten wird in einer Weise, die dem Patienten abträglich wäre, sondern es wird wirklich ergänzt um was Zusätzliches, was förderlich ist.

    Solche zusätzlichen Angebote sind eigens zusammengestellte Arzneimittel, besondere Diäten und Therapien aller Art, die an die kreativen Quellen der Patienten anknüpfen: Farbe, Form, Musik, Bewegung und Sprache. Die Musiktherapeutin Monique Kühn zum Beispiel arbeitet mit Säuglingen.

    Uns hier in diesem Haus geht es natürlich darum, Musiktherapie oder was auch immer für Therapie live zu machen, weil natürlich mein Seelisch-Geistiges auch mitschwingt in dem Moment, in dem ich mit dem Kind arbeite. Die elektronische Musik bewirkt genau das Gegenteil, weil es die Kinder abstumpft, und wir wollen ja die Kinder nicht abstumpfen, sondern es soll ja eben aufwachen, seine Sinne weiter bilden anhand dessen, was es hört.

    Im Prinzip geht es bei den therapeutischen Maßnahmen im Gemeinschaftskrankenhaus um die Umkehr der Ursachenforschung. Die Frage ist nicht: Was macht den Menschen krank? Die Frage ist: Was macht ihn gesund? Jürgen Schürholz vertritt eine anthroposophische Heilmittelfirma:

    Also, wenn eine Grippe-Epidemie herrscht, warum gibt es Menschen, die immer gesund bleiben? Diese Seite, die jetzt sozusagen kompensatorisch in der Medizin anfängt Tritt zu fassen, das ist eine Seite, mit der wir uns sehr verwandt fühlen. Denn es kommt eben auch aus der Sicht der Anthroposophie darauf an, dass die Eigenaktivität mobilisiert wird. Es geht immer darum, dass das richtige Mittel zur rechten Zeit im rechten Maße am rechten Ort angewendet wird.

    Im Gemeinschaftskrankenhaus Witten-Herdecke ist auch der Umgang mit dem Tod anders als in den Großkliniken. Konrad Schily:

    Wir haben diesen Menschen bis jetzt begleitet, und nun werden wir Ärzte und Schwestern ihn waschen und auch aufbahren. Indem wir das getan haben, indem das kollegial war, indem das nicht irgendjemand bekam, du musst das machen, war auch die Stimmung vor einem solchen Ereignis des Todes eine ganz andere. Man war eben zusammen, man war kollegial, und das erlebten auch die Patienten anders. Die erlebten sich ernster genommen.

    Als das Gemeinschaftskrankenhaus Witten-Herdecke am 11. November 1969 eröffnet wurde, erfüllte sich eine Idee des Arztes Gerhard Kienle. Er hatte Konrad Schily in den Gründerkreis der Einrichtung geholt.

    Ihm schwebte vor, eine Gemeinschaft macht so ein Krankenhaus für die Gesellschaft, das heißt, es ist eine Gemeinschaft verantwortlich. Als sozialromantisch würde ich bezeichnen, als wir dann diese kollegialen Führungen gemacht haben. Kollegialität ist schon richtig ist, aber es muss immer ganz eindeutig individualisierte Verantwortung geben, sonst funktioniert das beste Kollegium nicht. Das ist die Erkenntnis, die wir aber - auch Kienle - während der Gemeinschaftskrankenhauszeit gehabt haben.