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"Das erste Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkrieges"

Am 1. September vor 70 Jahren hat Deutschland mit seinem Angriff auf Polen Europa in den Krieg gestürzt. Der Beschuss der polnischen Halbinsel Westerplatte gilt bis heute als Beginn der Kriegshandlungen. Doch in derselben Nacht griffen deutsche Bomber aus der Luft auch die wehrlose Kleinstadt Wielun an, mit über 1200 Opfern. Für den Historiker Tadeusz Olejnik das erste Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkriegs.

Von Ernst-Ludwig von Aster | 28.08.2009
    Tadeusz Olejnik holt ein Buch aus der Aktentasche. Beginnt zu blättern. Ein Bildband über seine Heimatstadt Wielun. Die Texte auf Polnisch, Englisch und Deutsch. Herausgegeben von dem pensionierten Geschichtsprofessor:

    "Ich habe mich schon im Gymnasium für die Geschichte von Wielun interessiert. Auf der Universität ging das dann weiter. Meine Doktorarbeit habe ich über die Jahre 1939 bis 45 geschrieben. Und über die Tragödie von Wielun am 1. September 1939."

    Olejnik nimmt seine Brille ab, legt das Buch beiseite. Ob auf dem Gymnasium oder an der Universität. Überall hörte der angehende Historiker: Der Zweite Weltkrieg begann in der Nähe von Danzig, auf der Westerplatte.

    "Damals wurde immer über die Westerplatte gesprochen. In den Büchern stand: Am 1. September 1939 um 4:45 Uhr begann der Zweite Weltkrieg mit der Attacke des Panzerschiffes Schleswig-Holstein. Bis heute hat das niemand richtig in Zweifel gezogen. Und darum stand Wielun lange Zeiten im Schatten der Westerplatte."

    Schon als Schüler spricht Olejnik mit Zeitzeugen. Hört immer wieder von den deutschen Bombern im Morgengrauen, die angriffen, bevor die ersten Schüsse auf der Westerplatte fielen. Das Thema lässt den Geschichtsbesessenen nicht los. Im Studium sucht er weitere Zeitzeugen, durchwühlt die Archive.

    "Über viele Jahre tauchte Wielun überhaupt nicht auf. Als der polnische Militärstab, die Angriffs-Ziele der Deutschen vom 1. September auflistete, war Wielun überhaupt nicht darunter. Es gab da kein Wielun."

    Stück für Stück trägt Olejnik Fakten zusammen. Sichtet Einsatzpläne, spricht mit polnischen Soldaten, deutschen Bomberpiloten. Schreibt seine Doktorarbeit über das Thema. Kann belegen, dass um 4.40 Uhr die ersten Bomben auf die wehrlose Kleinstadt fallen. Fünf Minuten vor der Attacke auf die Westerplatte.

    "Die Bomber, die Wielun angegriffen haben, waren ganz moderne JU-87B. Die konnten große Bomben tragen, bis zu 500 Kilogramm schwer. Und sie konnten sehr genau ihre Ziele angreifen. Und in Wielun waren die Ziele, die einen strategischen Charakter hatte: das Rathaus, die Hotels, die Post und der Bahnhof. Diese Objekte wurden aber nicht bombardiert."

    Die Bomben fallen auf Kirchen, Krankenhäuser, Wohnviertel, sagt Olejnik. Mehr als 1200 Wieluner sterben.

    "Wichtig ist, dass in der ersten Stunde des Krieges eine offene Stadt ohne Verteidigungskräfte von der Luftwaffe angegriffen und fast dem Erdboden gleichgemacht wurde. Das war das erste Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkrieges."

    Ein Kriegsverbrechen, von dem über Jahrzehnte niemand etwas wissen will. In Deutschland nicht. Und in Polen auch nicht. Dort erinnerte man lieber an die 200 polnischen Soldaten, die die Westerplatte eine Woche lang gegen eine deutsche Übermacht verteidigten:

    "Die Westerplatte war ein Mythos, da waren die polnischen Helden. Dort konnte man die Verteidigung gegen die deutsche Aggression zeigen. Es war ein Symbol des polnischen Widerstandes. Dem polnischen Kommandeur haben die Deutschen nach der Kapitulation sogar einen Säbel überreicht. Als Zeichen der Hochachtung für seine Verteidigung."

    Der Historiker nimmt die Brille ab. Dreht sie in den Händen. Vor fünf Jahren fanden die zentralen polnischen Gedenkfeiern zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zum ersten Mal in Wielun statt. Nicht zuletzt eine Anerkennung für die unermüdliche Geschichtsarbeit von Olejnik. Seitdem aber wird Jahr für Jahr wieder auf der Westerplatte an den Kriegsausbruch erinnert. Mythen, sagt der pensionierte Professor, wiegen eben oft schwerer als Fakten:

    "In den Schulbüchern steht nach wie vor nichts über Wielun. Aber ich bin sicher, dass die Stadt ihren Platz in der Geschichte Polens finden wird. Es ist ein längerer Prozess. Und das dauert."