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Das evangelische Pfarrhaus als Kulturschmiede

"Pfarrers Kinder und Müllers Vieh gedeihen selten oder nie". Das Sprichwort deutet die besondere Funktion des Pfarrhauses als "moralische Anstalt" an. In Eisenach wird diese Rolle jetzt in einer Sonderausstellung zum 80. Geburtstag des "evangelischen Pfarrhausarchivs" näher beleuchtet.

Von Gottfried Blumenstein |
    Die Zahlen sind, wenn man das so sagen darf, geradezu erdrückend: Ohne das evangelische Pfarrhaus und die dort entsprungenen Sprösslinge wäre Deutschland ein anderes Land. Keinesfalls der dereinst so gepriesene, geradezu ins mythische hoch gedrehte Landstrich, wo die Dichter und Denker dichteten und dachten.

    Der unverdächtige Altkatholik Johann Friedrich von Schulte, der in Bonn und Prag unter anderen Kirchenrecht lehrte, machte sich Ende des 19. Jahrhunderts die Mühe, die 1631 wichtigsten deutschen Biographien, die in einem damaligen Standardwerk zusammengetragen wurden, nach Herkunft zu durchforsten. Und er fand heraus, dass über die Hälfte der dort aufgeführten Männer (Frauen, Gott sei's geklagt, blieben damals bekanntermaßen noch weitestgehend außen von), ihre Kindheit in einem evangelischen Pfarrhaus verbracht hatten.

    Wie auch immer, das ist ein unglaubliches Verhältnis, und das hat natürlich Gründe. Hagen Jäger, der im Lutherhaus zu Eisenach die ständige Pfarrhausausstellung und die Sonderausstellung mit konzipiert hat, macht Martin Luther für diesen immensen Schub an Wissen und Kreativität verantwortlich:

    "Nun muss man davon ausgehen, dass die Pfarrer, und daraus legte auch Martin Luther großen Wert, dass diese Pfarrer alle ein Hochschulstudium durchliefen. Und diese Hochschuldstudium war damals kein fachspezifisches Studium, sondern in einem Magisterstudium, das man zu durchlaufen hatte, wurde einem der gesamte damalige Bildungsschatz vermittelt."

    Und bei einem solch hoch gebildeten Vater, der sich eine zu ihm passende Gemahlin ausgesucht hat, fällt dann nicht nur nicht der Apfel weit vom Stamme, sondern, um im Bild zu bleiben, der Stamm sorgt für die entsprechende Erziehung und eben auch Bildung:

    "Viele Pfarrerskinder, vor allem die Söhne wurden von ihren Vätern unterrichtet. Die haben erst in den letzten zwei Jahren das Gymnasium belegt, um dort die Reife für die Universität zu bekommen, und so haben viele Kinder bereits zu Hause eine sehr solide Bildung bekommen."

    Bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts hinein traten die Pfarrerssöhne zumeist in die Fußstapfen ihrer Väter. Dies änderte sich dann. Es traten viele Dichter als Pfarrerssöhne auf den Plan: Lessing, Jeremias Gotthelf, Hölderlin, Herrmann Hesse oder Gottfried Benn. An Musikern und Komponisten muss man Prätorius, Händel (ein Pfarrersenkel) oder Telemann erwähnen. Aus anderen Gewerken kamen unter anderen hinzu: der Mathematiker Euler, der Baumeister Schinkel, der Archäologe Schliemann, der Turnvater Jahn oder der Begründer der optischen Industrie in Rathenow Johann August Dunker. Ein breites Spektrum.

    Und auch einige Pfarrfrauen und Pfarrerstöchter machten von sich reden, etwa Dorothea Erxleben, die erste deutsche Doktorin der Medizin Und wenn man bis in die Gegenwart vorstößt, darf man die Pfarrerstochter Angela Merkel nicht vergessen, genauso wie die Trainerin der deutschen Fußballnationalmannschaft der Damen: Tina Theune Meyer.

    So weit, so gut. Aber was ist nun mit dem Spruch, der als geflügeltes Wort immer mal wieder ans Ohr schwirrt: "Pfarrers Kinder und Müllers Vieh gedeihen selten oder nie". Zuerst muß man sich den heutigen Sprachgebrauch wegdenken, denn korrekt wäre in diesem Falle das Wort "selten" mit ausgezeichnet oder grandios wiedergegeben. Da verliert der Spruch ein bisschen von seinem nonsensartigen Witz, ist aber an der Wahrheit näher dran, denn er zeigt die Extreme im positiven wie negativen Sinn auf, denn es gibt auch eine sehr starke dunkle Seite des Pfarrhauses, die in der Ausstellung allerdings nicht thematisiert wird.

    Aus dem Leipziger Raum ist eine Geschichte verbürgt, wo ein Pfarrer, um seiner exzessiven Bücherleidenschaft ohne Geldsorgen frönen zu können, sich als Raubmörder betätigte. Übergriffe sexueller Art kamen und kommen hin und wieder vor. Die ältlichen Pfarrfrauen werden verstoßen und der Herr Pfarrer verlustiert sich lieber mit einer knackigen Konfirmandin.

    Auch der Teufel Alkohol ist in manchem Pfarrhaus heimisch. Mittlerweile ist alles so, wie im richtigen Leben. Und so manches Pfarrerskind fühlte und fühlt sich dem Druck, etwas besonderes sein zu müssen, nicht gewachsen und schlägt gänzlich aus der Art. Etwa Pfarrerssohn Friedrich Nietzsche, dessen Parole "Gott ist tot", ein schwerer Schlag ins Pfarrhaus-Kontor war und ist.

    Dennoch geht Nietzsche als Geistesriese trotzdem noch irgendwie mit durch. Bei Gudrun Ensslin ist das anders, die Pfarrerstochter aus dem Schwäbischen, die als die Topterroristin galt, verbreitet selbst heute noch, fast dreißig Jahre nach ihrem gewaltsamen Freitod, Angst und Schrecken.

    Die zentrale Stellung, die das Pfarrhaus im Dorf sowieso aber auch in der Stadt dereinst eingenommen hatte, ist in jüngster Zeit freilich immer mehr verblasst, und in diesem Sinne erlebt man im Lutherhaus Eisenach eine historische Ausstellung, die auf ihrer Zeitreise - in der Gegenwart angekommen - jede Menge Fragen hat, die nicht beantwortet werden können.