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Das Faszinierende und das Perverse der menschengemachten Natur

Seit zwei Jahren tanzen bei der Choreografin Mette Ingvartsen nicht mehr nur die Körper, sondern die Dinge: Sie beschäftigt sich vor allem mit der Idee künstlicher Natur. "The Artificial Nature Project" baut und zerstört Landschaften mit Konfetti.

Von Nicole Strecker | 03.11.2012
    Im Anfang war nicht das Wort, war nicht der Sinn oder die Tat. Im Anfang dieser Schöpfungsgeschichte aus dänischer Choreografinnen-Fantasie ist ganz biblisch: das Licht. Vereinzeltes Funkeln ist im stockfinsteren, weil sogar notlichtverdunkelten Raum von Pact Zollverein zu erkennen. Ein Blinken wie von einem Sternenhimmel. Dann verdichtet sich das Glimmen zu einer Wolke als wäre es ein Schwarm tanzender Glühwürmchen. Und schließlich, wenn das Licht die ganze Bühnenbreite erfasst, scheint es, als falle glitzernder Schnee in einer nachtdunklen Landschaft. Es ist Metallkonfetti, das hier permanent aus dem Bühnenhimmel rieselt und in raffiniert wechselnder Beleuchtung immerzu neue Assoziationen hervorruft. Jeder Theatermacher spielt bekanntlich ein bisschen Gott. So auch Choreografin Mette Ingvartsen, die als Absolventin der berühmten belgischen Tanzschule PARTS neben Tanz noch jede Menge Theorie und postmoderne Philosophien studiert hat. Seit zwei Jahren nun hält sie mit ihren Stücken unserer verödenden Umwelt eine künstliche Natur entgegen. Diesmal gemacht aus nichts als Konfetti in Kilomengen. Schnipsel für Parties als Atom zur Welterschaffung - und es ist wirklich unglaublich, welche Landschaften sich mit dem Abfallprodukt evozieren lassen.

    Denn bald schon endet die Idylle des Anfangs. Statt naturnaher Poesie herrscht dann plötzlich Post-Katastrophenstimmung. Sieben Performer treten als Material-Manipulatoren auf. Feinstaubmasken und große Brillen verbergen ihre Gesichter, auch ihre Kapuzenshirts erinnern an Schutzanzüge. Sie wühlen in den Konfettibergen auf dem Boden als wären es Aschehaufen. Dazu giftgrünes Licht, als befände man sich auf einem nuklearverseuchten Areal – auch Fukushima hat eine 'künstliche Landschaft' geschaffen, so die fast schon zynische Assoziation.

    Schönheit und Horror des Artifiziellen werden an diesem Abend immer wieder fusionieren. Die Performer werfen das Metall-Konfetti in Fontänen auf als wären es blubbernde Geysire. Sie lassen es über den Bühnenboden schliddern wie Quecksilberperlen oder verteilen es im Raum zu einer unebenen Mondlandschaft. Irgendwann geben sie die kontemplativen Elementerkundungen auf. Sie bewaffnen sich mit Laubsaugern und entfachen mit den laut pustenden Geräten einen Schnipselsturm: In einer Ecke stieben die Konfetti wie Feuerfunken durch die Luft, in einer anderen steigen sie die Wand hoch wie schäumende Gischt. Die Performer zerstören ihre vorher kreierten Ordnungen, ihre Körper verschwinden im Chaos – wie eben auch der Mensch sich die Welt untertan macht und dabei gleichermaßen zum Urheber und Opfer globaler Katastrophen wird.

    Mit jedem neuen Setting dieser beeindruckenden szenischen Installation umspielt Mette Ingvartsen das Faszinierende und das Perverse, das in der Idee von einer menschengemachten Natur liegt. Denn auch in der Realität sind ja echte und künstliche Landschafen immer weniger voneinander zu unterscheiden. Längst schon ersetzen Züchtung, Technik und Trugbilder das Natürliche – mit menschengefährdenden Folgen. So rupfen auch bei Mette Ingvartsen die Performer gegen Ende Rettungsdecken aus dem Boden. Sie lassen die goldenen Folien mit den Laubsaugern im Kreis durch die Luft tanzen – bis das Erste-Hilfe-Tool wie ein fliegender Teppich aus dem Märchen angesegelt kommt.

    Ein grandios ironisches Bild für die Hybris des Menschen, der eifrig an der Apokalypse bastelt, im naiven Kinderglauben, dass Rettung bestimmt irgendwie schon kommen wird. Zur Not eben mit märchenhafter Magie.