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Das "Festival d'Automne" unter neuer Ägide

Claude Régy und Bruno Bayen eröffnen mit zwei literarischen Abenden die Serie neuer Arbeiten beim renommierten Pariser Herbstfestival. Schon jetzt zeigt sich die Handschrift des neuen Festivalchefs Emmanuel Demarcy-Mota.

Von Eberhard Spreng | 29.09.2012
    "Vorraum zum Theater, bitte Ruhe", steht auf einem ungewöhnlichen Zettel am Eingang zu den Bertier-Hallen, der Mehrzweckspielstätte des Odéon-Theaters. Und wenn die Zuschauer dann eintreten dürfen, werden sie vom Theaterpersonal noch einmal ausdrücklich um Ruhe gebeten. Wie auch immer kapriziös man solche Verhaltensmaßregeln finden mag, sie führen tatsächlich dazu, dass sich vor dem Beginn der Aufführung eine Art andächtiger Stille über den Saal legt, die als solche schon eine ungewöhnliche Erfahrung darstellt. Claude Régys Inszenierungen sollen aus der Stille und der Dunkelheit erwachsen und wollen in ein Schattenreich entführen, das sich vor der Welt, ihrem Krach und ihren Farben, abschließt. Mit einer Episode aus Tarjei Vesaas’ Roman "Boot am Abend" ist dies das langsame Abgleiten eines Mannes vom sicheren Ufer in einen Fluss und damit das Eintreten in eine Parallelwelt, die auf den Tod verweisen kann oder aber auch nur auf einen erweiterten Bewusstseinszustand. Diese symbolisch hoch aufgeladene Literatur ist ein Rätselstück und der unmittelbaren Interpretation nicht zugänglich. So wie der Körper des Mannes im Wasser zum Grund sinkt und wieder aufsteigt, so verwandeln sich die Bedeutungen und poetischen Anspielungen.

    Zu Beginn ist Yann Boudaud in fahlem Licht nur eben zu ahnen, wie er in lähmend langsamen Gesten auf der Vorderbühne verharrt. Mit wimmernder Stimme zelebriert er den Eintritt des Mannes ins Ungewisse und das Abtreiben im nassen Element.

    Bis zum Verlust der Stimme führt die Seinserfahrung des Treibens auf dem Fluss, das am Ufer von einem Hund und in dem Bäumen von Krähen begleitet wird. Und plötzlich nimmt man den Schauspieler, der doch mit untypisch angewinkelten Armen vor uns steht, als einen im Wasser liegenden wahr, nun ist in der Tiefe der Bühne mithilfe von zwei Gazevorhängen und einer klugen Lichtregie eine unheimliche Natur zu ahnen, aus der sich wie aus dem Nichts zwei weitere Gestalten lösen: Abspaltungen der eigenen Persönlichkeit? Vielleicht. Claude Régy, dem der Gedanke wichtig ist, dass alles Wissen der Welt in seinem Fortschritt immer auch neue Sphären der Dunkelheit und des Unbekannten öffnet, gelingt erneut ein sehr manieristisches Theater, das zugleich Magie und Beschwörung ist.

    Ebenso literarisch ist eine andere Arbeit, die Bruno Bayen im Rahmen des Pariser Herbstfestivals konzipierte: "La Femme qui tua les Poissons" nach den Zeitungskolumnen, die Clarice Lispector zwischen 1967 und 1973 im Jornal do Brasil veröffentlichte. Wiederum fast ein Solo, in dem Emmanuelle Lafon die brasilianische Autorin mit ukrainischen Wurzeln verkörpert. Diesmal ist dies aber keine literarische Reise ins nicht mehr Sagbare, an die Grenzen der Sprache, sondern die kluge Verarbeitung von Alltagserfahrungen in äußerst amüsanten, feuilletonistischen Reflexionen über das Banale bis hin zur Meditation über die alte Frage nach dem was vorher da war: Ei oder Henne und welche Beziehungen zwischen den beiden bestehen.

    Mit den beiden literarischen Abenden hat im Programm des Herbstfestivals die Serie neuer Arbeiten begonnen, nach einigen der internationalen Gastspielen, die immer schon zum Profil der interdisziplinären Kulturschau in der französischen Hauptstadt gehörten. Unter der neuen Leitung von Emmanuel Demarcy-Mota will sich das Festival allerdings regional deutlich öffnen und so auch neue Publikumsschichten anziehen. Hierzu werden zum Biespiel in einer Werkschau sämtliche Arbeiten der Choreografin Maguy Marin in diversen Theatern des Großraums Paris gezeigt, deren Programme bislang nicht das exklusive Label "Festival d’Automne" zierte. Auftrag des Festivals bleibt aber unverändert, exemplarische Handschriften des französischen Theater mit der internationalen Avantgarde zu konfrontieren und so Paris als führende Kulturmetropole zu behaupten.