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Das Finanzsystem, ein lebender Toter

Bislang kommt die Politik beim Versuch, Banken daran zu hindern, die Welt an den ökonomischen Abgrund zu führen, nicht voran. Das Buch von Lawrence G. McDonald könnte den Reformeifer der Politiker durchaus befördern. Es beschreibt, wie es kam, dass die Lehman Brothers im September 2008 Konkurs anmelden musste.

Von Tom Goeller |
    Schuld an allem ist Bill Clinton, jener amerikanische Präsident, der wegen eines Sexskandals 1998 beinahe aus dem Weißen Haus geflogen wäre. Dies zumindest behauptet Lawrence G. McDonald, der ehemalige Vizepräsident im Wertpapierhandel der Investmentbank Lehman Brothers. Natürlich ist Bill Clinton nicht alleine daran schuld, dass sich die gesamte Welt in einer Finanz- und Wirtschaftskrise befindet, die der von 1929 gleichkommt. Dass es jedoch zu dieser Parallele kommen konnte, das belegt Mc Donald nachvollziehbar und dazu trug Clinton sehr wohl bei.

    Denn er war es, der das sogenannte "Glass-Steagall-Gesetz" aufhob, das nach dem Börsenkrach von 1929 erlassen worden war. Dieses Gesetz verhinderte, dass Banken selbst am Aktienmarkt spekulieren konnten, und schützte vor allem das Geld der kleinen Einleger.

    Hintergrund der Aufhebung dieser Spekulationssperre war laut McDonald, dass Clinton seiner Partei der Demokraten die Gunst der schwarzen Wähler erkaufen wollte, indem er dieser Gruppe, die selten über ein Sparkonto verfügt, die Möglichkeit einräumen wollte, ohne Eigenkapital ein Haus zu erwerben.

    Grundsätzlich ist es so, dass in den USA viel mehr Menschen Geld anlegen müssen als in Europa, weil sie keine oder nur eine kleine Renten- und Arbeitslosenversicherung haben und hohe Schul- und Studiengebühren bezahlen müssen. Also sichern sich die meisten Amerikaner damit ab, dass sie einen Teil ihres Einkommens bereits im Kindesalter in diverse Investmentfonds, Aktien und Anleihen investieren, stets in der Hoffnung, mit einer hohen Rendite aus diesen Anlagen die Schulzeit finanzieren, oder schlechte Zeiten überbrücken zu können - oder einfach im Alter ausgesorgt zu haben.

    Die von Clinton betriebene Deregulierung führte nun dazu, dass sich immer mehr Amerikaner Eigenheime kauften, ohne auch nur über einen Cent Eigenkapital zu verfügen. Die Häuser wiederum wurden von Investmentfonds gebaut, in die andere Sparer Geld investiert hatten. Die große Zockerei begann. Und einer der Hauptgeldgeber für Investments in Immobilienfonds war die Lehman-Bank. McDonald erinnert sich, dass sein Vater damals meinte:

    Das ist so, als gäbe man einem Spieler Zugang zu den Ersparnissen anderer Leute.
    Letztlich hat Präsident Clinton das Gegenteil von dem erreicht, was er beabsichtigte: Denn natürlich wurden durch das neue Gesetz viele arme schwarze Bürger in die Falle gelockt. Zudem trieb seine Gesetzesänderung die ganze Welt an den Rand des Ruins und Lehman Brothers in die Pleite.

    Denn diese anderen Sparer kamen auch aus Europa in Form von Anlegern, die bei ihrer europäischen Bank Geld eingezahlt hatten. Diese europäischen Banken, wie zum Beispiel die deutsche Hypo-Realestate-Bank, liehen den amerikanischen Banken nun deutsches Geld, ohne genau zu wissen, wofür die amerikanischen Banken die gigantischen Summen brauchten: Hauptsache, die Prozentzahlen auf dem Papier sahen gut aus. Jeder machte jedem etwas vor, bis - ja, bis diejenigen, die die Häuser gekauft hatten, mit ihren Ratenzahlungen nicht mehr nachkamen, dadurch die Immobilienpreise fielen, und - so unglaublich es klingt - dies reichte, um binnen eines Jahres Hunderte von Banken in den Ruin zu stürzen sowie ganze Staaten wie Island, Irland und Großbritannien an den Rand der Zahlungsfähigkeit zu bringen.

    Am Ende mussten sowohl in den USA als auch in Europa alle Regierungen mit Stützkäufen eingreifen, um den totalen Kollaps zu verhindern. Nur bei der Rettung von "Lehman Brothers" weigerte sich die amerikanische Regierung. Denn zur Zeit der Insolvenz von Lehman hatte die amerikanische Regierung bereits drei Großbanken mit Milliarden Dollar gestützt. Aber vielleicht war es einfach nur ein persönlicher Krieg zwischen dem damaligen Finanzminister Henry Paulson und dem Lehman-Chef Fuld, wie McDonald glaubt:

    Unterschwellig war die Feindseligkeit zwischen Paulson (ehemals Chef vom Lehman-Konkurrenten Goldman Sachs) und Fuld zu spüren. Fuld sah im Finanzminister einen lässigen hochgebildeten Sportstar, der es mühelos zu etwas gebracht hatte. Und Paulson sah in Dick Fuld eine selbstgerechte, arrogante Figur, der es selbst jetzt, in der dunkelsten Stunde für Lehman, an Demut mangelte.
    Es sind diese und viele ähnliche Einblicke, mit denen McDonald die Finanzkrise so menschlich, so nachvollziehbar und letztlich dadurch auch so banal macht. Er bricht den hohen finanztechnischen Fachjargon herunter auf verständliches Normalniveau, erklärt in verblüffend simpler Weise was Leerverkäufe, Cashflow und der Handel mit Credit Default Swaps sind und wofür der Bulle und der Bär an der Wall Street stehen. All die komplizierten Worthülsen der Branche, die, wie er sagt, tatsächlich die Anlegerkunden nur in die Irre führen sollen, verbindet er oft mit drastischen Beispielen aus dem Alltagsleben: So erklärt er in Bezug auf die Pleite des Enron-Konzerns im Dezember 2001:

    (Diese Firma) hatte Wandelanleihen herausgegeben, bevor sie Insolvenz anmeldete, mit dem Ziel, Geld einzutreiben, obwohl schon alles verloren war. Bald kam ich zu der Erkenntnis, dass viele Wandelpapiere sozusagen die Absackerkneipe auf der Wall Street darstellen, eine Möglichkeit, in letzter Minute um drei Uhr morgens noch einen Drink zu bekommen. Sie sind der Zaubertrick, den Investmentbanken anwenden, wenn sie reine Schulden in eine wunderbare Anlagemöglichkeit verwandeln.
    McDonald offenbart einen tiefen Einblick in die amerikanische Finanzpolitik der letzten vierzig Jahre. Er beschreibt nicht nur die Höhen und Tiefen der letzten Jahrzehnte am eigenen Erleben, sondern kann sogar auf die Erfahrung seines Vater zurückgreifen, einem erfolgreichen Anleger, bei dem er schon als Kind lernte.

    McDonald schildert nicht nur aus nächster Nähe, wie realitätsfern das Finanzsystem und das Bankenmanagement der USA jahrzehntelang gehandelt haben: Er erläutert auch, welche politischen Fehlentscheidungen auf höchster Ebene diesen Untergang heraufbeschworen haben, siehe Bill Clinton.

    Indem McDonald in einer klaren Sprache und anhand zahlreicher großer und kleiner Beispiele aus der amerikanischen Wirtschaft seinen Aufstieg ins Management von Lehman Brothers schildert, führt er den Leser Schritt für Schritt an die im September 2008 eintretende Katastrophe heran. Noch nie konnte man derart simpel eine scheinbar hoch komplizierte Pleite nachvollziehen, wie bei McDonald.

    Lawrence G. McDonald: "Dead Bank Walking". Wie Lehman Brothers zusammenbrach. Die 416 Seiten aus dem Hause Hoffmann und Campe kosten 22 Euro, ISBN: 978-3-455-50156-8.