Archiv


Das französische Testament

Sibirien, Ende der sechziger Jahre: Weit jenseits des Eisernen Vorhangs bläht sich im Kopf des heranwachsenden Aljoscha der Mythos von Paris. Jeden Sommer wird er von seiner Großmutter Charlotte geschürt, die ihm während der Ferien von ihrer Kindheit in der französischen Metropole erzählt. Ihr alter Koffer mit Andenken und Zeitungsartikeln aus der Belle Epoque liefert das Traumfutter. Aljoschas wachsendes Fernweh stempelt ihn jedoch zum Außenseiter, zum Sonderling. Bald fühlt er sich verloren zwischen den Kulturen, zwischen der russischen und der französischen Sprache, zwischen den Wonnen seiner Tagträume und den Härten des sowjetischen Alltags.

Christoph Vormweg |
    Der 1957 in Sibirien geborene, heute in Frankreich lebende Andrei Makine hat in der Figur Aljoschas seinen eigenen Werdegang verarbeitet. Der Motor seines Romans "Das französische Testament" ist die Sucht des Kindes nach Erzähltem, sein unbändiges Staunen über ferne, geheimnisvolle Welten. Aljoschas inniger Pakt mit der Großmutter beruht auf Gegenseitigkeit. Seine Faszination für das Paris der Jahrhundertwende ist ihr Trost. Denn seit den Revolutionswirren ist ihr die Rückkehr nach Frankreich verwehrt. Ihr Balkon mit Blick über die weite sibirische Steppe wird Aljoschas literarische Schule, die Startrampe seiner wuchernden Phantasien. "Denn offenbar" - so heißt es im Text - "führten alle Wege in unserem Atlantis ins Reich der Sinne."

    Aljoschas imaginäres Schmachten in den Details der Belle Epoque - so beim Staatsempfang für Zar Nikolaus II oder bei Marcel Proust in Neuilly - macht den Beginn des Romans "Das französische Testament" zum leicht verdaulichen Schmöker. Das hat seinen tieferen Sinn: Denn mit dem Träumer läßt Andrei Makine auch den Leser auf die rauhe Alltagswirklichkeit in der Sowjetunion auflaufen. Dem Zuckerbrot der Kopfgeburten folgt die Peitsche der Realität. "Das Leben", muß Aljoscha erkennen, "scherte sich nicht um ausgewogene Zusammenhänge. Es kippte seinen Inhalt einfach aus."

    Der aufreizend verklärte Traum vom fernen Frankreich zerschellt am Lebenshunger des Pubertierenden. Aljoscha versetzt sich nicht länger in den französischen Präsidenten, der in den Armen seiner Geliebten liegt, sondern jagt selbst den Mädchen nach. Seine erste Liebesnacht, ein frostiges Trauerspiel, ist nur eine von vielen Ernüchterungen, die ihn hellsichtig machen für die existentiellen Ambivalenzen. Mehr noch, seine Suche nach Identität zwischen den Kulturen sensibilisiert ihn für die eigenen männlichen Abgründe: für die Geborgenheit im Gehorsam, für die Faszination der Gewalt, für die Machtgelüste gegenüber Frauen.

    Die Stationen dieser Desillusionierung verdichtet Andrei Makine in frappierenden Bildern. Aljoschas persönliche Erfahrungen vermischen sich dabei mit den Erinnerungen der Großmutter an die Stalin-Zeit. Um ihr Vertrauensverhältnis nicht zu gefährden, akzeptiert sie nämlich sein bohrendes Verlangen nach der Wahrheit hinter den Fassaden des Scheins. So erfährt er, wie sie als junge Frau nach einer Mehrfachvergewaltigung in der Wüste am Rücken einer sterbenden Saigaantilope die eisige Nacht überlebt. Oder wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg zufällig zu einem Platz gelangt, wo es vor Kriegskrüppeln, den im Volksmund sogenannten "Samowaren", nur so wimmelt. Als die Großmutter einem der Bettelnden in seiner rollenden Kiste einen Geldschein hinhält, entfacht sie unter den verstümmelten Frontveteranen eine groteske Massenschlägerei.

    Mit solchen eindringlichen Bildern und harten Kontrasten schürt Andrei Makine in seinem Roman "Das französische Testament" die Emotion. Im Schlußteil kommt es zum absehbaren Showdown. Denn das politische Tauwetter ermöglicht Aljoscha in den Achtziger Jahren den Sprung über den Eisernen Vorhang nach Paris. Der Mythos im Kopf und die Realität vor Ort klaffen natürlich weit auseinander. Seine Lehr- und Wanderjahre gipfeln in einer letzten großen Desillusion. Seine Versuche, in der Stadt des Lichts als Schriftsteller zu reüssieren, werden hochmütig abgeschmettert. Ihm, dem "russischen Kauz", wollen die Verleger nicht abnehmen, daß er seine Romane auf französisch schreibt. So schrumpft die Traumwelt seiner Kindheit immer mehr zum Kampfplatz wider die nackten Realitäten. Oft lebt Aljoscha ohne festen Wohnsitz, einmal sogar wochenlang im Grabhaus eines Pariser Friedhofs. Inneren Halt findet er aber sinnigerweise auch als Mittdreißiger in der Ferne. Er schreibt an einem Roman über das Leben seiner Großmutter Charlotte und versteigt sich in die fixe Idee, ihr eine Reise in ihre Heimatstadt zu ermöglichen. Aljoschas Hartnäckigkeit weckt Erinnerungen an einige Provinz-Helden aus Balzacs "Menschlicher Komödie", die nach Paris kommen, um dort zu Ruhm zu gelangen. Auch sein Schöpfer, der heute vierzigjährige Andrei Makine, hat keine Mühe gescheut. Seine ersten fünf Werke schrieb er vor allem auf Parkbänken. Der lange Atem hat sich - nach vielen Demütigungen - bezahlt gemacht. Daß sein Roman "Das französische Testament" 1995 mit den beiden wichtigsten französischen Literaturpreisen ausgezeichnet worden ist, verwundert nicht. Andrei Makine bietet das, was heute in Frankreich Mangelware ist: einen anrührenden Roman, prall mit Schicksalen, Anekdoten und großen Gefühlen, einen Roman, der in sehr persönlichen Bildern die blutige Geschichte des 20. Jahrhunderts in West- und Osteuropa vergegenwärtigt. Andrei Makine besticht nicht durch intellektuelle Finesse, sondern durch eine mitreißende Emotionalität und ungekünstelte Lebensnähe.