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Das fremde Abendland?

Bauchtanz, Kamele, Perserteppiche - seit Jahrhunderten prägen diese Klischees den westlichen Blick auf den Orient. Genährt durch Berichte von Abenteurern, Händlern oder Schriftstellern wie Karl May, hat sich das Bild des märchenhaften Orient in den westlichen Köpfen gefestigt. Wie aber sieht es umgekehrt aus?

Von Barbara Weber | 19.08.2010
    "Meine Mutter als Deutsche hat natürlich auch ihr Deutschtum im Iran weitergelebt. Insofern hatte ich wirklich ein ausgeprägtes deutsches Bildnis, das aber nicht unbedingt dann mit der Realität übereingestimmt hat, die ich hier vorgefunden habe. Nehmen wir das Thema Pünktlichkeit: Ich wurde zum Beispiel erzogen, dass wir als Orientalen - so sagte mein persischer Vater - immer darauf achten sollten, pünktlich zu sein, was dazu geführt hat, dass ich hier als Einzige häufig alleine stehe, während meine deutschen Freunde sich die Zeit nehmen und meinen, ich solle mich nicht so bürgerlich verhalten", sagt Dr. Schoole Mustafawy, Leiterin des Referates Osteuropäische Kunst- und Kulturgeschichte, Badisches Landesmuseum Karlsruhe.
    "Mit dem Orient verbinde ich assoziativ erst mal Sonne, eine exotische Märchenwelt, die Welt der Abenteuer, die Welt des Reisens, Kamele, natürlich den Sarotti Moor, Himmel über der Wüste von Paul Bowls, Kara Ben Nemsi, Gewalt, Irrationalität, bauchtanzende Frauen, Sklaven und Herren, Grausamkeit, das Märchen vom kleinen Muck, lasziv dahin räkelnde Haremsdamen und natürlich dann auch die Geschichten aus 1001 Nacht."

    "In der ersten Linie ist es ja so, dass wir den Okzidentalismus - übrigens neu definiert als ein positiv besetzter Begriff - weltweit erstmalig in einer Ausstellung in den Fokus rücken, um zu zeigen, auch die außereuropäischen Kulturen, in der Regel sind es Beispiele aus dem orientalischen Raum, haben über die beiden letzten Jahrhunderte sehr produktiv Anregungen und Adaptionen aus der westlichen europäischen Kulturwelt bezogen. Das stellen wir zunächst mal als Fakt in dieser Ausstellung vor", sagt Professor Harald Siebenmorgen, Kunsthistoriker und Direktor des Badischen Landesmuseums.

    "Dann kommt für uns die entscheidende Frage, die man vielleicht am besten mit einer Aussage einleiten kann, die vor einiger Zeit einmal der damalige Außenminister Frank Walter Steinmeier gemacht hat, nämlich er hat gesagt: Wir Deutschen müssen lernen, uns mehr mit den Augen der Anderen zu sehen, das heißt, dass wir uns nicht zufriedengeben, sollten mit den zufälligen Adaptionen und den zufälligen Aufnahmen von Elementen westlicher Kultur in den orientalischen, sondern dass wir da auch aktiv an der Gestaltung wirken sollten."

    Die Ausstellung. Erstens:
    "Wir haben zu Beginn den Orientalismus zum Thema gemacht, um den Besucher abzuholen bei einem ihm bekannten Phänomen."

    Zweitens:

    "Anschließend beschäftigen wir uns mit der intellektuellen Auseinandersetzung, das heißt, Reiseschriftsteller, Gesandte, Geistliche, die den Weg nach Europa gefunden haben und sich mit dem Westen tatsächlich auseinandergesetzt haben."

    Drittens:
    "Ein großer Bereich wird sich den Bilderwelten widmen. Dazu gehören natürlich Fotografien. Es gehören dazu auch Gemälde bis hin zu Plakaten. Unterschiedliche Themen werden hier angesprochen von den Herrscherbildnissen bis hin zu den Heiligenbildern, den Sehnsuchtsorten, Genrebildern, Paradies- und Höllevorstellungen bis natürlich hin zu den Frauen."

    Viertens:
    "Und den letzten Abschluss haben wir hier in der Ausstellung mit Alltagswelten. Im Grunde genommen möchten wir zeigen, wie lebt heute ein Orientale und welche Einflüsse zeigen sich aus der hiesigen Welt in seinem ganz persönlichen Umfeld."

    Der Orient aus westlicher Perspektive. Carsten Niebuhr, ein deutscher Wissenschaftler in dänischen Diensten, war einer der ersten Orientreisenden im 18. Jahrhundert. Sein etwas skurriler Auftrag: Er sollte den Wahrheitsgehalt der Bibel beweisen. Einmal in Ägypten angelangt, interessierte sich Niebuhr weniger für seinen ursprünglichen Job. Er studierte vielmehr die Einwohner und die Regierung von Kairo.
    Napoleon hatte auf seiner Expedition nach Ägypten auch Wissenschaftler und Künstler mitgenommen, die historische Denkmäler erforschen und zur Modernisierung des Landes beitragen sollten. Legendär sein Ausspruch im Anblick der Pyramiden:

    "Soldaten! .... Denkt daran, dass von diesen Monumenten 40 Jahrhunderte auf euch herabblicken!"

    Gerhard Rohlfs zählte im 19. Jahrhundert zu einem der bedeutendsten Forschungs- und Entdeckungsreisenden. Fürst Hermann von Pückler-Muskau brachte zum Schrecken der Zuhausegebliebenen nicht nur positive Nachrichten, sondern auch eine zweite Lebensgefährtin, die äthiopische Sklavin Machbuba, mit. Macke, Klee, Moilliet - die Reisen dieser Künstler zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind legendär und fanden ihren Niederschlag in einer opulenten Schaffensperiode. Sie und noch viele andere prägten nachhaltig das Orientbild im Okzident: der Orient als Gegenentwurf zum Okzident. Denn im Westen hatten die Französische Revolution und die in England begonnenen industriellen Umwälzungen traditionelle Gesellschaftsformen, Welt- und Lebensauffassungen unwiederbringlich geändert. Denken und Handeln wurden radikal bestimmt von Vernunft, Freiheit, Individualismus, Säkularismus, Schnelligkeit und Planbarkeit. Max Weber hat diese Entwicklung als "Entzauberung der Welt" bezeichnet. Der Kolonialismus schuf im westlichen Europa unglaubliche Reichtümer. Die Wissenschaft konnte sich von der Vormundschaft religiöser Machtstrukturen befreien. Die Einführung der Rechtsstaatlichkeit und des Gewaltmonopols schufen die Grundlage für die wirtschaftliche Entwicklung.

    Der Okzident aus östlicher Perspektive: Die Intellektuellen der arabischen Welt registrierten voller Verwunderung die dramatischen Umwälzungen im prosperierenden Westen. Diese standen im Gegensatz zu ihrer Wirklichkeit:

    "Das Osmanische Reich hat im Lauf des 18. Jahrhunderts seine führende Rolle als europäische Großmacht oder auch als Großmacht gegenüber Russland und Persien ausgespielt aufgrund einer rückständigen Technik, einer rückständigen Verwaltung, hat sich nicht so schnell entwickelt wie der Westen."

    Bernd Thum, Professor für Mittelalterwissenschaft, Universität Karlsruhe.

    "Reformbemühungen gab es seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts. Da gibt es die berühmte Tanzimat – Periode, die in der türkischen Geschichte auch heute noch eine Rolle spielt. Aber es ist eben doch nicht gelungen, die Verwaltung und die Armee auf den westlichen Standard zu bringen. Die Wirtschaftskraft hat nicht ausgereicht, diese Reform auch zu bezahlen, sodass sehr bald wirklich auch dramatische Verhältnisse eingetreten sind, nämlich der Staatsbankrott in den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts und in Folge dann auch, die Verabschiedung der Reform 1878 durch den türkischen oder osmanischen Sultan."

    Nicht nur das Osmanische Reich, auch die restliche arabische Welt und der Iran setzten sich mit der Machtentfaltung des westlichen Europas auseinander, mit seinen politisch-gesellschaftlichen Ordnungen, der Wissenschaft und seinem Weltbild. Das führte einerseits zur Selbstkritik aber auch zur Neubesinnung auf die eigenen Potenziale. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich eine kultur- und religionspolitische Reformbewegung, im Libanon auch säkulare Strömungen. Die mündeten im 20. Jahrhundert in eine laizistische Bewegung. Der epochale Aufschwung des Islamismus Ende des 20. Jahrhunderts hängt nach Meinung des Philosophen Sadik al-Azm mit dem Zusammenbruch des arabischen Nationalismus im Sechstagekrieg 1967 zusammen. Die katastrophale Niederlage der arabischen Armee führten demnach zu einer ideologischen Leere, die zu füllen der politisch organisierte Islam bestrebt ist.
    Identifikation mit dem Anderen: Bilderwelten.

    "Mein Lieblingsobjekt ist ein Poster aus dem Iran, das das Bildnis des Propheten Mohammad in jungen Jahren ungefähr im Alter von 18 Jahren zeigt. Dieses Bild finden sie im Iran im Basar, in Läden, wo es als Zeichen des Segens gilt, auch in privaten Wohnräumen. Und jeder verbindet damit das einzig existierende Bildnis: ein Jüngling, mit leicht androgynen Zügen, einer halb bedeckten Schulter und einem Turban auf dem Kopf. Unterhalb dieses Posters steht geschrieben, dass das Original, das einzig existierende Original, befindet sich in Europa und ist uns geraubt worden," so die Kuratorin Schoole Mustafawy

    "Wenn Sie Feldforschung betreiben - und die Forschung hat in diesem Fall ein Schweizer unternommen - erkennen Sie, dass dies ein Bildnis ist, das auf der Vorlage einer Fotografie der beiden berühmtesten orientalistischen Fotografen, nämlich Lehnert und Landrock, beruht, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts Tunis bereisten, dort ein Bild von einem Fellachenjungen namens Mohammad anfertigten und das nach knapp 80 Jahren den Weg in den Iran gefunden hat, wo es zum tatsächlichen Bildnis des Propheten Mohammad wurde."

    Eine andere Fotografie zeigt eine liegende, etwas mollige, rundgesichtige Dame. Auch dieses Bild hat eine Geschichte:

    "Es gab einen Maler im 17. Jahrhundert, der nach Europa geschickt wurde, um sich beispielsweise die liegende Venus von Tizian anzusehen."

    Ein Motiv, das auch auf orientalische Betrachter eine große Faszination ausübte und sehr früh in den iranischen Kontext adaptiert wurde.

    "Und endet bei einer Dame, wie Sie hier oben sehen, einer Haremsdame, einer echten Haremsdame des Kaisers aus der Mitte des 19. Jahrhunderts aus dem Iran, der seine Damen ebenso lasziv liegend fotografiert, und zwar selbst fotografiert. Wenn Sie genauer hinsehen, erkennen Sie den Tutu. Heute gilt dieser Tutu im Iran als ein typisches Bekleidungsstück. Fakt ist aber..", dass der Kaiser das kurze Röckchen in den 1870er-Jahren zum ersten Mal bei den Balletttänzerinnen in Paris in der Oper sah. Er orderte gleich eine größere Anzahl des Bekleidungsstücks und
    "...folglich durften seine Haremsdamen ab diesem Zeitpunkt in diesem kurzen Röckchen herumlaufen", die Beine keusch bedeckt mit einer Pluderhose.

    Leben wie im Westen: Alltagswelten. Nicht nur das französische Tutu erfreute sich großer Beliebtheit. Auch andere Bekleidungsstücke fanden den Weg in den Osten, weiß der Volkskundler Andreas Seim:

    "Zum Beispiel die Staatsbeamten westliche Kleidung tragen mussten, diesen Staatsfrack, und unter anderem als Signal - damals war das ein Novum - der Turban wurde verpönt, durfte also nur noch von der Geistlichkeit getragen werden, und die Staatsdiener mussten einen Fez tragen, was die Loyalität zum Staat bekundet hat."

    Auch das währte nicht lang. Attatürk eliminierte auch kurzerhand den Fez.

    "Er hat im Grunde genommen in den 30er-Jahren den Panama–Hut protegiert. Er hat das Fez, was die reformfreundlichen Sultane im 19. Jahrhundert eingeführt hatten abgeschafft. Er wollte quasi die alten Hüte vom Kopf schlagen und hat den Panama-Hut, den letzten Chic der 20er- und 30er-Jahre, lanciert.""

    Welches Bild jenseits von Tutu und Panama-Hut nehmen ausländische Reisende mit? Professor Harald Siebenmorgen hat seine Zweifel, ob das, was an Souvenirs hierzulande angeboten wird, ein angemessenes Bild von Deutschland in der Welt vermittelt. Ein Objekt hat er vor Jahren in Heidelberg erstanden:
    ""Für mich ist da das signifikanteste Beispiel ein Berliner Bär, der sitzt im deutschen Wald mit Eichhörnchen und Tannenzweigen, hat einen Waterkantkragen an, ein bayerisches Halstuch um und auf dem Kopf einen roten Schwarzwälder Bollenhut. Das sind die Klischees, die in der Welt über Deutschland existieren."
    In die gleiche Kategorie gehört das Bild - gerne einer Schweizer Berglandschaft - auf einer Baumscheibe, heutzutage häufig eine Nachbildung aus Plastik. Motiv und Abbildung, im Vordergrund oft ergänzt durch orientalische Figuren, werden jetzt wiederum in der Türkei angeboten für deutsche Touristen.

    "Am Ende der Ausstellung werden sie konfrontiert mit der guten türkischen Stube."

    Ein Schweizer Ehepaar lebte und arbeitete zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Istanbul und stellte diesen vermeintlich typisch orientalischen Raum zusammen, bestückt mit Möbeln aus der Türkei, Syrien und dem Iran:

    "Das Schöne an diesem Zimmer ist - es steht am Ende wieder als unser Blickwechsel - das ist nämlich genau die Vorstellung, die wir immer vom Orient haben, wenn Sie aber genau hinsehen, erkennen Sie, es sind Stühle und Sessel, wie wir Sie natürlich aus dem europäischen Raum kennen, also auch so eingerichtet, wie wir es aus dem europäischen Raum gewohnt sind, nämlich dass ein Tisch mitten auf einem Teppich steht, dass würden Sie im orientalischen Raum so nicht finden, das heißt, und da muss ich eben die Klammer setzen, man findet es inzwischen schon, es sind Prestigeobjekte, die man jetzt genauso hinstellt, wie in der europäischen Welt, häufig aber immer noch nicht benutzt."

    Orient begegnet Okzident - welches Fazit ziehen die Macher aus der Beschäftigung mit dem Thema der Ausstellung? Was fehlt - so Professor Bernd Thum - ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Okzidentalismus an Universitäten und Forschungseinrichtungen des Nahen Ostens und Nordafrika.

    "Wo bestimmt Ansätze auch vorhanden sind, dasselbe würde ich natürlich auch von unseren Forschungseinrichtungen erwarten, die - sagen wir mal - formal die wissenschaftlichen Methoden natürlich anwenden. Aber da gibt es ein Defizit, nämlich die Wirkung in die Öffentlichkeit hinein."

    Die Kuratorin der Ausstellung, Dr. Schoole Mustafawy, zeigt ihre Verwunderung über einen ganz anderen Aspekt:

    "Ich war erstaunt darüber, wie wenig unsere europäischen Besucher oder auch unsere europäischen Mitarbeiter im Moment ihre eigene Kultur kennen. Als ich Bilder aufstellen ließ oder aufhängen ließ, die das Thema beispielsweise der Gottesmutter oder aber auch des Messias in den Mittelpunkt stellen und verändern natürlich auf eine eigene Weise. Dazu muss man natürlich voraussetzen, wie sah denn dieses Bildnis aus? Da fehlt inzwischen der Zugang des Europäers zu seiner eigenen Bilderwelt. Und das finde ich erstaunlich."
    Poster "Mādar" ('Mutter'), Iran, 21. Jh.
    Poster "Mādar" ('Mutter'), Iran, 21. Jh. (Badisches Landesmuseum Karlsruhe)