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Das ganze Ausmaß der Barbarei

Die Liste der von Medizinern unter dem Nationalsozialismus begangenen Verbrechen erscheint so unfasslich und monströs wie bezeichnend für die braune Barbarei. Im vor 60 Jahren eröffneten Nürnberger Ärzteprozess wurde Rechtsgeschichte geschrieben, die für den Berufsstand bis heute Mahnung zur Verantwortung ist.

Von Anselm Weidner | 09.12.2006
    "Als der Prozess am 9.Dezember 1946 begann, fuhr ein schneidender Wind über die Ruinenhügel Nürnbergs und warf Wolken groben Staubes gegen jedermann. Die Kälte war beklemmend. Und so blieb die Atmosphäre."

    Alexander Mitscherlich und Fred Mielke in ihrer 1949 erstmals unter dem Titel "Wissenschaft ohne Menschlichkeit" erschienenen Dokumentation des Nürnberger Ärzteprozesses. In dem ersten von zwölf Nachfolgeprozessen des alliierten Nürnberger Tribunals gegen die Hauptkriegsverbrecher standen 23 Verantwortliche für die Medizinverbrechen des Dritten Reiches vor Gericht, 19 Ärzte, darunter viele angesehene Universitätsprofessoren, eine Ärztin, und 3 hohe Beamte des faschistischen Sanitäts- und Gesundheitswesens.

    "Karl Brandt - Leibarzt Adolf Hitlers, Gruppenführer in der SS und Generalleutnant in der Waffen-SS, Reichskommissar für das Sanitäts-und Gesundheitswesen; Siegfried Handloser, ..."

    Den Angeklagten werden Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit zur Last gelegt. Aus dem Dokument Nr.NO 402, Geheimbericht über einen Sinkversuch in der Unterdruckkammer, in dem der Absturz aus einem Flugzeug in 15 Kilometer Höhe simuliert wurde, durchgeführt 1942 im Konzentrationslager Dachau:

    "Versuchsperson läßt Maske fallen, [...] klonische Krämpfe [...] nach 10 Minuten, in 7,2 km Höhe unkoordiniertes Strampeln mit den Extermitäten. Nach 13 Minuten in 5,5 km Höhe, er schreit laut, [...] nach 24 Minuten in 1 Kilometer Höhe, schreit anfallweise, grimassiert, beißt sich auf die Zunge. In 0 Metern Höhe nicht ansprechbar; macht den Eindruck eines völlig Geistesge-störten."

    Der Mann kam wieder zu Bewusstsein. Mindesten 150 der 880 im Konzentrationslager Dachau zu luftfahrtmedizinischen Experimenten gezwung-enen Häftlinge überlebten nicht. Manche der Opfer, in den Versuchsprotokollen als "rassenschänderische Berufsverbrecher und Juden" bezeichnet, werden nach den Drucksturzversuchen ertränkt, bevor sie das Bewusstsein wieder erlangt haben; anschließend werden die Luftembolien in den Hirn-, Herzkranz- und Lebergefäßen fotografiert.

    Impfstoffversuche gegen Fleckfieber und Typhus an 383 KZ-Häf-lingen in Buchenwald und Natzweiler, bei denen 97 Menschen starben, Sulfonamid-Experimente an polnischen Widerstandskämpferinnen im KZ Ravensbrück, Ermordung von 89 jüdischen Männern und Frauen im August 1943, deren Skelette als Anschauungsmaterial in einer Skelettsammlung der Reichsuniversität Straßburg dienen sollten: Wie in keinem anderen der Nürnberger Nachfolgeprozesse kommt im Ärzteprozess das ganze Ausmaß der Barbarei des deutschen Nationalsozialismus zur Sprache, einschließlich der Euthanasie, der 260.000 Menschen zum Opfer fielen.

    "In dem großen Kerker, aus den in den folgenden Wochen Nachricht um Nachricht kam, eröffnete sich keinem Schmerz die Gnade des Mitleids. Die Erkaltung der Beziehungen der Menschen untereinander ist unfaßlich, [...] erschütternd, dass sie auch den Arzt ergreift."

    Aus der Mitscherlich/Mielke-Dokumentation "Wissenschaft ohne Menschlichkeit".

    Keiner der Angeklagten bekennt sich zu seiner Schuld. Am 20. August 1947 werden die Urteile gesprochen: sieben Mal Tod durch den Strang, fünf Mal lebenslänglich, vier Haftstrafen zwischen 20 und 10 Jahren; sieben Angeklagte werden freigesprochen.Der Prozess und die folgenden Dokumentationen über die nationalsozialistischen Medizinverbrechen werden von der deutschen Ärzteschaft weitgehend ignoriert. Alle Haftstrafen,auch die lebenslangen, wurden Anfang der 50er Jahre erheblich abgemildert. In unmittelbarer Folge des Nürnberger Ärzteprozess erschien 1947 eine Stelungnahme des amerikanischen Militärgerichtshofes über "zulässige medizinische Versuche", die als Nürnberger Kodex fortan zum ethischen Maßstab für die medizinische Forschung weltweit wurde. Der Kernssatz: "Keine medizinische Forschung an Menschen ohne freiwillige Einwilligung!" Angesichts der neuen Herausforderungen in der Reproduktionsmedizin hat die moralische Auseinandersetzung um die Folgen des Nürnberger Ärzteprozesses wieder an Aktualität gewonnen.