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Das Geheimnis der aggressiven Wanderer

Medizin. - Krebs ist eine heimtückische Krankheit. Denn trotz zunächst erfolgreicher Behandlung tauchen später oft an ganz anderen Stellen des Körpers erneut Tumorzellen auf. US-Mediziner fanden jetzt neue Details heraus, wie und warum diese so genannten Metastasen entstehen.

Von Michael Lange |
    Metastasen entstehen, wenn Krebszellen durch den Körper wandern. Sie lassen sich in einer versteckten Nische nieder und bilden Tochtergeschwülste. Oft trotzen sie in ihrer Nische allen Attacken der Mediziner. Um zu verstehen, was Metastasen so gefährlich macht, haben sich Krebsforscher am Whitehead-Institut des MIT in Boston die Steuerung der Krebszellen, die für die Metastasenbildung verantwortlich sind, genauer angeschaut.
    Der Leiter der Arbeitsgruppe Robert Weinberg hatte einen Verdacht. Es könnten kleine RNS-Moleküle sein, die die Zellen zum Wandern bringen. Diese Mikro-RNS ist in der Biologie zurzeit eines der beliebtesten Forschungsthemen. Es handelt sich um kurze Ketten von Ribonukleinsäure. Sie ist ähnlich aufgebaut wie das Erbmolekül DNS, dient aber nicht als Informationsspeicher, sondern steuert die Aktivität der Gene. Die vielfältigen Möglichkeiten dieser winzigen RNS-Schnipsel haben Grundlagenforscher erst in den letzten Jahren kennen gelernt.

    "Früher glaubte man, die Regelkreise in einer Krebszelle würden von Proteinen gesteuert. Die Wechselwirkung der Proteine macht Zellen scharf und führt dazu, dass sie umher wandern. Nun haben wir festgestellt, dass die Schlüsselkomponente ein RNS-Molekül ist. Es ist winzig klein und besteht nur aus 22 Nukleotid-Bausteinen."

    Zum Vergleich: ein Erbmolekül aus DNS besitzt hunderte Millionen ähnlicher Bausteine. Das winzige Molekül namens Mikro-RNS 10b wirkt wie ein Schalter, der viele Gene an- oder ausschaltet, und deshalb kann es so große Wirkung entfalten. Wie ein Wecker weckt die Mikro-RNS die Krebszellen auf und schickt sie auf ihre fatale Reise.

    "In den letzten fünf Jahren ist uns klar geworden, dass die Entstehung von Metastasen eine Art Reaktivierung ist. Ein Programm, das normalerweise im Embryo aktiv ist, wird im Krebsgewebe wieder angeschaltet."

    Damit aus einer unförmigen Kugel von Zellen ein menschliches Wesen entsteht, müssen im Embryo einzelne Zellen kreuz und quer durch den werdenden Organismus wandern. Zunächst bilden sie so genannte Keimblätter und dann einzelne Organe. Diese Wanderung wird durch winzige RNS-Moleküle gesteuert. Wenn die Organe gebildet sind, werden diese nicht mehr gebraucht. Denn die Zeit der Zellenwanderung ist vorbei. Bei Krebs aber können sie reaktiviert werden. Und diese reaktivierten Zellen sind besonders gefährlich. Möglicherweise sind es die gleichen Zellen, die auch als Krebsstammzellen bezeichnet werden. Das sind Zellen, die sich vor der Chemotherapie schützen können und aus denen ständig neue Krebszellen hervorgehen. Die Forschergruppe um Robert Weinberg am Whitehead-Institute ist diesen besonders aggressiven Krebsstammzellen seit Jahren auf der Spur.

    "Es gibt immer mehr Hinweise, dass Krebsstammzellen mit der Entstehung von Metastasen zu tun haben. Aber wie das alles zusammenhängt, wissen wir noch nicht. Der Unterschied zwischen den Krebsstammzellen und normalen Zellen könnte auf die Wirkung einer winzigen RNS zurückzuführen sein, wie wir sie jetzt entdeckt haben."

    Ob und wie sich die Entdeckung der kleinen Mikro-RNS nutzen lässt, um Krebs besser zu bekämpfen, darüber möchte Robert Weinberg nicht spekulieren. Aber wenn die Tricks der wandernden Zellen erst einmal bekannt sind, dann ist das auf jeden Fall ein Vorteil für die Ärzte im Kampf gegen den Krebs.