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Das Gen der Guten

Nachdem der freie Willen von der Forschung zu einem biochemischen Vorgang im Gehirn degradiert wurde, ist nun das Gute im Menschen fällig: der Altruismus soll auf einem unserer Gene sitzen. Ist die menschliche Großherzigkeit also auch nur ein Produkt der Biochemie?

Von Burkhard Müller-Ullrich | 09.11.2010
    Haben wir gut gegessen, sind wir gütig; haben wir Hunger, werden wir leicht unleidig. Kinder, die herumquengeln, müssen meist aufs Klo. Und ungestilltes Triebverlangen führt zu Aggressivität. An all dem ist nichts Schlimmes, nicht einmal Erstaunliches: So gut kennen wir uns, um zu wissen, dass Geist und Materie durchaus zusammenhängen und dass man, dem Aphorismus Winston Churchills folgend, dem Körper Gutes tun soll, damit die Seele Lust hat, darin zu wohnen.

    Aber Hirn- und Genforschung haben in letzter Zeit Zusammenhänge aufgedeckt, vor denen wir die lebenserfahrene Gelassenheit verlieren. Denn da geht es gewissermaßen um die Geschäftsgrundlage menschlicher Existenz: den freien Willen. Ohne ihn wäre alles nur noch Kybernetik, eine Abfolge von Zwangsläufigkeiten: aus A folgt B, Geschichte und Kultur werden zu Nebenwirkungen biochemischer Prozesse.

    Jetzt soll auch noch die menschliche Großherzigkeit, die reine, zweckfreie Hilfsbereitschaft einer genetischen Anlage zuzuordnen sein. Irgendwelche Informationssequenzen auf unserem DNA-Strang legen einen molekularen Schalter um, der die Ausschüttung von Botenstoffen im Gehirn steuert. So entsteht also ein grundguter Mensch, im Gegensatz zu einem grundbösen. Natürlich – nie war das Wort angebrachter! – natürlich können beide nichts dafür. Ethik ist ab sofort ein sinnloses Wort; Schuld und Sühne sind zu verschrotten.

    Die philosophische Panik, die einen da befallen mag, ähnelt jener tiefen Demütigung, die einst Charles Darwin der Menschheit zufügte. Affenverwandte, statt Krone der Schöpfung – Darwins Zeit- und Artgenossen mussten an dieser Degradierung lange kauen. Jetzt aber gelangen wir mit unserer Gedanken- und Gefühlsausstattung auf ein noch viel niedrigeres Niveau als das äffische. Wir nähern uns dem vegetativen Nullpunkt, der Auflösung in Substanzen.

    Doch vielleicht sollten wir das fremde Wesen mit dem steinernen Gesicht, als das wir uns da in den neuen Forschungen entgegentreten, einmal ganz wissenschaftlich-aufmerksam studieren und daraus praktische Schlussfolgerungen ziehen, statt in Panik zu verfallen. Wenn es ein Altruismus-Gen gibt, dann gibt es sicherlich auch ein Intelligenz-Gen (oder mehrere). Wenn es sie gibt, dann nützt es nichts, dagegen zu protestieren.

    Da außer den Genen auch das Leben seine Wirkung tut, kann man in Kenntnis der einen das andere anpassen. In der Medizin geschieht das selbstverständlich, in der Bildung noch nicht. Mit dem Güte-Gen oder dem Gut-Gen ist nun auch die früher sogenannte Herzensbildung betroffen. Die einen haben es, die an deren brauchen etwas Nachhilfe, dann wird es schon gut gehn.