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Das Gesamtwerk

Das Schaufenster des Tabakladens/ Vor dem hell erleuchteten Schaufenster/ Des Tabakladens standen sie zwischen vielen anderen./ Zufällig trafen sich ihre Blicke/ Und drückten, etwas schüchtern und zögernd,/ Die verbotene Begierde ihrer Körper aus ...

Hans-Jürgen Heinrichs |
    Diese Präzision und Kargheit in der Beschreibung, die Erfassung eines Augenblicks im privaten alltäglichen Leben und in der Geschichte haben die Lyrik des 1863 als Kind griechischer Eltern in Alexandria geborenen und dort, am Tag seines siebzigsten Geburtstages, 1933, gestorbenen Dichters Konstantinos Petrou Kavafis berühmt gemacht. Seine historischen Gedichte und seine Liebeslyrik überlappen sich, sind Teile einer poetischen Erschließung von Welt. Nicht nur, dass die eigenen erotischen Phantasien auch in weit zurückliegenden geschichtlichen Ereignissen ausgehandelt und die Historie ins eigene Erleben verwoben wird; auch auf der Ebene der Sprache wird diese gegenseitige Durchdringung vorgeführt: von Obsessionen wird zuweilen so gelassen und distanziert erzählt, als handle es sich um eine Berichterstattung; und verstaubte Chroniken und Dokumente werden lebendig, scheinen geradezu aufzublühen und etwas Poetisches anzunehmen. Die Lust am Frivolen - einmal fragte er sich, ob nicht "Abartigkeit" die Quelle von Kreativität und Größe sei - und die Distanz, die Würde, ergeben diesen ganz unverwechselbaren Ton einer beschreibend historisch-erotischen Dichtung; gelehrt, ohne dabei aufdringlich zu wirken, intellektuell-manieriert, ohne darin zu erstarren, homoerotisch schwül, ohne aber sich darin zu gefallen. Zweierlei jedoch kommt in dieser Dichtung praktisch nicht vor: die Welt der Frauen und die Natur. Nur an ganz wenigen Stellen wird die Natur geschildert, aber gerade hier als erfahrungsfremd vorgeführt.

    Es ist nicht so sehr die Unfähigkeit, das Defizit eines Autors, Landschaft nicht intensiv beschreiben zu können; ausschlaggebend ist vielmehr eine veränderte Stellung des Beobachters, die Distanzierung vom impressionistischen Bild einer erlebten Fremde. Erfahrung erweist sich als eine von Imagination geprägte, ja strukturierte Form des Wahrnehmens, der Einstellung zur Innen- und Außenwelt. Innen und Außen werden vom Dichter als zwei Schattierungen einer Erfahrung erlebt. Deswegen ist die scheinbare Bewegungslosigkeit, die Seßhaftigkeit eines Kavafis gar nicht so verschieden von der Umtriebung, dem Nomadisieren derjenigen Schriftsteller im 20. Jahrhundert, die sich auch um eine neue Situierung des Beobachters im Bezug zur äußeren Welt und zu den Seelenlandschaften bemüht haben.

    Hier möchte ich stehenbleiben, damit auch ich die Natur ein wenig betrachte./ Das Meer am Morgen, ein wolkenloser Himmel,/ Hellblau; das goldene Ufer./ Alles so schön in klares Licht getaucht./ Hier möchte ich stehenbleiben und mir vorstellen, dass ich/ all dies sehe/ (Tatsächlich habe ich es kurz gesehen, als ich ankam)./ Und nicht nur auch hier meine Wunschbilder,/ Meine Erinnerungen und erotischen Phantasien.

    Mit diesem 1915 verfassten Gedicht "Das Meer am Morgen" reiht sich Konstantinos Kavafis in die Tradition der Dichter ein, die in ihrem Blick auf die Natur und die Landschaften immer vor allem einer Spur folgten: dem Imaginären, dem Vorgestellten: Was da "alles so schön in klares Licht getaucht" ist - wo eigentlich, an welchem Ort? - ist mehr eine Möglichkeit, eine Option. So könnte es gewesen sein. Der Dichter möchte sich "vorstellen", dass er es so gesehen hat. Die Natur: eine Projektionsfläche für Wahrnehmungen, Erinnerungen und (erotische) Phantasien - sie sind es doch, denen die Schlusszeile gewidmet ist, wobei "erotische Phantasien" ein äußerst neutralisierender Ausdruck für das ist, was sich an Begierden auszuleben versucht in dunklen Straßen, Arbeitergasthäusern und ärmlichen Absteigen. Überhaupt sind Neutralisation, Abstraktion und Verhüllung Konstanten im Leben und im Werk von Kavafis - ausgenommen seine letzten Lebensjahre, in denen er sich offen zu seiner Homosexualität bekannte. Was "so schön in klares Licht getaucht ist", sind die Phantasien der Schönheit und einer poetischen Sinnlichkeit, wie sie im Gedicht ihren angemessenen Ausdruck finden können und sich behaupten gegen das "schlechte Leben" in "schlechten Vierteln".

    So oft schon blickt ich auf die Schönheit,/ dass all mein Sehen voll davon./ Zeichnung des Körpers, Rot der Lippen, Lust der Glieder./ Haar wie an Statuen der Griechen;/ ... Gesichter der Liebe, wie ich sie wollte,/ in meiner Dichtung ...

    Gegen die Dominanz des Imaginären, der Begierden und des Triebhaften setzt er, wie ein Bollwerk, die Macht der Geschichte, der Tradition und des Erinnerns. Sein Blick aber, und dies ist dem Leser seiner historischen Gedichte stets präsent, ist immer der eines Dichters, nie der eines Historiographen. Viele von Kavafis' Gedichten brechen das Persönliche (die eigene Biographie) im Historisch-Allgemeinen und machen die Geschichte zur Projektionsfläche, zum Aktionsfeld des Privaten. Michael Schroeder, der Herausgeber der Historischen Gedichte, notiert:

    Die Dramaturgie der Personen und Ereignisse ist dicht, auf der Bühne sind die hellenistische Welt und das sterbende Byzanz, Kleinasien, Syrien, Ägypten, der 'melting pot' des östlichen Mittelmeers mit der 'Wirkung behutsam verwandelnder Macht', die Zentren, wo das Durcheinander groß ist: Alexandria, Antiochia, Konstantinopel ...

    Ganz in diesem Sinne hatte auch Giorgos Seferis davon gesprochen, dass Kavafis' Welt dort angesiedelt sei, wo "das Durcheinander groß ist". Man mag beim Lesen seiner Gedichte und Texte versucht sein, hinter dem Autor den Menschen kennenzulernen, aber am Ende ist es doch immer nur die poetische Evidenz, die zählt.

    Kavafis selbst war äußerst skeptisch in bezug auf den künstlerischen Wert seines Werkes und ließ nur einige wenige Gedichte und Zyklen in Zeitschriften erscheinen. Sein Ruhm gründete sich lange Zeit auf eine Art Mundpropaganda seiner Freunde, denen er einzelne Texte gab.

    Mit der Edition des Gesamtwerkes sowie einzelner Gedicht- und Textkonvolute ist ein Autor zugänglich geworden, der nun endlich von der Peripherie ins Zentrum gerückt wird - ähnlich wie zum Beispiel der portugiesische Dichter Pessoa. Man erkennt in ihnen nicht nur die wichtigsten Dichter ihres Landes, sondern auch eine ganz eigene Kraft in der Verbindung von Tradition und Avantgarde. Marguerite Yourcenar charakterisiert die von Kavafis gestaltete Welt besonders anschaulich:

    eine Art in sich geschlossenes Labyrinth, in dem das Schweigen und das Geständnis, der Text und der Kommentar, die Emotion und die Ironie, die Stimme und das Echo sich unentwirrbar vermischen und wo Vermummung zu einem Aspekt der Nacktheit wird. Aus der komplexen Reihe von Mittelspersonen löst sich schließlich eine neue Wesenheit, das Selbst, eine Art unvergängliche Person.