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Das Gesamtwerk

Nichts als ihre Bedeutung für die moderne Literatur verbindet sie, den von der Geschichte gebeutelten deutschen Sozialisten und Dichterproleten mit der Mütze, der seinen schlechten Ruf sorgfältig pflegte, und den englisch erzogenen Griechen, Angehörigen der reichen Oberschicht Alexandrias, der sein ereignisloses Bürokratenleben im Dritten Kreis des ägyptischen Ministeriums für Wasserwirtschaft verbrachte und nachts, wenn seine Mutter schlief, ins Attarineviertel zu den Jungen schlich, die für einen tálliro mitkamen.

Sibylle Cramer |
    1863 in Alexandria geboren, geblieben und siebzigjährig gestorben, hinterließ er ein zu Lebzeiten unvollständig veröffentliches Werk, das in vierzigjähriger Arbeit seine filigrane Form erhielt: 154 Gedichte.

    Es ist ein intimer Schnappschuß aus dem Familienleben der Kunst: Bertolt Brecht bei der Lektüre des Alexandriners, der um die Jahrhundertwende eine trojanische Menschheit besang. Der Alte in Buckow feiert ihn auf seine Art: in einer Bearbeitung. "Bei der Lektüre eines spätgriechischen Dichters" überschreibt er 1953 eine seiner >>Buckower Elegien <<:

    In den Tagen, als ihr Fall gewiß war-

    Auf den Mauern begann schon die Totenklage -

    Richteten die Troer Stückchen grade, Stückchen

    In den dreifachen Holztoren, Stückchen.

    Und begannen Mut zu haben und gute Hoffnung.

    Auch die Troer also ...

    (Brecht, Gesammelte Werke, Frankfurt 1965, Bd. 8, S. 208)

    Mit dem Geschichtsglauben und der Geschichtskatastrophe der ersten Jahrhunderthälfte im Rücken hält der Dialektiker Zwiesprache mit einem Existentialisten, der Geschichte als episodisches Geschehen im Raum der Existenz mehr verachtet als betrachtet. Brechts epigrammatisches Echo rafft die Verse des anderen und trägt sie weiter. So vermischen sich die Tonfarben, so fallen die Schatten von drüben auf die keimfreie Sachlichkeit seines Spruchs, die gelassene Trauer des anderen:

    Unsere Anstrengungen, wir Unglücklichen,

    Unsere Anstrengungen sind wie die der Trojaner.

    Wir erreichen schon einiges,

    Fassen etwas Vertrauen und fangen an,

    Mutig und voller Hoffnung zu sein.

    Doch stets erscheint ein Hindernis und hält uns auf.

    Aus dem Grab erhebt sich vor uns Achilles

    Und erschreckt uns mit lautem Geschrei.

    Unsere Anstrengungen sind wie die der Trojaner.

    Wir glauben, daß mit Entschlossenheit und Kühnheit

    Wir den Schlägen des Schicksals entgehen,

    Und kampfbereit stehen wir draußen vor den Mauern.

    Aber im entscheidenden Augenblick

    Verlassen uns Kühnheit und Entschlossenheit,

    Und unser Mut wird erschüttert, gelähmt.

    Wir laufen rings um die Mauer

    Und suchen in der Flucht unser Heil.

    Unser Untergang ist jedoch sicher. Oben

    Auf den Mauern beginnt schon der Klagesang.

    Es jammern die Erinnerungen und Gefühle unserer

    Vergangenheit.

    Bitterlich beweinen uns Priamos und Hekuba.

    "Trojaner” hat Konstantin Kavafis im Juni 1900 dieses Gedicht überschrieben, das typisch ist für seine Kunst, erstarrte Fakten der Geschichte mimisch, gestisch und szenisch zu rekonstruieren und in lebende Bilder zu verwandeln.

    Brecht nähert sich der Antike auf dem europäischen Weg der Vermittlung. Seine Trojaner sind Figuren am Ende einer Staffette, die über den melancholischen Stoiker in die Tiefe der Zeit und an den Ort ihrer Dämmerung führen. Kavafis hingegen braucht keinen klassizistischen Gips, keine romantischen Ruinen, um ihr nahezukommen. Er erkennt sich in den Opfern und mischt sich unter sie, denn die Katastrophe, die er meint, ist nicht der geschichtliche Untergang. Darum triumphiert bei ihm der Sieger nicht. Achill ist vor allen anderen ein Trojaner, die Schreckfigur des Todes unter Untergehenden.

    Anders als Brecht ist Kavafis nicht der Erbe einer Philosophie, die Geschichte als metaphysische Größe denkt. Keine selbsttätige Macht wälzt sich durch menschliche Geschichtskörper in der Zeit voran. Die Leidenschaften sind am Werk. Größenwahn und Machtgier spielen bei wechselnder Besetzung immer dasselbe Programm: Aufstiege und Untergänge - in den Seitenkulissen der Bühne, die Kavafis aus erinnerter Gegenwart und wiederbelebter Vergangenheit baut.

    Spielmacher auf der Hauptbühne sind Eros und Tod. "Es jammern die Erinnerungen und Gefühle unserer Vergangenheit”, sagt er, einer Vergangenheit in der Gegenwart zugewandt, oder in einem seiner späteren Gedichte:

    Kehr zurück

    Kehr oft zurück und nimm mich gefangen,

    Geliebte Empfindung, kehre zurück und nimm mich gefangen,

    Wenn die Erinnerung des Körpers erwacht,

    Wenn eine alte Begierde das Blut neu ergreift,

    Wenn Lippen und Haut sich erinnern

    Und die Hände spüren wieder die Berührung.

    Kehr zurück und nimm mich in der Nacht gefangen,

    Wenn Lippen und Haut sich erinnern ...

    Die Gefühle sind der zeitlose Stoff, der den Griechen, der Griechenland kaum kannte, zum Trojaner macht. Aber erst Erinnerung vollendet die Gefühle: in der Form. Kavafis hat seine großen Liebesgedichte als alternder Mann geschrieben.

    "Sehr selten” ist ein im Dezember 1911 entstandenes Selbstporträt des Dichters als alter Mann, der über den Teil seiner Jugend nachdenkt, der ihm geblieben ist: die Schönheit, der seine Gedichte dienen; und siehe da, sie steht auf in Gestalt künftiger junger Leser, die, ergriffen, zu ihrem lebendigen Spiegel werden.

    Der junge Rezitator ist das letzte Glied eines Figurenreigens, der von der futurischen Existenz über die unmittelbare Präsenz zurückreicht bis zu jenem verwitterten Epitaph des jungen Leukios, dessen ungefüge Zyklopensprache die Geräusche einer Urdichtung der Liebe ahnen läßt. Der schöne junge Myres gehört dazu, der in herrlichen Nächten griechische Verse rezitierte und nun zwiefach betrauert wird, von seiner christlichen Familie und seinem heidnischen Geliebten; oder Myrtias, syrischer Student in Alexandria in Konstantinischer Zeit, halb schon Christ, der mit heidnischen Sinnen liebt - ähnlich dem jungen Mann aus Sidon, dessen Stoßseufzer Kavafis aufzeichnet:

    Theater in Sidon

    Als Sohn eines ehrwürdigen Bürgers, vor allem aber

    Ein gutaussehender Theateramateur, durchaus gefällig

    Schreibe ich manchmal in griechischer Sprache

    Sehr gewagte Verse, die ich verbreite,

    Heimlich, versteht sich. - O Götter, laßt sie,

    Die Grau tragen und die Moral predigen, sie nicht erwischen,

    Meine Verse, die von einer besonderen Wollust sind,

    Welche zu einer unfruchtbaren, mißbilligten Liebe führt.

    Sie sind römische Sklaven, syrische Söldner, kappadokische Geiseln, jüdische Prinzen, ptolemäische Cäsaren und in Alexandria Historiker und Ladenschwengel, Hafenarbeiter und Playboys, eine junge maskuline Menschheit in den drei Jahrhunderten v. und n. Chr., vielköpfig und einstimmig.

    Ihre Schönheit wird Schritt für Schritt, Gedicht für Gedicht aus dem Stoff der Leidenschaften geformt. Die Stimme aus der Gegenwart und jede neue Figur fügen der langsam aus dem Material hervortretenden Gestalt Bedeutungsnuancen hinzu, das Revolutionäre, Verräterische, Verschwenderische, Verzehrende, Diebische der Liebe, ihr Leichtsinn, der Rausch, vor allem aber und dies ist der Bindestoff: ihr Zuhause, die Dichtung. Die sinnliche Figur der Liebe verbündet sich mit dem Formgeist und tritt über in die Kunstgestalt eines mit dem Leben sich erneuernden und in der Dichtung Gestalt gewinnenden Eros, dessen Bruder der Tod ist.

    Das Grab des Eurion

    In diesem kunstvoll gefertigten Grabmal

    Aus syenitischem Marmor,

    Übersät mit Veilchen und Lilien,

    Liegt der schöne Eurion begraben,

    Ein Kind Alexandrias, fünfundzwanzig Jahre alt.

    Väterlicherseits aus einem alten Makedonischen Geschlecht

    Und aus einer Alabarchenfamilie von seiten der Mutter.

    Er lernte Philosophie bei Aristokleitos und

    Rhetorik bei Paros. In Theben studierte er

    Die heiligen Schriften. Er schrieb eine Geschichte

    Der Provinz Arsinoites. Wenigstens sie bleibt uns erhalten.

    Aber das Wertvollste haben wir verloren - sein Gesicht.

    Es war wie ein Traumbild Apollos.

    Kavafis entwickelt eine Rhetorik des Sachlichen, die der dithyrambischen Form des Lobs den erzählerischen Stoff entgegensetzt, Geschichten aus einem hellenistischen Orplid der Liebe.

    Ein in Verse gesetzter Spatenstich holt die Münze ans Licht, die "ein edles, zartfühlendes Gesicht” zeigt, bis sich Schritt für Schritt aus den Schichten der Zeit der junge Orophernes löst, den es als Kind nach Ionien verschlug, wo er griechische Manieren, die griechische Sprache und die Liebe erlernte. Als König der Kappadokier scheitert er, die Geschichte vergißt ihn zu Recht, unsterblich ist er als Titelfigur eines der schönsten Gedichte von Kavafis.

    So wie Orophernes kommen alle Gestalten der Geschichte ins Spiel, die erfundenen und verbürgten, Kaiser und Bettelmann. Sie werden lebendig ausgegraben, auf der Straße aufgelesen, im Ratschlag gewarnt, beim Treuschwur gezeigt. Der Vorsteher einer kleinasiatischen Gemeinde vertauscht nach der Schlacht von Actium in seiner Meldung die Namen des Verlierers und Siegers: Antonius gegen Octavius. Ein Sophist läßt seinen Schüler den Charakter des Demaratos schildern, Berater des Xerxes. Der Dichter Phernazes arbeitet unter Hochdruck an seinem "Dareios”, als ihm gemeldet wird, sein Auftraggeber Mithridates habe Rom den Krieg erklärt. So wechselt die Geschichte ins Leben.

    Kavafis hat sich als "historischen Dichter” bezeichnet. Aber als Epochenspiegel, Figurenstudien, Chroniken sind seine Gedichte untauglich. Cäsar ist ein Größenmaß, keine Geschichtsgröße. Das Königsdrama von William Shakespeare verwandelt sich in ein Straßentheater um den Jedermann Artemidorus, der vergeblich warnt. Cäsarion, der Sohn Kleopatras, ist eine Traumfigur des Dichters, die nach der Geschichtsniederlage Trost sucht bei dem Sänger, der die Seele, nicht die Könige feiert. Im Dialog mit Plutarch feiert er Demetrios nicht als König:

    König Demetrios

    Nicht wie ein König, sondern wie ein Schauspieler

    zog er einen grauen Mantel an anstelle des beim

    Tragödienspiel getragenen Königsmantels und

    schlich heimlich davon.

    Plutarch, Leben des Demetrios

    Als die Makedonier ihn aufgaben

    Und zeigten, daß sie Pyrrhos vorzogen,

    Benahm sich König Demetrios

    (Er hat eine große Seele) nicht,

    So berichtet man, wie ein König.

    Er zog seine goldenen Gewänder aus,

    Warf seine Purpurschuhe weg,

    Und in einfache Kleider

    Gehüllt, ging er rasch fort;

    So wie ein Schauspieler,

    Der am Ende der Vorstellung

    Die Kleider wechselt und geht.

    Machtgeschichte ist ein Rollenspiel, dessen Kostüm von Darsteller zu Darsteller wandert.

    In der Totale des einen Gedichts, als das Kavafis sein Werk bezeichnet ist, sind Pompeius, Marius, Scipio Africanus unwichtiger als der Bildhauer, der sie in seinem Atelier modelliert, und doch erweisen sie sich im Gefüge seines Zeitmosaiks als Elemente der Kontinuität.

    Kavafis beschwört in den alexandrinischen, jüdisch-hellenistischen, syrisch-ptolemäischen, ionischen und persischen Zyklen seines Werks die Einheit des hellenistischen Altertums in der Levante. Auf die Atriden folgen in seiner Form der Geschichtsschreibung die Diadochen und Osmanen, auf die Götterwelt der Griechen der zornige Gott der Juden, der Gekreuzigte, die Ketzerei der Makkabäer, mit der er sympathisiert, und Ostrom.

    Jannis Ritsos hat ihn mit dem Rücken zum Licht porträtiert. Mit dem Rücken zu seiner Zeit, ein Klassiker und Humanist eigener Art, Hinterbliebener einer großen Vergangenheit, ist er zum Begründer der modernen griechischen Poesie geworden. Joseph Brodskij, der Kavafis als seinen "Lieblingsdichter” bezeichnet hat, rühmt seine um die Jahrhundertwende ausgeformte "Ökonomie der Reife”, den Verzicht auf "poetische Feuerwerkskunst” und die Entwicklung einer ungewöhnlich kühnen Metaphorik. Robert Elsie, sein Übersetzer, schreibt in seinem Nachwort:

    "Als Stilmittel bedient er sich bewußt der griechischen Volksspache dêmotikê mit Zügen der älteren Sprachform katharevousa, oft gemischt mit Archaismen und alexandrinischen Elementen. Der Dichter soll sich manchmal unter den Arbeitern Alexandrias erkundigt haben, ob bestimmte Worte und Redewendungen noch verständlich wären, bevor er sie benutzte. Diese Mischung aus Umgangssprache und älteren Elementen trägt auch zum lebendigen Nachempfinden des historischen Rahmens bei.”

    Elsies Übersetzungswerk macht wahr, was Brodskij mit Blick auf Kavafis behauptet hat: alle Dichter verlieren in der Übersetzung, er aber gewinnt auch - sofern der Übersetzer nicht dichtet. Das hat Elsie vermieden. Er gibt die chronikalische Lakonie der Geschichtsgedichte, die Ironie der Selbstgespräche, den trockenen Berichtstil des Erzählens treu und schnörkellos wieder. So ersetzt er die inzwischen vergriffene, damals als Alternative zu Helmut von den Steinens Nachdichtung hochwillkommene Übersetzung Doris Gunderts und Wolfgang Josings nicht, aber er ergänzt sie und erweitert den deutschen Lesartenschatz, dessen Pionier 1928 Karl Dieterich war.

    Neue editorische Maßstäbe setzen Herausgeber und Verlag mit der ersten zweisprachigen Kavafis-Ausgabe und der ersten Ausgabe des belletristischen Gesamtwerks einschließlich der verworfenen und unvollendeten Gedichte und der Prosa. Die restriktive Werkbestimmung des Dichters spiegelt sich in der Ordnung der Kapitel. So führt Elsie den Leser in seine Werkstatt und zeigt ihm den Materialgrund rund ums Werk. Regelrecht nachzuvollziehen ist das Härtungsverfahren des Dichters, der seine Gedichte einer lebenslangen Überarbeitung unterzog und seine Auswahl überprüfte.

    "Kavafis ist meiner Meinung nach ein ultramoderner Dichter, ein Dichter kommender Generationen. Außer dem historischen, psychologischen und philosophischen Wert seiner Dichtung sind es folgende Elemente, deren Bedeutung erst von zukünftigen Generationen wirklich gewürdigt werden kann: die Nüchternheit seines geschliffenen Stils, der zuweilen lakonisch wird, sein ausgewogener Enthusiasmus, der geistige Emotionalität offenbart, seine treffenden Bilder, die Ergebnis einer aristokratischen Natürlichkeit sind, seine leichte Ironie.”

    (Konstantin Kavafis, Die Lüge ist nur gealterte Wahrheit, Hg. und übersetzt von Asteris Kutulas, München 1991, S.7)

    Kein Porträt ist präziser als dieses 1930 von ihm selbst geschriebene, präziser selbst als der mit Kritik nicht sparsame, hier noch einmal nachzulesende große Essay Marguerite Yourcenars. Wiederum ist dem Enthusiasmus Egon Ammanns, Verleger Mandelstams, Pessoas und Machados, eine verlegerische Glanzleistung zu danken.