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Das geteilte Deutschland aus Historikersicht

"Das geteilte Deutschland im Europa des 20. Jahrhunderts" war Ende letzter Woche Thema einer Konferenz von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Wittenberg. Dabei zog Martin Sabrow, Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam in seinem Eröffnungsvortrag eine Bilanz über den Stand der zeitgeschichtlichen Forschung zur DDR nach dem Fall der Berliner Mauer.

Von Ulrich Kurzer |
    Achtzehn Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer ist sich die Geschichtswissenschaft in der Beurteilung der Forschungslandschaft zur DDR in einem Punkt weitgehend einig. Martin Sabrow, der Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam, zieht folgende Bilanz:

    "Das so unvermutet für die Forschung freigegebene Gebiet der DDR wurde innerhalb weniger Jahre zu einem der besterforschten Gebiete der deutschen und europäischen Zeitgeschichte überhaupt. Es ist geradezu gigantisch, in welchem Umfang Projektvorhaben erzeugt wurden, und wir hatten Mitte der neunziger Jahre bereits eine Zusammenstellung, die von über tausend laufenden Projekten zur DDR sprach."

    Vor allem die frühen Jahre der DDR unter Walter Ulbricht seien bisher gründlich untersucht worden, ergänzt Michael Schwartz vom Institut für Zeitgeschichte in Berlin:

    "Zum einen hat die DDR-Forschung insbesondere für die 40er und 50er-Jahre ein sehr stark empirisch gestütztes Bild der DDR-Wirklichkeit erzeugen können, das gilt sowohl für die politische Geschichte der DDR, den Aufbau der SED-Diktatur, als auch für wesentliche gesellschaftliche Entwicklungen in der DDR, die ja auch Sonderentwicklungen waren, die von etwa der westdeutschen Parallelentwicklung dann wegführten, Stichwort Bodenreform, Kollektivierung."
    Doch zum anderen fänden sich trotz der boomenden Forschungskonjunktur über die DDR seit 1989/90 immer noch weiße Flecken, sagt André Steiner vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam:

    "Es gibt aber auch große Lücken nach wie vor, also wenn man jetzt die Wirtschaftsgeschichte der DDR insgesamt anguckt, wird man feststellen, dass bisher wenig Arbeiten vorliegen zu den 70er, 80er Jahren auch die 60er Jahre sind inzwischen relativ gut erforscht, aber die 70er, 80er Jahre fallen dagegen deutlich ab. Weitere Lücken sind insbesondere zu sehen bei der Beschäftigung mit anderen Wirtschaftsbereichen außerhalb der Industrie und der Landwirtschaft, also, alles was so Dienstleistungssektor anbelangt, wissen wir eigentlich relativ wenig darüber, wie sich das entwickelt hat."
    Weiße Flecken gibt es auch in der Frage nach dem Verhältnis von Herrschaft und Alltag in der DDR. In den neunziger Jahren erlebte die Totalitarismusdebatte eine Neuauflage. Doch Untersuchungen, die in dieser Tradition vor allem den Gemeinsamkeiten von NS- und SED-Diktatur nachspürten, gaben für viele Fragen keine überzeugenden Antworten. Ihre begrenzte Reichweite zeigte sich vor allem dort, wo es darum ging, herauszufinden, wie es der SED gelang, die Loyalität der Bevölkerung zu gewinnen. Der Totalitarismusansatz sei dafür zu eng angelegt, sagt Annette Leo, Historikerin an der Universität Jena:

    "Totalitarismus geht ja nun wirklich auf Herrschaftsstruktur und nimmt tatsächlich auch die Opfer der Repression in den Blick, das darf man überhaupt nicht verhehlen, aber die Mehrzahl der ehemaligen DDR-Bürger sind ja keine Opfer von Repression gewesen und haben sich auch nicht so gesehen und wenn die permanent, also über einen längeren Zeitraum aus Forschung und auch öffentlicher Erinnerung rausfallen und sich da selber überhaupt nicht wiederfinden, dann koppelt sich ja sozusagen die Geschichtsforschung und auch die Präsentation in Museen und Büchern, oder meinetwegen auch Denkmalen, koppelt sich ja dann völlig von dem Alltagsverständnis ab."

    Ganz ähnlich äußert sich der Berliner Sozialwissenschaftler Jens Hüttmann. Auch sein Augenmerk gilt dem Verhältnis von Herrschaft und Alltag in der DDR:

    "Das ist die interessanteste Frage, auch vor dem Hintergrund, dass die DDR-Forschung nicht abgekoppelt sein darf von den vielen Erfahrungen und subjektiven Eindrücken und Erinnerungen der Menschen in der DDR. Diese Lücke zwischen Herrschafts- und Alltagsgeschichte ist erstens ein unheimlich spannendes Thema, aber auch unter der Frage, was sozusagen in unterschiedlichen Feldern innerhalb der Gesellschaft der Diktatur für Stabilität gesorgt hat, was schließlich zur Implosion beziehungsweise zur friedlichen Revolution geführt hat, all dies sind Fragen, die heute immer neu vermessen werden müssen und die, denke ich, auch weiterhin eine große Aufmerksamkeit verdienen."
    Das Verhältnis von Herrschaft und Alltag ist in der Tat ein zentraler Aspekt in der Geschichte der DDR, unterstreicht Martin Sabrow. Aufmerksamkeit verdiene nach Ansicht des Direktors des Potsdamer Zentrums für Zeithistorische Forschung daneben aber auch noch die Einsicht,

    "dass die DDR kein singuläres Gebildes ist, weder als Fußnote der Weltgeschichte, noch als zerstörter Menschheitstraum oder totalitärer Staat alleine, sondern das diese DDR in Beziehung steht zur Geschichte des gesamten 20. Jahrhunderts. Und dass wir hier am Beispiel der DDR und der deutsch-deutschen Parallel- und Verflechtungsgeschichte, wir Vieles erkennen können, was für die Geschichte dieses Jahrhunderts der Extreme, wie Eric Hobsbawm das 20. Jahrhundert benannt hat, zu lernen ist."
    André Steiner vom Zentrum für Zeithistorische Forschung siegt das genauso. Doch dieser integrative Zugriff wird in der Forschung zur DDR nicht überall geteilt, sagt er. Es sei so,

    "dass aus der bundesdeutschen Perspektive die DDR oft als etwas völlig aus dem Rahmen fallendes betrachtet wird, als eine Fußnote der deutschen Geschichte, als etwas, was sozusagen, um es jetzt mal extrem zuzuspitzen, also nur aus der Sowjetunion irgendwie importiert wurde und deswegen hätte das sozusagen mit der bundesdeutschen Geschichte, mit der deutschen Geschichte insgesamt, oder auch mit der europäischen Geschichte relativ wenig zu tun. Und es gibt tatsächlich auch so ein bisschen die Erscheinung, dass Leute, die zu einem DDR-Thema arbeiten, dann nicht wirklich richtig über den Tellerrand hinausgucken."

    Dieses Phänomen hat auch der Sozialwissenschaftler Jens Hüttmann beobachtet, wenngleich in einem anderen Zusammenhang. Auch er leugnet nicht die bedeutenden Leistungen der DDR-Forschung nach dem Fall der Mauer. Doch im Sturm und Drang der Forschungstätigkeiten nach 1989/90 gerate einiges aus dem Blickfeld. Jens Hüttmann:

    "Mein Punkt ist, dass unter dem Forschungsboom in den neunziger Jahren interessanterweise die jahrelange Beschäftigung mit der DDR in der Bundesrepublik, die ihre Forschungszentren etwa an der Universität Mannheim hatte, aber auch vor allen Dingen am Zentralinstitut sechs der Freien Universität Berlin, dass all diese Forschungsansätze und wichtigen Einsichten in die Geschichte der DDR, verloren gegangen sind, weil zum Teil in den neunziger Jahren auch gelegentlich das Rad neu erfunden wurde, und man eigentlich vor der Sichtung lauter Akten vergessen hat, auch zu schauen, was eigentlich schon vor langer Zeit zu ähnlichen Themen publiziert wurde."

    Denn bereits in den fünfziger Jahren sei beispielsweise in Studien von Otto Stammer oder Max Gustav Lange die Frage nach dem Mittun der Menschen von zentraler Bedeutung gewesen, sagt Jens Hüttman.

    In der Fachliteratur ist er für diese Position inzwischen heftig gescholten worden. Und so wie die Sache steht, wird es wohl eine längere Kontroverse darüber geben, wie die Leistungen der "alten" westdeutschen DDR-Forschung zu bewerten sind.