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Das Gewissen

"Von da an, sage ich, beherrschte die Liebe meine Seele, die ihr so rasch angetraut war, und sie begann eine solche Sicherheit und solche Herrschaft über mich zu gewinnen, durch die Kraft, welche meine Phantasie ihr gab, daß ich vollkommen nach ihrem Gefallen zu tun genötigt war."

Beatrice von Bormann |
    So Dante Alighieri, einer der berühmtesten Liebenden aller Zeiten, in seiner "Vita nova". Jessica Durlachers Heldin geht es ähnlich, "obwohl man sie qualitativ kaum in einem Atemzug mit Dante nennen dürfte, Durlachers Debüt handelt von einer großen, tragischen Liebe. Zugleich aber ist "Das Gewissen" ein Zweite-Generations-Roman: Der Verlauf dieser Liebe wird von der Vergangenheit der Väter bestimmt. Durlachers Hauptperson verliebt sich unsterblich in ihren Mitstudenten Samuel Finken. Sie trägt den unsäglichen Namen Edna Mauskopf, was daran erinnert, daß Jessica Durlacher Art Spiegelmans "Maus I und II" ins Niederländische übersetzte. Ednas Geliebter scheint seinen Mitstudenten in jeder Hinsicht überlegen und hat "etwas Verletzliches im Bereich Nase-Oberlippe" aufzuweisen, das Edna an ihre Familie erinnert. Die Bekanntschaft schreitet indes nur zäh voran - nach einigen Monaten erst entwickelt sich zwischen Edna und Samuel so etwas wie eine Bettbeziehung. Ganz im Trend der Achtziger sind sie immer um Coolness bemüht, geben sich ironisch und distanziert. Gefühlsäußerungen sind out. Sich ihrer selbst und ihrer Schwächen ständig bewußt, panzern sich die beiden Liebenden gegen die Außenwelt und letztlich auch gegen einander. Die Ich-Erzählerin Edna:

    "Wie immer löste Samuel bei mir merkwürdig gemischte Gefühle aus. Vorherrschend jedoch war - trotz meiner Angst vor seinem düsteren Zorn und meiner Sehnsucht nach seinem Lachen, seiner Zustimmung und seiner Achtung - die verzehrende Rührung über seine Verlegenheit und sein linkisches Wesen. Alles erkannte ich wieder, und zugleich meinte ich auch zu sehen, wie aufrecht und entschieden er den Kampf dagegen aufgenommen hatte, nicht gewillt, auch nur einen Hauch von Unsicherheit zu zeigen, geschweige denn, sich auch nur ansatzweise selbst zu verleugnen oder unaufrichtig zu verhalten. "

    Die junge Beziehung zerbricht bald an dieser Krampfhaftigkeit. Edna findet allerlei Ablenkung: Sie beendet ihr Niederländisch-Studium, macht eine Journalistikausbildung, besucht nebenher die Kunstakademie und legt sich zwei Liebhaber zu. Anschließend fängt sie bei einer Zeitung an. Ein Interview mit dem renommierten Bildhauer Abe Beenhakker, der seit fünfundzwanzig Jahren kein Interview mehr gegeben hat, macht Edna mit einem Schlag bekannt. Jetzt trifft sie Samuel wieder. Es dauert nicht lange, bis sie wieder ein Paar sind. Damit dies geschehen konnte, mußten zunächst die Väter zusammenkommen. Beide sind Überlebende des Holocausts, sie waren im selben Lager. Während aber der Krieg in Ednas Familie ständig präsent war, schwieg sich Samuels Vater über das erfahrene Leid aus und änderte seinen Namen von Finkelstein in Finken. Nun durchbricht Ednas Vater dieses Schweigen und löst damit eine Flut von Tränen und Erinnerungen aus. Dankbarkeit und die gemeinsame Vergangenheit schaffen ein festes Band zwischen beiden Familien. Die neue Beziehung zwischen Edna und Samuel baut hierauf auf. Durch diese Seelenverwandtschaft können die beiden Liebenden sich jetzt endlich ihre Gefühle offen eingestehen. Sie kaufen ein Haus und ziehen zusammen: Die Zukunft scheint gesichert, das Glück ist greifbar nahe. Ednas Aggressivität und Samuels Versagensangst, ein Seitensprung seines Vaters und die Überschwemmung ihres Hauses verhindern jedoch die Idylle. Edna fliegt nach Südfrankreich, um bei einer Vernissage ihr zweites Interview mit Beenhakker zu machen.

    "Ich war müde, und als ich im Flugzeug saß, wurde wir erst so richtig bewußt, wie müde. Ich war es müde, ständig meine Stimmungen umkehren zu müssen, um die Stimmung zwischen Samuel und mir zu manipulieren. Ich war es müde, zwischen unserem Gut und unserem Böse trennen zu müssen, eine scharf gezogene Trennung, die dennoch für große Verunsicherung sorgte: Samuels Auffassung davon, was alles unter den Begriff 'böse' fiel, war viel rigoroser als meine. Außerdem war ich der strikten Trennung zwischen zu Hause und der Welt (eine Zweiteilung, die sich ein wenig mit der zwischen gut und böse zu decken schien) müde, gegen die ich ständig ankämpfen mußte - um nicht zu ersticken. Ich war erschöpft von dieser ganzen Last der Liebe und dem Übermaß an Sprache, denn unwillkürlich machte ich immer noch zu "viele Worte um die Gefühle und Wahrnehmungen in meinem unbestimmten Ich."

    Auf der Vernissage trifft Edna Felix Ganz wieder, Schriftsteller und Samuels früherer Lehrer. Sie verliebt sich schlagartig und zieht zu ihm nach Nizza. Um ihr Glück zu finden, stellt Edna nun fest, braucht sie eine weniger traumatische Grundlage, als sie mit Samuel teilte. Zum Schluß des Romans beschleunigen sich die Ereignisse und nehmen dann noch eine überraschende Wendung. Jessica Durlachers Debüt handelt von Liebe und Schuldgefühl, vom Umgang mit dem Leid der Väter und von der Suche nach dem eigenen Glück. "Eine kindische Generation" nennt Durlacher ihre Helden und meint wohl auch sich selbst: eine Generation, die sich schuldig fühlt, weil sie es zu gut hat. Der Titel des Romans, "Das Gewissen", bezieht sich so gesehen auf alle Hauptpersonen, vor allem jedoch auf Ednas Schuldgefühl, das sie an Samuel bindet. Es ist das Unausgesprochene, das letztlich schon die Beziehung zum Vater prägte. Aber auch Reden ist nicht immer Gold: "Alles war Sprache geworden", sagt Edna am Ende ihrer Beziehung zu Samuel. Gefühle zerrinnen im psychologisierenden Redefluß der Erzählung, während das Schweigen der Hauptpersonen sich gutteils katastrophal auswirkt. Das Gewissen muß jeweils die Folgen ausgleichen. Die Kraft dieses Romans liegt vor allem in seiner Handlung und in der Verknüpfung mit dem Generationskonflikt. Letztlich scheitert diese Liebe an der Ungleichzeitigkeit der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der Väter. Was Samuel erst entdeckt, will Edna hinter sich lassen. "Zu wissen, daß man Kind eines Vaters ist, der früher systematisch gedemütigt und mißhandelt wurde, heißt, kein Kind mehr sein zu können", bringt Jessica Durlacher es auf den Punkt. Übrigens heißt es im niederländischen Original "auf industriellem Maßstab", was die Sache etwas genauer trifft als "systematisch'. Jessica Durlacher spricht aus eigener Erfahrung: Ednas Vater gleicht ihrem eigenen Vater, dem Schriftsteller Gerard DurlaLcher, für den Auschwitz ein lebenslanges Thema war. Auffällig ist immerhin, daß die Tochter erst zum eigenen Schreiben fand, nachdem Gerard Durlacher vor wenigen Jahren starb. Mit dieser Geschichte nimmt sie, so scheint es, selbst Abschied vom Erbe des Vaters. "Das Gewissen" ist jedenfalls ein guter Neuanfang.