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Das Glaswiki in Rheinbach

Schüler in Rheinbach schreiben ihr Fachbuch selbst - online, fortlaufend und vorwiegend selbstständig die Fehler kontrollierend. Als das Berufskolleg Glas in Rheinbach mit dieser Open-Source-Idee startete gab es unter Fachleuten aber auch unter den Schülern selbst durchaus Bedenken.

Von Katrin Sanders | 23.10.2010
    Können Schüler das? Und können sie es so, dass das Lehrwerk anschließend auch richtig ist? Und warum sagen nicht einfach die Lehrer, die es doch besser wissen, was richtig ist?

    Heute vier Jahre nach dem Start hat sich das Glaswikis längst zum hauseigenen Nachschlagewerk entwickelt. Für die Schule steht fest: Es gibt eine Fehlerkultur, die den Horizont erweitert. Und es gibt kein Fachbuch, in dem nicht auch ein paar Ungenauigkeiten aufzuspüren sind.

    "Eine Lücke im System gab den entscheidenden Impuls: Uns fehlte ein optimal zugeschnittenes Fachbuch - die einen sind zu komplex für angehende Glasfacharbeiter, anderen fehlt der Tiefgang. In einem Modellprojekt entstand bei uns daraus die Idee, das Fachbuch selbst zu verfassen - von Schülern für Schüler schreiben zu lassen, das können die nämlich, und zwar in Form eines Wikis", …

    ... sagt Ulrike Wagener, Lehrerin für Glasverarbeitung und Glasgestaltung am Berufskolleg in Rheinbach.

    100 Fachartikel umfasst das Wiki mittlerweile. Von den Berufsschülerinnen und -schülern wurden sie verfasst, umgearbeitet, neu geschrieben oder auf den aktuellen Stand gebracht. Genau um diesen Lernvorgang geht es der Lehrerin: Was noch nicht stimmt oder nicht mehr, muss und soll wieder bearbeitet werden. Fehler, Irrtümer, Umwege sind da kein Nachteil. Sie schärfen den Blick der Schüler und ihr Urteilsvermögen auch für andere Texte wächst. Und ganz nebenbei, findet die Lehrerin lernen sie auch, dass es Abweichungen, Varianten, Vielfalt gibt - selbst bei scheinbar fest stehenden Fachthemen:

    "Ähnlich wie in Wikipedia, wenn viele drüberschauen, findet man den ein oder anderen Fehler, den man ausradieren, verbessern könnte - oder anders schreiben könnte. Zu bestimmten Themen gibt es nicht nur die eine Sichtweise, es gibt auch unterschiedliche Sichtweisen. Eine Technik ist nicht die Technik, mit der man Glassetzen kann und jede Schule macht das anders und beschreibt ihre Erfahrungen, die dadrin steckt, deshalb ist sie aber nicht falsch. Und genau das wollten wir den Schülern eben auch vermitteln. Dass jeder Artikel den Sachstand darstellt, aber auch 'seine Sicht der Dinge'."

    Genau diese Herausforderung steht einmal pro Woche auf dem Stundenplan am Berufskolleg Glas. Für die beiden angehende Graveure Timo Roland und Marcel Keuner bedeutet das: Ein Thema selbst wählen, Material finden und auswerten und schließlich für andere Schüler schreiben:
    "Wir machen das Thema Schloss Versailles, speziell über die Bauart, die Zeit, den Stil und den Spiegelsaal. Da wir auf der Glasfachschule, dann eher schwerpunktmäßig den Spiegelsaal."

    "Wir gucken im Internet nach Informationen, was wir dazu finden, suchen raus, was wir gebrauchen können, tun es bei uns in den Bericht reinschreiben, also umschreiben. Und dann noch die Quellen angeben, wo wir das herhaben."

    "Wir googeln das Thema, suchen uns mehrere Seiten raus, vergleichen die miteinander und suchen uns dann die bestgeschriebenste und längste Version raus, kürzen die, schreiben um auf ein eigenes Blatt, können umformulieren in unsere eigene Sprache, und dann stellen wir die ins Internet."

    Die wichtigste Hürde davor ist jedoch die Redaktionsgruppe, bestehend aus fünf Schülerinnen. Sie prüfen vor allem, ob die selbst gestellten Regeln eingehalten wurden: Zwei Quellen sind Pflicht, genaues Zitieren und kritisches Quellenstudium ebenso – das haben die Berufsschüler beim Start des Glaswikis selbst fest gelegt. Die Schülerredakteurinnen Skinja Seithzewa und Lea Schultz-Stevenow sorgen dafür, dass Halbwissen oder falsche Informationen im Glaswiki schnell auffliegen:

    "Ja, natürlich. Manche haben es sich anfangs sehr einfach gemacht, indem sie beispielsweise Artikel aus dem Internet einfach rauskopiert haben. Wo wir natürlich nachgehakt haben: Hier fehlt die Quellenangabe. Natürlich müssen wir's auch überprüfen, ob der Ursprungsartikel überhaupt verstanden wurde, aus dem der Schüler seine Informationen her hatte. Wir sind aber auch abgesichert: Sollte sich mal ein Fehler einschleichen, besteht die Möglichkeit, auf der Seite, wo der Artikel erscheint, eine Diskussion anzufangen und zu sagen: Das stimmt so gar nicht. Das hab ich so gar nicht gelernt."

    Neben Schülerredaktion und dem Diskussionsforum werden die Glaswiki-Beiträge auch im Fachunterricht genutzt - eine weitere gute Gelegenheit, auf richtig und falsch zu überprüfen, sagt die Lehrerin Ulrike Wagener.

    "Folgendermaßen: Wir haben ein bestimmtes Thema durchgearbeitet und dazu steht ein Artikel im Kompendium drin. Dann nehmen wir den in den Unterricht mit: Jetzt nehmt den Mal und fangt an zu korrigieren, was aus eurer Sicht, was ihr bis jetzt erlernt habt, passt das oder nicht. Und dann kommen die Schüler ganz schnell selber drauf."

    Logisch, dass in diesem Open-Source-Freiraum Noten keinen Platz haben. Für ihre Mitarbeit am Glaswiki bekommen die Schüler aber ein Zertifikat, in dem die Zahl und die Themen ihrer Artikel oder Überarbeitungen genannt werden.

    Auf dem Weg dahin vertrauen die Berufsschüler voll und ganz auf den kritisch-konstruktiven Anmerkungen der Schülerredaktion. Die schreibt zu jedem Artikel einen ausführlichen Rückmeldebogen – ergänzt um Beurteilungen, die "super", "so lalala", "ganz okay" oder "das geht besser" lauten.

    "Ja, natürlich: Man möchte, dass der Artikel gut wird. Und man erwartet schon, dass derjenige sich da auch mit beschäftigt und seine eigenen Sachen darein bringt."

    Für Katharina Strelow und Stefan Weisskirchen ein klarer Arbeitsauftrag. Sie schreiben zurzeit über die Studioglashütte eines bekannten Glaskünstlers – und haben vor, andere für dessen Arbeit zu begeistern.

    "Das ist nicht nur die Hütte an sich, sondern es ist wie ein Wohnzimmer, so sieht's aus, sitzen alle drum herum, können ihm bei der Arbeit zugucken."

    "Ich will jetzt, dass die Leute direkt wissen, der Mann geht mit so und so einer Arbeitseinstellung an den Tag, wenn er das macht, um die Liebe zum Glas, die er vermittelt andern Leuten widerzuspiegeln. Andere Leute anstecken: Wär jetzt ne Idee."

    Sollte das nicht gelingen, der Artikel haken, ungenau oder gar fehlerhaft sein ... kein Problem im "System Glaswiki". Die Schüler am Berufskolleg Glas in Rheinbach vertrauen ihrem selbst verfassten Lehrwerk:

    "Natürlich klar, paar Fehler werden immer drinne sein, die man nicht rauskriegt. Fehler gehören halt auch dazu. Aber vor allem finde ich gut, dass Schüler kontrollieren, was da falsch läuft ... man gibt es ab, man gibt es Leuten, die man gut kennt, wo man weiß, die hauen einen nicht in die Pfanne und die bringen auch diese Fehler ganz anders rüber: Hey, das ist 'n Fehler, den musst du überarbeiten, die haben nicht mehr so Gewichtigkeit, dass so'n Fehler direkt das Ganze runterreißt und das finde ich eben ganz gut."

    "Deswegen machen wir das ja, weil Fehler kommen immer vor und die kann man selbst immer noch bearbeiten, wenn man das gesehen hat. Also ich find' die Idee ganz gut. Aus Fehlern lernt man ja."