Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Das Grauen der Atombombe

" Abgesehen von einer Handvoll verzweifelter Nihilisten des vorigen Jahrhunderts hat es kaum je einen Moraltheoretiker gegeben, der die Voraussetzung, dass es Menschen geben werde und solle, jemals bezweifelt hätte. Sie zur Debatte zu stellen, wäre vor kurzem noch sinnlos gewesen. Aber durch die Bombe, beziehungsweise durch unsere Stellungnahme oder Nichtstellungnahme zu ihr, ist diese Frage akut geworden. "

Von Barbara Eisenmann | 25.07.2005
    So der Philosoph Günther Anders 1956 im ersten Band seines Hauptwerkes "Die Antiquiertheit des Menschen". Die Bombe war zu diesem Zeitpunkt bereits zweimal gefallen, abgeworfen vom US-amerikanischen Bombern über Hiroshima und Nagasaki im August 1945. Fast genau 60 Jahre ist das jetzt her. Günther Anders drei Hauptthesen, dass wir - und hier ist das "wir" ausnahmsweise einmal angebracht – "dass wir der Perfektion unserer Produkte nicht gewachsen sind, dass wir mehr herstellen als vorstellen und verantworten können und dass wir glauben, was wir können auch zu dürfen, nein: zu sollen, nein: zu müssen", wie er wörtlich schrieb, haben an Aktualität in den vergangenen 50 Jahren noch gewonnen.

    Wie das vor Ort aussehen kann, wenn wir tun, was wir können, hat der US-amerikanische Kriegskorrespondent John Hersey in Hiroshima im Mai 1946 in Erfahrung gebracht. Seine Reportage über das Grauen der Atombombe sollte angesichts zunehmender Befürwortung militärischer Lösungen in politischen Konflikten und der Propaganda für die Verbreitung von Nukleartechnologien nicht in Vergessenheit geraten, weshalb sie die Europäische Verlagsanstalt nun wieder herausgebracht hat. Barbara Eisenmann hat Herseys Bericht gelesen:

    "Tanimoto war der einzige Mensch, der sich in der Richtung gegen die Stadt bewegte. Er begegnete Hunderten und Hunderten, die auf der Flucht waren, und jeder von ihnen schien irgendwie verwundet zu sein. Manchen waren die Augenbrauen versengt, und ihre Haut hing in Fetzen von Gesicht und Händen. Andere hielten vor Schmerzen die Arme in die Höhe, als trügen sie etwas in beiden Händen. Andere erbrachen sich im Gehen. Viele waren nackt oder mit Fetzen bekleidet. Auf manchen unbekleideten Körpern hatten die Verbrennungen förmliche Muster hinterlassen – von Hemdspangen und Hosenträgern und auf der Haut von Frauen die Zeichnung der Blumen auf ihren Kimonos, da nämlich Weiß die Hitze der Bombe reflektierte, während dunkle Kleider die Hitze absorbierten und der Haut zuleiteten. Viele, obgleich selbst verletzt, stützten Angehörige, die schlimmer daran waren. Fast alle trugen den Kopf gebeugt, schauten gerade vor sich hin, schwiegen und zeigten keinerlei Gesichtsausdruck. "
    Es sind Kiyoshi Tanimotos Bilder, die hier beschrieben werden. Er ist Pastor der Methodistenkirche und einer der sechs Überlebenden des Atombombenabwurfs auf Hiroshima, die dem US-amerikanischen Schriftsteller und Kriegskorrespondenten John Hersey nur wenige Monate nach dem Ereignis ihre Erinnerungen erzählten. Am Morgen des 6. August 1945 um 8 Uhr 15 war die von einem Boeing B-29 Bomber der US-amerikanischen Luftwaffe abgeworfene Atombombe "Little Boy" in Hiroshima detoniert. In Bruchteilen von Sekunden hatten eine gewaltige Explosion in 580 Meter Höhe und die unmittelbar folgenden Hitze- und Druckwellen Hiroshima in ein Inferno verwandelt. Die Stadt wurde dabei fast vollständig zerstört. Bis Ende 1945 waren 140.000 Menschen gestorben.

    Hersey war im Auftrag des US-amerikanischen Magazins The New Yorker im Mai 1946 nach Hiroshima gefahren, um, wie es im Vorwort heißt, "mit den Überlebenden der furchtbaren Katastrophe in Fühlung (zu) treten, ihre Gefühle, Beobachtungen, Gedanken ... auf(zu)zeichnen". Sein in vier Kapiteln organisierter Text, der von einer eindrücklichen Distanz, bestechender kompositorischer Eleganz und formaler Strenge getragen wird, entfaltet, der Chronologie der Ereignisse und den sechs Protagonisten folgend, ein zunehmend dichter werdendes Panorama des Grauens in Hiroshima in den Stunden und Tagen nach dem Bombenabwurf.

    Gleich zu Beginn, im Stil einer klassischen Einführung der dramatis personae, wird der Leser sechs Mal hintereinander in den Moment kurz vor dem Abwurf der Bombe versetzt. Dann wird das abrupte Phänomen eines Blitzes ohne Donner geschildert, so wie es sich aus der Perspektive eines jeden der sechs Überlebenden in der Erinnerung dargestellt haben mag. In einer der Erzählungen war es ein grauenvoller Lichtblitz, der den Himmel zerriss, in einer anderen heißt es, dass alles plötzlich von einem grell weißen Blitz erleuchtet war, in wieder einer anderen erscheint der Lichtblitz wie leuchtendes Gelb. In einer weiteren Erzählung ist von den Wänden eines Korridors die Rede, die im Schein der Bombe wie ein riesiges fotografisches Blitzlicht erschienen. In einer anderen erfüllte sich das Zimmer mit einem blendenden Lichtschein. Dieses repetitive, aber zugleich individualisierende und den Vorstellungsraum des Lesers immer präziser ausgestaltende Moment entwickelt einen eigenartigen Sog. Herseys Erzählstil erzeugt höchste Konzentration. Erst später verlässt der Autor allmählich das streng repetitive Muster und lässt die dem Leser inzwischen bekannten Figuren miteinander in Beziehung treten. Es werden jetzt mehrere Orte eingeführt, wie das Krankenhaus des Roten Kreuzes mit dem Chirurgen Dr. Sasaki als zentraler Figur oder der Asanopark mit Tashimoto im Mittelpunkt, dem Methodistenpriester, der wundersamerweise selber völlig unverletzt, außerordentliche Kräfte entfaltet und tagelang Menschen zu retten versucht.

    "Auf der Landzunge fand Tanimoto ungefähr 20 Frauen und Männer. Er fuhr mit dem Kahn auf den Strand auf und forderte sie auf einzusteigen. Keiner rührte sich, und es wurde ihm klar, dass sie zu schwach waren, um sich aus eigenen Kräften zu erheben. Er langte hinunter und ergriff eine Frau an der Hand, aber da schälte sich ihre Haut in großen, handschuhähnlichen Stücken ab. Darüber ward ihm so übel, dass er sich einen Augenblick hinsetzen musste. Dann stieg er ins Wasser hinaus und hob, obgleich selbst ein kleiner Mensch, einige Männer und Frauen, alle nackt, in sein Boot. Rücken und Brust dieser Menschen waren klebrig, und er erinnerte sich mit Schaudern, wie die großen Verbrennungen, die er tagsüber beobachtet hatte, aussahen: erst gelb, dann rot und angeschwollen, wobei die Haut sich abschälte, und schließlich abends vereitert und übelriechend. ... Am anderen Ufer hob er die schleimigen Körper heraus und trug sie die Böschung hinauf, aus dem Bereich der Flut. Dabei musste er sich fortwährend sagen: "Das sind menschliche Wesen." "
    In den beiden letzten Kapiteln greift Hersey neben der wieder im Modus der individuellen Reihung fortgeführten, dicht an konkreten Geschehnissen und Erlebnissen entlang entwickelten Protagonistenerzählungen gelegentlich auch auf anderes Material zurück, das es ihm erlaubt, das Geschehen in einem größeren Kontext zu verorten. So erfährt man beispielsweise, dass die US-amerikanischen Besatzungsbehörden sogleich eine Verfügung erließen, die jede Erwähnung der Bombe in japanischen Publikationen untersagte, dass aber trotzdem eine Vielzahl von Büchern bereits damals in der japanischen Öffentlichkeit kursierten, in denen die in den USA geheim gehaltenen Forschungsergebnisse japanischer Wissenschaftler veröffentlicht wurden.

    "Japans Hiroshima ist nicht Amerikas Hiroshima", schreibt der Japanologe Florian Coulmas in seinem soeben erschienenen Buch über Hiroshima. Die Erinnerung an die Atombombenabwürfe ist ein kompliziertes, von vielen unterschiedlichen politischen Interessen geformtes Gebilde, und auch deshalb hat die großartige Erzählung, von John Hersey 1946 aufgeschrieben und später zur Reportage des
    20. Jahrhunderts erklärt, nichts an Gültigkeit verloren, denn in ihr sind subjektive Erinnerungen aufgezeichnet. Es geht um nichts anderes als den Versuch, das Unvorstellbare, das eingetreten war, aus der Sicht von Menschen, die es erlebt und überlebt haben, so genau wie möglich festzuhalten.

    Im August jähren sich die Atombombenabwürfe. 60 Jahre sind vergangen. Und ein anderer damit zusammenhängender Jahrestag drängt sich auf: Seit 35 Jahren besteht der Atomwaffensperrvertrag, der inzwischen auf beunruhigend wackligen Füßen steht, wie es die erst vor kurzem in New York gescheiterte Überprüfungskonferenz gezeigt hat. Seit dem 11. September hat sich unter Führung der USA eine neue Sicherheitsdoktrin durchgesetzt , mit der auch eine neue Phase atomaren Wettrüstens eingeläutet worden ist. Unter anderem zeigen das die Auseinandersetzungen mit Iran. Hinzu kommt, dass sich die USA von ihren Verpflichtungen der atomaren Abrüstung zusehends befreien wollen und das Pentagon seit einigen Jahren schon, den Plan zur Entwicklung von Mini-Nukes, kleinen Atombomben für tief unter der Erde liegende Ziele wieder aufgenommen hat. Wenn sich also die nukleare Bedrohung mit dem Ende des Kalten Krieges keineswegs in Luft aufgelöst, vielmehr längst neue Formen angenommen hat, dann sollte die Erinnerung an Hiroshima und Nagasaki nicht bloß obligates, jahrestagsrituelles Gedenken sein. John Herseys Aufzeichnungen bleiben beunruhigend aktuell.
    Barbara Eisenmann war das über: John Hersey: Hiroshima 6.August 1945 –
    8 Uhr 15, erschienen bei eva, 187 Seiten für 14.90 Euro.