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Das Grauen kam nachts

Vor 25 Jahren wurden in der indischen Stadt Bhopal mindestens 3000 Menschen durch ausströmendes Giftgas getötet. Tausende weitere starben in den Jahren danach an den Spätfolgen. In einer Fabrik für Pflanzengift des US-Konzerns Union Carbide war am 3. Dezember 1984 ein Tank mit einer hochgiftigen Substanz explodiert.

Von Frank Kempe | 03.12.2009
    Der Tod kam schleichend - mitten in der Nacht, als die meisten Menschen im indischen Bhopal schliefen. Hamida Bai, die mit ihrer Familie nur ein paar Straßen von der Unglücksfabrik entfernt lebte, erinnert sich:

    "Wir wurden wach, weil wir plötzlich alle ein Brennen in den Augen spürten. Mein Mann ging nach draußen, schloss mich ein und sagte, ich solle mich um die Kinder kümmern. Er meinte, zu Hause seien wir am sichersten. Als er zurückkam, war er vom Tod gezeichnet. Er atmete schwer und sein Gesicht war schwarz angelaufen. Er hat furchtbar gelitten."

    Eine milchig-weiße Wolke war am frühen Morgen des 3. Dezember 1984 über Bhopal hinweggezogen: Giftgas, ausgetreten aus einer Fabrik des US-Konzerns Union Carbide. Mindestens 3000 Menschen starben schon in den ersten Stunden, bis heute, so schätzt man, 20.000 weitere an den Spätfolgen.

    Ursache der Katastrophe waren Reinigungsarbeiten in der Pestizidfabrik von Union Carbide. Toda Ram Chauhan, ein ehemaliger Arbeiter:

    "An diesem Abend bekamen meine Kollegen den Auftrag, die Pipelines am Tanksystem zu reinigen. Also schlossen sie einen Schlauch an und begannen, Wasser einzulassen. Aber die Leitung wurde nicht sauber. Und der Vorarbeiter stoppte die Aktion. Da bekam er vom Schichtleiter die Order, solange weiterzumachen, bis die Pipeline wieder klar wäre."

    Ein Fehler mit verheerenden Folgen: Denn auf diese Weise gelangte Wasser in einen Tank mit Methyl-Iso-Cyanat, eine Substanz zur Herstellung von Schädlingsbekämpfungsmitteln, im Ersten Weltkrieg als Kampfgas eingesetzt. Notfallsysteme funktionierten nicht oder waren abgeschaltet, so dass der Tank kurz nach Mitternacht explodierte: Tonnenweise strömte Giftgas aus, verätzte Augen und Lungen der schlafenden Bewohner. Besonders viele Kinder, Alte und Schwache erstickten qualvoll. Wer konnte, floh aus der Stadt oder suchte in Krankenhäusern Hilfe.

    Es gab eine halbe Million Verletzte. Und die Ärzte waren völlig überfordert. Tausende Menschen erblindeten, viele auch deshalb, weil sie falsch behandelt worden waren. Frauen wurden unfruchtbar, andere bekamen Babys mit schwersten Missbildungen. Sultana Begum brachte ihren Sohn sieben Jahre nach dem Unglück zur Welt:

    "Er war blind und seine Hände und Beine waren nicht voll entwickelt. Außerdem war er sehr schwächlich. Er hat bis zum Schluss nur Milch getrunken, weil er keine feste Nahrung aufnehmen konnte. Die Ärzte haben wirklich alles getan, um ihn zu retten. Aber es war hoffnungslos. Ich habe ihn verloren. Er wurde nur acht Jahre alt."

    Nach jahrelangem Rechtsstreit erklärte sich Union Carbide 1989 bereit, Entschädigungen zu zahlen: 470 Millionen Dollar erhielt die indische Regierung – im Schnitt 500 Dollar für jedes Opfer. Doch nur ein Teil des Geldes kam an – das meiste versickerte einfach im Sumpf der Korruption. Auf Protestmärschen haben die Menschen in Bhopal immer wieder Gerechtigkeit gefordert. Ihnen geht es nicht nur um Entschädigung, sondern auch darum, dass die Verantwortlichen für die gravierenden Sicherheitsmängel zur Rechenschaft gezogen werden. Und um die Sanierung des Fabrikgeländes, das immer noch verseucht ist. Matthias Wüthrich, Greenpeace-Experte aus der Schweiz, hat Bhopal 2004 besucht:

    "Es liegen noch an die 25.00025-tausend Tonnen giftiger Chemikalien auf dem Gelände herum. In offenen Säcken, verrosteten Fässern. Kühe weiden auf diesem Gelände. Leute gehen rein, spielende Kinder. Das Gift, das auf dem Gelände liegt, ist auch im Boden. Es ist auch schon im Grundwasser. Und die Leute pumpen das Wasser hoch und trinken es."

    Daran hat sich kaum etwas geändert. Bis heute fühlt sich niemand für die gefährlichen Altlasten verantwortlich. Bhopal – eine Katastrophe, die einfach nicht vergeht.