Bis ins Jahr 1912, als am Ende des 2. Balkankriegs die griechische Armee die Stadt einnahm und dem neugriechischen Staatsverband einverleibte.
All das konnte man am vergangenen Wochenende auf einem internationalen Kongress erfahren, den die jüdische Gemeinde der Stadt ausgerichtet hat. Nicht viel mehr als 1000 Menschen zählt diese Gemeinde heute, 50.000 waren es noch im Frühjahr 1943, als SS und Wehrmacht mit ihrer Deportation nach Auschwitz begannen. Ladino hört man in Saloniki nur noch selten. In der Synagoge wird es am Shabat noch regelmäßig benutzt, aber verstanden wird es dort nur noch von den Ältesten. Die sefardische Kultur ist fast untergegangen, zum Forschungsobjekt für Philologen, Historiker und Volkskundler geworden.
Griechen sind allerdings nicht darunter. Die Referenten der Tagung kamen von der Sorbonne und der University of California, aus Basel, Madrid und Jerusalem. Erstaunlich auf den ersten Blick, dass ausgerechnet die Universität der Stadt, die über vier Jahrhunderte das Zentrum sefardischer Kultur gewesen ist, dieses Erbe bis heute ignoriert, wie die Kongress-Organisatorin, Rena Molcho, mit Bedauern feststellte.
Warum das so ist, hat Rena Molho nicht expressis verbis gesagt. Aber man kann das ahnen. Das Verhältnis der Stadt Saloniki zu ihren jüdischen Bürgern ist seit langem gestört, spätestens seit 1943. Anders als in der griechischen Hauptstadt Athen, wo die Juden auf die Solidarität und Hilfe der Behörden wie der Kirche zählen konnten, hat die Stadt Saloniki sich der Deportation ihrer jüdischen Bürger nicht widersetzt. Vielleicht, weil sie auf ein begehrtes Stück Bauland scharf war? Es ging um den jüdischen Friedhof, genauer: um jenen fast zweieinhalb Hektar umfassenden Teil davon, der unbestreitbar jüdisches Eigentum war. Heute steht auf diesem Gelände mit seinen einst 500.000 Gräbern die Universität, und noch 60 Jahre nach der Shoah bemüht sich die jüdische Gemeinde vergeblich um eine kleine Kompensation für das geraubte Stück Land. Geraubt wurde damals nicht nur das jüdische Friedhofsgelände - noch bevor der Kriegsverwaltungsrat Max Merten es der Stadtverwaltung überließ, waren christliche Plünderer am Werk. Um, unter anderen, Jahrhunderte alte marmorne Grabsteine als Baumaterial zu stehlen. Noch heute finden die Nachkommen überlebender Juden gelegentlich Grabmäler ihrer Vorfahren als Spolien in Treppenhäusern oder im Straßenpflaster wieder.
Aber diese Stadt scheint mehr als ein Problem mit ihrer 400-jährigen jüdischen Geschichte zu haben. Ihre heutigen Bewohner, mehrheitlich Nachkommen griechischer Flüchtlinge aus Kleinasien, die 1923 nach dem verlorenen Krieg gegen die Türkei hereinströmten, legen großen Wert auf eine ununterbrochene griechische Kontinuität der Stadt, seit ihrer Gründung vor 23 Jahrhunderten. Eine fixe Idee - vom Untergang des byzantinischen Reiches bis zum beginnenden 20. Jahrhundert war Saloniki alles andere als eine griechische Stadt, wie schon ausgeführt. Und im 19. Jahrhundert waren die meisten Banken und Handelshäuser, Fabriken und Manufakturen in jüdischem Besitz, die schönsten Villen und Herrenhäuser gehörten Juden, einige sind noch heute zu sehen. Die prachtvolle Villa Allatini gehört dazu, dort residiert heute die Präfektur, wem das Haus einmal gehört hat, wissen die wenigsten. Und so ist das auch mit dem Rest der jüdischen Stadtgeschichte, man weiß davon nichts und will es auch nicht wissen. So vieles wäre doch aus den noch reichlich vorhandenen judenspanischen Quellen zu erfahren - literarischen und profanen.
Dass es auch ein jüdisches Proletariat gegeben hat in dieser Stadt, wissen linke griechische Historiker immerhin zu berichten, aber die judenspanischen Quellen zur Geschichte der Arbeiterbewegung in der mazedonischen Metropole werden kaum benutzt - die Zeitungen mit den nicht sehr griechischen Namen "Solidaridad Obradera", "Avanti" oder "El Combate", Organe der jüdischen Gewerkschaft "Federasyon". Man würde sie an ihrem ehemaligen Erscheinungsort auch vergeblich suchen, in der Universitätsbibliothek stehen sie nicht. Von den in Saloniki versammelten Forschern kann man erfahren, wo man diese Periodika suchen muss: im Ben Zwi-Institut in Jerusalem zum Beispiel. Und auch, wer sich wie Samuel Armistead an der University of California seinen Lebtag mit der Erforschung der sefardischen Romanzen-Tradition beschäftigt hat, sucht seine Quellen nicht an dem Ort, der einst der Mittelpunkt der judenspanischen Kultur gewesen ist. Georg Bossong, Romanistik-Professor an der Universität Zürich, erzählt, dass er für seine lingustischen Ladino-Forschungen in Saloniki nur eins gefunden hat: Menschen, die noch ein unverfälschtes Judeo-Espagnol sprachen. Im jüdischen Altersheim.
Etwas Erfreuliches konnten die Veranstalter der Tagung von Saloniki immerhin konstatieren. Zum ersten Mal hat das stadteigene Haus der Geschichte der jüdischen Gemeinde ihre Räume als Tagungsort zur Verfügung gestellt. Und das ist ja schon was.