Eigentlich dachten Jewgenija Domjena, Raissa Kichlich und Ina Krijina, die Zeit der Examen und Tests sei lange vorbei. Alle drei Russinnen, Mitte 50 Jahre alt, durchlebten solchen Prüfungsstress vor Jahrzehnten bei Abitur- und Führerscheinprüfung. Doch jetzt sind jene Zeiten plötzlich wieder da: Denn um die lettische Staatsbürgerschaft zu erwerben, müssen Nicht-Letten Grundkenntnisse in Sprache, Geschichte und Tradition nachweisen können, jedenfalls dann, wenn sie während der Sowjetzeit ins Land gekommen sind. So will es der lettische Staat. Also sitzen die drei Freundinnen in einem mit Linoleum ausgelegten Flur eines Mehrzweckgebäudes in Rigas so genannter "Moskauer Vorstadt", und warten gespannt und auch etwas nervös darauf, aufgerufen zu werden.
"Für uns Frauen ist das nicht normal. In unserem Alter ein solcher Prüfungsstress. Na ja, Stress ist vielleicht nicht das richtige Wort, aber es ist unangenehm, sagen wir es so."
Der Zustrom von Industriearbeitern aus allen Teilen der Sowjetunion ins Baltikum war stark in der Sowjetzeit und von Moskau auch gewollt und gefördert. In manchen Ballungszentren, etwa im östlichen Daugavpils oder auch in Riga, wurden Letten zur Minderheit im eigenen Land. Russisch wurde zur Amtssprache erklärt, und so hielt es kaum einer der Neubürger für nötig, Lettisch zu lernen oder sich mit örtlichen Sitten und Gebräuchen zu befassen.
Als Lettland 1991 seine Unabhängigkeit wiedererlangte, drehten die Letten, nun wieder Herren im eigenen Haus, den Spieß um: Lettisch wurde wieder Amtssprache, und den lettischen Pass gab es ohne weiteres nur für Letten. Viele Russsischsprachler, die seit Jahrzehnten in Lettland beheimatet waren, sahen das als Affront. Manche behielten einfach den alten Sowjetpass, andere erstanden den "Nicht-Bürger-Pass", ein baltisches Kuriosum. Wieder andere kehrten zurück nach Russland. Nach dem Beitritt Lettlands zur Europäischen Union machte nun auch Brüssel Druck, schließlich hatten sich die Letten verpflichtet, den Schutz der Minderheiten in ihrem Land zu gewährleisten. Die drei Freundinnen blieben in Lettland.
"Wofür sollen wir denn die russische Staatsbürgerschaft annehmen, wenn wir doch hier schon seit dutzenden Jahren wohnen? Was sind wir denn dort? Wir haben unsere Häuser hier, die Kinder leben hier, die Enkel, die Arbeit, schon bald die Pension. Was sollen wir in Russland, wenn wir Lettland mögen. Es gefällt uns hier, alles in Ordnung! Wenn es nicht so wäre, wären wir längst weg."
Wenn da eben nicht die Sache mit den leidigen Tests wäre, ein Hürde auf dem Weg, echte Lettin zu werden.
"Es ist sehr wichtig, Pass und Staatsbürgerschaft zu bekommen. Ich habe Kinder, die eingebürgert sind. Ich habe sogar schon eine lettische Enkelin. Ich möchte einfach Staatsbürgerin in meinem Staat werden."
Inzwischen leben in Lettland mehr ethnische Russen mit lettischem Pass als solche ohne ihn. Das war schon einmal anders: In den 90er Jahren kamen die Einbürgerungen nur schleppend voran. Russland erkannte den Nicht-Bürger-Pass bei der Einreise an und erlaubte lange Zeit Visa- freie Besuchsreisen daheim, für viele Russenletten mit Verwandtschaft im Mutterland ein schlagendes Argument. Janis Kahanovics, Vize-Chef der lettischen Einwanderungsbehörde:
"Die politische Linke hat oft gesagt, dass Lettland mit seinen vielen Nicht-Bürgern niemals in der EU aufgenommen werden würde und dass man die Anforderungen bestimmt reduzieren werde. Das hat die Motivation der Leute nicht gerade positiv beeinflusst."
Erst, als das Referendum über den EU-Beitritt stattfand und sich die Spekulationen als falsch erwiesen, hatte das Zögern ein Ende: Seither ist die Zahl der Einbürgerungs-Anträge signifikant gestiegen. Und ähnlich wie bei den drei Freundinnen ist der Sprachtest auch bei den meisten anderen Antragstellern nicht das primäre Problem.
Das größte Problem ist das zum Teil unterschiedlich Weltbild, das Letten und Balten-Russen haben. Zum Beispiel bei der Frage, ob die sowjetische Periode in der Geschichte des Baltikums als Besatzungszeit zu bewerten sei. Diese Frage würden Letten mit einem klaren "Ja", Russen aber eher mit "Nein" beantworten. Die drei Frauen im Prüfungsstress rechnen fest damit, dass genau diese Frage auf sie zukommt im Geschichtstest. "Die kommt bestimmt, und wir wissen auch, was wir antworten müssen."
Nämlich dass es sich eben um die Besatzung eines anderen Landes durch die Sowjetmacht gehandelt habe. Die süffisante Erklärung wirft die Frage auf, ob die Frauen nur sagen, was man erwartet, aber in Wahrheit gar nicht davon überzeugt sind. Die drei Prüflinge schweigen auf diese Nachfrage. Aber sie setzen ein viel sagendes, russisch-breites Grinsen auf.
"Für uns Frauen ist das nicht normal. In unserem Alter ein solcher Prüfungsstress. Na ja, Stress ist vielleicht nicht das richtige Wort, aber es ist unangenehm, sagen wir es so."
Der Zustrom von Industriearbeitern aus allen Teilen der Sowjetunion ins Baltikum war stark in der Sowjetzeit und von Moskau auch gewollt und gefördert. In manchen Ballungszentren, etwa im östlichen Daugavpils oder auch in Riga, wurden Letten zur Minderheit im eigenen Land. Russisch wurde zur Amtssprache erklärt, und so hielt es kaum einer der Neubürger für nötig, Lettisch zu lernen oder sich mit örtlichen Sitten und Gebräuchen zu befassen.
Als Lettland 1991 seine Unabhängigkeit wiedererlangte, drehten die Letten, nun wieder Herren im eigenen Haus, den Spieß um: Lettisch wurde wieder Amtssprache, und den lettischen Pass gab es ohne weiteres nur für Letten. Viele Russsischsprachler, die seit Jahrzehnten in Lettland beheimatet waren, sahen das als Affront. Manche behielten einfach den alten Sowjetpass, andere erstanden den "Nicht-Bürger-Pass", ein baltisches Kuriosum. Wieder andere kehrten zurück nach Russland. Nach dem Beitritt Lettlands zur Europäischen Union machte nun auch Brüssel Druck, schließlich hatten sich die Letten verpflichtet, den Schutz der Minderheiten in ihrem Land zu gewährleisten. Die drei Freundinnen blieben in Lettland.
"Wofür sollen wir denn die russische Staatsbürgerschaft annehmen, wenn wir doch hier schon seit dutzenden Jahren wohnen? Was sind wir denn dort? Wir haben unsere Häuser hier, die Kinder leben hier, die Enkel, die Arbeit, schon bald die Pension. Was sollen wir in Russland, wenn wir Lettland mögen. Es gefällt uns hier, alles in Ordnung! Wenn es nicht so wäre, wären wir längst weg."
Wenn da eben nicht die Sache mit den leidigen Tests wäre, ein Hürde auf dem Weg, echte Lettin zu werden.
"Es ist sehr wichtig, Pass und Staatsbürgerschaft zu bekommen. Ich habe Kinder, die eingebürgert sind. Ich habe sogar schon eine lettische Enkelin. Ich möchte einfach Staatsbürgerin in meinem Staat werden."
Inzwischen leben in Lettland mehr ethnische Russen mit lettischem Pass als solche ohne ihn. Das war schon einmal anders: In den 90er Jahren kamen die Einbürgerungen nur schleppend voran. Russland erkannte den Nicht-Bürger-Pass bei der Einreise an und erlaubte lange Zeit Visa- freie Besuchsreisen daheim, für viele Russenletten mit Verwandtschaft im Mutterland ein schlagendes Argument. Janis Kahanovics, Vize-Chef der lettischen Einwanderungsbehörde:
"Die politische Linke hat oft gesagt, dass Lettland mit seinen vielen Nicht-Bürgern niemals in der EU aufgenommen werden würde und dass man die Anforderungen bestimmt reduzieren werde. Das hat die Motivation der Leute nicht gerade positiv beeinflusst."
Erst, als das Referendum über den EU-Beitritt stattfand und sich die Spekulationen als falsch erwiesen, hatte das Zögern ein Ende: Seither ist die Zahl der Einbürgerungs-Anträge signifikant gestiegen. Und ähnlich wie bei den drei Freundinnen ist der Sprachtest auch bei den meisten anderen Antragstellern nicht das primäre Problem.
Das größte Problem ist das zum Teil unterschiedlich Weltbild, das Letten und Balten-Russen haben. Zum Beispiel bei der Frage, ob die sowjetische Periode in der Geschichte des Baltikums als Besatzungszeit zu bewerten sei. Diese Frage würden Letten mit einem klaren "Ja", Russen aber eher mit "Nein" beantworten. Die drei Frauen im Prüfungsstress rechnen fest damit, dass genau diese Frage auf sie zukommt im Geschichtstest. "Die kommt bestimmt, und wir wissen auch, was wir antworten müssen."
Nämlich dass es sich eben um die Besatzung eines anderen Landes durch die Sowjetmacht gehandelt habe. Die süffisante Erklärung wirft die Frage auf, ob die Frauen nur sagen, was man erwartet, aber in Wahrheit gar nicht davon überzeugt sind. Die drei Prüflinge schweigen auf diese Nachfrage. Aber sie setzen ein viel sagendes, russisch-breites Grinsen auf.