Im Jahre 1940 marschiert die Rote Armee in Estland ein, kurz danach folgen deutsche Truppen, und dann sind es wieder Russen, die das Land ins Chaos stürzen. Für die meisten Esten eine Katastrophe ohne Ende, doch eine freut sich. Aliide heißt sie, und kurz vor dem Krieg musste sie zusehen, wie ihre Schwester Ingel den Mann heiratete, den Aliide über alles auf Erden liebt. Und nun im Elend des besetzen Landes stellt es sich heraus, dass die politischen Verwerfungen eine geniale Lösung sind für eine Sitzengelassene, die ihre Rivalin gerne beseitigen möchte.
So die Vorgeschichte des spannenden Romans "Fegefeuer" von der 33-jährigen Autorin Sofi Oksanen. In Finnland aufgewachsen mit einer estnischen Mutter, durfte Oksanen ihre Großmutter auf der Kolchose besuchen und gewann also schon als Kind Einblick in den Alltag des sowjetischen Estlands, der den meisten aus dem Westen verschlossen blieb.
In "Fegefeuer" erzählt Sofi Oksanen von diesen Umwälzungen am Rande; im Vordergrund steht die Geschichte von Aliide Truu, der ungeschickten, ungeliebten Schwester, die gut 50 Jahre nach ihrem Verrat an Ingel unerwarteten Besuch bekommt von einer jungen Russin, die eigentümlicherweise Estnisch spricht. Ebenfalls eigentümlich ist der Auftritt der jungen Frau: mitten in der Nacht, fast ohnmächtig, benommen vor Angst, voller blaue Flecken und mit zerrissenen (aber teuren) Strümpfen.
"Das Mädchen starrte in Aliides Richtung, aber sein panischer Blick fokussierte sich nicht auf sie. Er fokussierte sich auf nichts. Aliide fuhr fort mit ihren Versicherungen, es gebe keinen Grund zur Aufregung und sprach dabei in demselben beschwichtigenden Tonfall wie zu unruhigen Haustieren. Im Blick des Mädchens erschien kein Anzeichen dafür, dass es verstanden hätte, aber der weit aufgerissene Mund hatte etwas Wohlbekanntes. Nicht der Mund selbst, sondern das Verhalten des Mädchens, das Mienenspiel unter seiner wächsernen Haut, das nicht bis an die Oberfläche gelangte, die Wachsamkeit seines Körpers, trotz des leeren Blicks."
Die junge Zara ist von ihrem Zuhälter weggelaufen; aber aus Gründen, die erst allmählich offenbart werden, wagt sie vorerst nicht, dies ihrer Retterin zu erzählen. Und wie kommt sie ausgerechnet hierher zu Aliide auf dem Dorf? Diesem Opfer von Menschenhändlern haftet ein Geheimnis an, das Aliide Truu näher angeht, als sie erstmal ahnt. Aus einem anfangs fast feindlichen Misstrauen wird so etwas wie eine Freundschaft und die eigentliche Verwandtschaft zwischen den beiden Frauen – der Leser hat sie längst durchschaut – leuchtet allmählich auch Aliide Truu ein.
"Fegefeuer", der dritte Roman von Sofi Oksanen, wurde ein Riesenerfolg in Finnland, mit Verkaufszahlen, die sich mit denen von "Harry Potter" messen können. Es ist der erste Roman, der beide große Literaturpreise Finnlands erhielt (den Runeberg- wie auch den Finlandia-Preis) sowie den Preis des Nordischen Rates, und wurde in bisher 26 Sprachen übersetzt.
Die in Helsinki lebende Autorin trat im diesjährigen New Yorker PEN World Voices Festival auf, wo sie am großen Eröffnungsabend die Bühne mit Salman Rushdie und Patty Smith teilte. Und 2009 wurde sie von der großen estnischen Zeitung Postimees zum Menschen des Jahres gekürt.
Der finnische Titel "Puhdistas" bedeutet auch "Säuberung", und Oksanens Roman handelt von Bewachung, Ausgrenzung und Folter. Die Vorgeschichte von beiden Frauen ist von Gewalt bestimmt. Aliide leidet in der Zeit der sowjetischen Besatzung, weil sie einen estnischen Patrioten beschützt: ihren angehimmelten Schwager.
Seinetwegen wird sie während eines Verhörs gefoltert, gibt ihn aber nicht preis. Überall lauert Gewalt, überall die Gefahr, als Feindin der Partei enttarnt und ins Arbeitslager geschickt zu werden. Aus einer enttäuschten Liebe wird ein Überlebenskampf. Später leidet Aliide, weil der Parteifunktionär, den sie nur darum heiratet, um zu einiger Sicherheit zu gelangen, nach 1989 plötzlich auf der "falschen Seite" steht. Ihr werden Steine gegens Haus geschmissen und Parolen an die Tür geschmiert.
Zara wiederum lebt in einem Zustand andauernder sexueller Gewalt: Freier, die es zu bedienen gilt und schwache Hoffnungen, zum Beispiel dass das Gefallen, das der Helfershelfer ihres Zuhälters an ihr findet, sie vor den grausamsten Misshandlungen bewahren kann. Wie Aliide ist sie ständig dabei, einen Blick hinter sich zu werfen, dass ja keiner ihr nachstellt. Sofi Oksanen schreibt am schönsten, wenn es ums Nostalgisch-werden geht. So zum Beispiel die Szene in dem paradiesträchtigen Garten, in dem sich die junge Aliide verliebt:
"Der Morgen war aus irgendeinem Grund besonders leicht und der Flieder geradezu berauschend gewesen. Aliide hatte sich erwachsen gefühlt, und während sie sich vor dem Spiegel in die Wangen kniff, war sie sich sicher gewesen, dass in diesem Sommer auch ihr etwas ganz Wunderbares widerfahren würde, sonst hätte sie ja wohl keine Fliederblüte mit fünf Blütenblättern gefunden. So etwas konnte nichts Falsches prophezeien, zumal sie die Blüte nach allen Regeln der Kunst aufgegessen hatte."
Da die Anordnung der Kapitel nicht chronologisch erfolgt, entfaltet sich die Geschichte der Begegnung zwischen Zara und Aliide gleichzeitig mit den Erzählungen aus der Vergangenheit. Dieses parallele Erzählen wird gekonnt gehandhabt. Der erste Abschnitt des Buches spielt in den Jahren 1991-1992. Der zweite in der Vor- und Nachkriegszeit. Danach werden die Zeiten bunt durchmischt. Die Geschichten vermengen und verdichten sich bis zum letzten Abschnitt, der aus geheimpolizeilichen Protokollen besteht.
Zweimal gelingt es Aliide, aus der Opferrolle herauszutreten und zu handeln. Beim ersten Mal – kurz nach dem Krieg – verliert sie alles; beim zweiten Mal hilft sie zum ersten Mal einem anderen Menschen ohne eigenen Gewinn. Das ist die "zweite Chance", welche diese sperrige-ausgedorrte Figur am Ende sympathisch erscheinen lässt.
Sofi Oksanens Roman brilliert durch ihre treffsichere Zeichnung der Figuren, die spannende Handlung und die Schilderung der historischen Hintergründe. Sie führt uns das Schicksal eines wenig beachteten Landes vor Augen und zeigt uns dabei unendlich viel mehr, als je einem Schulbuch entnommen werden könnte. Oksanens deutschsprachiges Debüt ist ihr vollkommen gelungen.
Sofi Oksanen: "Fegefeuer".
Aus dem Finnischen von Angela Plöger
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010
396 Seiten, 19,95 Euro
So die Vorgeschichte des spannenden Romans "Fegefeuer" von der 33-jährigen Autorin Sofi Oksanen. In Finnland aufgewachsen mit einer estnischen Mutter, durfte Oksanen ihre Großmutter auf der Kolchose besuchen und gewann also schon als Kind Einblick in den Alltag des sowjetischen Estlands, der den meisten aus dem Westen verschlossen blieb.
In "Fegefeuer" erzählt Sofi Oksanen von diesen Umwälzungen am Rande; im Vordergrund steht die Geschichte von Aliide Truu, der ungeschickten, ungeliebten Schwester, die gut 50 Jahre nach ihrem Verrat an Ingel unerwarteten Besuch bekommt von einer jungen Russin, die eigentümlicherweise Estnisch spricht. Ebenfalls eigentümlich ist der Auftritt der jungen Frau: mitten in der Nacht, fast ohnmächtig, benommen vor Angst, voller blaue Flecken und mit zerrissenen (aber teuren) Strümpfen.
"Das Mädchen starrte in Aliides Richtung, aber sein panischer Blick fokussierte sich nicht auf sie. Er fokussierte sich auf nichts. Aliide fuhr fort mit ihren Versicherungen, es gebe keinen Grund zur Aufregung und sprach dabei in demselben beschwichtigenden Tonfall wie zu unruhigen Haustieren. Im Blick des Mädchens erschien kein Anzeichen dafür, dass es verstanden hätte, aber der weit aufgerissene Mund hatte etwas Wohlbekanntes. Nicht der Mund selbst, sondern das Verhalten des Mädchens, das Mienenspiel unter seiner wächsernen Haut, das nicht bis an die Oberfläche gelangte, die Wachsamkeit seines Körpers, trotz des leeren Blicks."
Die junge Zara ist von ihrem Zuhälter weggelaufen; aber aus Gründen, die erst allmählich offenbart werden, wagt sie vorerst nicht, dies ihrer Retterin zu erzählen. Und wie kommt sie ausgerechnet hierher zu Aliide auf dem Dorf? Diesem Opfer von Menschenhändlern haftet ein Geheimnis an, das Aliide Truu näher angeht, als sie erstmal ahnt. Aus einem anfangs fast feindlichen Misstrauen wird so etwas wie eine Freundschaft und die eigentliche Verwandtschaft zwischen den beiden Frauen – der Leser hat sie längst durchschaut – leuchtet allmählich auch Aliide Truu ein.
"Fegefeuer", der dritte Roman von Sofi Oksanen, wurde ein Riesenerfolg in Finnland, mit Verkaufszahlen, die sich mit denen von "Harry Potter" messen können. Es ist der erste Roman, der beide große Literaturpreise Finnlands erhielt (den Runeberg- wie auch den Finlandia-Preis) sowie den Preis des Nordischen Rates, und wurde in bisher 26 Sprachen übersetzt.
Die in Helsinki lebende Autorin trat im diesjährigen New Yorker PEN World Voices Festival auf, wo sie am großen Eröffnungsabend die Bühne mit Salman Rushdie und Patty Smith teilte. Und 2009 wurde sie von der großen estnischen Zeitung Postimees zum Menschen des Jahres gekürt.
Der finnische Titel "Puhdistas" bedeutet auch "Säuberung", und Oksanens Roman handelt von Bewachung, Ausgrenzung und Folter. Die Vorgeschichte von beiden Frauen ist von Gewalt bestimmt. Aliide leidet in der Zeit der sowjetischen Besatzung, weil sie einen estnischen Patrioten beschützt: ihren angehimmelten Schwager.
Seinetwegen wird sie während eines Verhörs gefoltert, gibt ihn aber nicht preis. Überall lauert Gewalt, überall die Gefahr, als Feindin der Partei enttarnt und ins Arbeitslager geschickt zu werden. Aus einer enttäuschten Liebe wird ein Überlebenskampf. Später leidet Aliide, weil der Parteifunktionär, den sie nur darum heiratet, um zu einiger Sicherheit zu gelangen, nach 1989 plötzlich auf der "falschen Seite" steht. Ihr werden Steine gegens Haus geschmissen und Parolen an die Tür geschmiert.
Zara wiederum lebt in einem Zustand andauernder sexueller Gewalt: Freier, die es zu bedienen gilt und schwache Hoffnungen, zum Beispiel dass das Gefallen, das der Helfershelfer ihres Zuhälters an ihr findet, sie vor den grausamsten Misshandlungen bewahren kann. Wie Aliide ist sie ständig dabei, einen Blick hinter sich zu werfen, dass ja keiner ihr nachstellt. Sofi Oksanen schreibt am schönsten, wenn es ums Nostalgisch-werden geht. So zum Beispiel die Szene in dem paradiesträchtigen Garten, in dem sich die junge Aliide verliebt:
"Der Morgen war aus irgendeinem Grund besonders leicht und der Flieder geradezu berauschend gewesen. Aliide hatte sich erwachsen gefühlt, und während sie sich vor dem Spiegel in die Wangen kniff, war sie sich sicher gewesen, dass in diesem Sommer auch ihr etwas ganz Wunderbares widerfahren würde, sonst hätte sie ja wohl keine Fliederblüte mit fünf Blütenblättern gefunden. So etwas konnte nichts Falsches prophezeien, zumal sie die Blüte nach allen Regeln der Kunst aufgegessen hatte."
Da die Anordnung der Kapitel nicht chronologisch erfolgt, entfaltet sich die Geschichte der Begegnung zwischen Zara und Aliide gleichzeitig mit den Erzählungen aus der Vergangenheit. Dieses parallele Erzählen wird gekonnt gehandhabt. Der erste Abschnitt des Buches spielt in den Jahren 1991-1992. Der zweite in der Vor- und Nachkriegszeit. Danach werden die Zeiten bunt durchmischt. Die Geschichten vermengen und verdichten sich bis zum letzten Abschnitt, der aus geheimpolizeilichen Protokollen besteht.
Zweimal gelingt es Aliide, aus der Opferrolle herauszutreten und zu handeln. Beim ersten Mal – kurz nach dem Krieg – verliert sie alles; beim zweiten Mal hilft sie zum ersten Mal einem anderen Menschen ohne eigenen Gewinn. Das ist die "zweite Chance", welche diese sperrige-ausgedorrte Figur am Ende sympathisch erscheinen lässt.
Sofi Oksanens Roman brilliert durch ihre treffsichere Zeichnung der Figuren, die spannende Handlung und die Schilderung der historischen Hintergründe. Sie führt uns das Schicksal eines wenig beachteten Landes vor Augen und zeigt uns dabei unendlich viel mehr, als je einem Schulbuch entnommen werden könnte. Oksanens deutschsprachiges Debüt ist ihr vollkommen gelungen.
Sofi Oksanen: "Fegefeuer".
Aus dem Finnischen von Angela Plöger
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010
396 Seiten, 19,95 Euro