Wehler: Nein, das kann ich nicht. Ich teile eine ganze Reihe der Argumente, die Jürgen Habermas vorgebracht hat. Das hängt vielleicht auch damit zusammen, dass die europäische Einheit das große politische Projekt unserer Generation war und ist. Aber ich glaube ganz und gar nicht, dass man auf pazifistische Aufwallungen auf längere Sicht Politik gründen kann und schon gar nicht, wenn es um einen so heterogenen Staatenverein wie die Europäische Union geht.
DLF: Sie haben den Satz "aus der Geschichte lernen" damals in Ihrer Essaysammlung mit einem Fragezeichen versehen. Man könne da keine sauberen kausalen Zusammenhänge, keine übergreifende Logik historischer Entwicklungen postulieren. Hat Europa aus den Katastrophen des 20. Jahrhunderts also nichts gelernt?
Wehler: Doch, ich finde, schon. Das ist in meinen Augen im historischen Vergleich mit vorangegangenen Epochen das Imponierende an der europäischen Entwicklung, dass die Europäer, nachdem sie zweimal sich und die Welt in das Unglück zweier totaler Kriege gestürzt haben, sich dann nach 1945, wenn auch mühsam und für mein Gefühl quälend langsam, doch in die richtige Richtung bewegt haben, nämlich den europäischen Staatenverein zusammenzufassen, sich über tiefgreifende Unterschiede und Animositäten hinwegzusetzen und eben doch anzusteuern so etwas wie eine staatenbündische Union. Wir stehen im Augenblick gerade in einer Phase, wo der europäische Konvent und sozusagen die Debatte in der europäischen Öffentlichkeit das millimeterweise voranschiebt. Das sehe ich als Ergebnis eines Lernprozesses.
DLF: Wäre denn ein positives europäisches Wir-Gefühl, sage ich mal, des historisch und ethnisch, wie Sie sagen, stark zerklüftetes Kontinent nach wie vor denkbar, also jenseits all der Tugenden, die Europa ja mittlerweile in alle Welt exportiert hat, also wenn ich denke, Gewaltenteilung, Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit, Gewaltfreiheit bei Konfliktlösungen. Wo gäbe es sozusagen jenseits dieser Einheit, von der Sie auch sprechen, ein positives Wir-Gefühl?
Wehler: Es gibt ein europäisches Identitätsgefühl, das historisch tief verankert wird. Es gibt gemeinsame Traditionen seit dem frühen Mittelalter, in gewisser Hinsicht seit der israelischen und der griechischen Antike. Das Riesenproblem ist der Osten und der Südosten. In meinen Augen gehören Weißrussland, die Ukraine, Moldawien und Russland nicht zu Europa. Sie haben auch nie dazugehört, wenn sie auch die europäische Geschichte von außen her beeinflusst haben. Da muss man, da wir möglichst gut mit ihnen koexistieren sollten, Möglichkeiten einer engen Partnerschaft finden, ohne dass sie sozusagen Vollmitglieder der EU werden. Man muss dann über die Grenzen hinweg Kooperationsformen finden, meinetwegen auch eine bevorzugte Partnerschaft zum Beispiel mit der Türkei, aber der europäische Staatenverein muss sozusagen eine Einheit für sich bilden. Dann kann man in Krakau, in Helsinki, in Palermo, in London, überall auf europäische Identitätsvorstellungen und Traditionen zurückgreifen, die nichts mit dem gegenwärtigen pazifistischen Prozess zu tun haben.
DLF: Sie haben sich intensiv mit der amerikanischen Geschichte beschäftigt, speziell auch mit dem amerikanischen Imperialismus. Das burschikose Vorgehen Bushs, wie Habermas es jetzt nennt, wirkt ja auf Europäer ebenso fremd wie die unverblümte Machtpolitik Russlands, also zaristische Provenienz. Ist uns Washington nicht dennoch sehr viel näher als Moskau?
Wehler: Ja, das ist ein dritter Einwand, den ich gegen die Überlegung von Jürgen Habermas habe, dass nämlich Europa sich nicht in einem dann vielleicht zunehmend härteren Konflikt mit der einzigen Weltmacht der kommenden Jahrzehnte, den Vereinigten Staaten vorwärts entwickeln kann, sondern nur in einer Form der Kooperation, die auf begrenzte Konflikte mit der Hegemonialmacht setzt.
DLF: Diese sehr problematische These von Habermas und Derrida, dass Europa sein Gewicht auf internationaler Ebene sozusagen in die Wagschale werfen müsse, um die Hegemonie der übriggebliebenen Supermacht auszubalancieren, auch Sie halten das für äußerst problematisch?
Wehler: Ja, ich bin sozusagen für eine, im Jargon gesprochen, konfliktive Kooperation, dass man durchaus den Entscheidungsträgern in den Vereinigten Staaten rechtzeitig mitteilt, wo die Interessen und Divergenzen sind. Die Europäer müssen möglichst schnell sich klarmachen, welche massiven Gründe dafür sprechen, dass man mit einer Weltmacht, die sozusagen ganz und gar aus europäischen Traditionen ja hervorgegangen ist, immer noch besser kooperieren kann als mit so flüchtigen Alliierten wie Russland und China.
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DLF: Sie haben den Satz "aus der Geschichte lernen" damals in Ihrer Essaysammlung mit einem Fragezeichen versehen. Man könne da keine sauberen kausalen Zusammenhänge, keine übergreifende Logik historischer Entwicklungen postulieren. Hat Europa aus den Katastrophen des 20. Jahrhunderts also nichts gelernt?
Wehler: Doch, ich finde, schon. Das ist in meinen Augen im historischen Vergleich mit vorangegangenen Epochen das Imponierende an der europäischen Entwicklung, dass die Europäer, nachdem sie zweimal sich und die Welt in das Unglück zweier totaler Kriege gestürzt haben, sich dann nach 1945, wenn auch mühsam und für mein Gefühl quälend langsam, doch in die richtige Richtung bewegt haben, nämlich den europäischen Staatenverein zusammenzufassen, sich über tiefgreifende Unterschiede und Animositäten hinwegzusetzen und eben doch anzusteuern so etwas wie eine staatenbündische Union. Wir stehen im Augenblick gerade in einer Phase, wo der europäische Konvent und sozusagen die Debatte in der europäischen Öffentlichkeit das millimeterweise voranschiebt. Das sehe ich als Ergebnis eines Lernprozesses.
DLF: Wäre denn ein positives europäisches Wir-Gefühl, sage ich mal, des historisch und ethnisch, wie Sie sagen, stark zerklüftetes Kontinent nach wie vor denkbar, also jenseits all der Tugenden, die Europa ja mittlerweile in alle Welt exportiert hat, also wenn ich denke, Gewaltenteilung, Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit, Gewaltfreiheit bei Konfliktlösungen. Wo gäbe es sozusagen jenseits dieser Einheit, von der Sie auch sprechen, ein positives Wir-Gefühl?
Wehler: Es gibt ein europäisches Identitätsgefühl, das historisch tief verankert wird. Es gibt gemeinsame Traditionen seit dem frühen Mittelalter, in gewisser Hinsicht seit der israelischen und der griechischen Antike. Das Riesenproblem ist der Osten und der Südosten. In meinen Augen gehören Weißrussland, die Ukraine, Moldawien und Russland nicht zu Europa. Sie haben auch nie dazugehört, wenn sie auch die europäische Geschichte von außen her beeinflusst haben. Da muss man, da wir möglichst gut mit ihnen koexistieren sollten, Möglichkeiten einer engen Partnerschaft finden, ohne dass sie sozusagen Vollmitglieder der EU werden. Man muss dann über die Grenzen hinweg Kooperationsformen finden, meinetwegen auch eine bevorzugte Partnerschaft zum Beispiel mit der Türkei, aber der europäische Staatenverein muss sozusagen eine Einheit für sich bilden. Dann kann man in Krakau, in Helsinki, in Palermo, in London, überall auf europäische Identitätsvorstellungen und Traditionen zurückgreifen, die nichts mit dem gegenwärtigen pazifistischen Prozess zu tun haben.
DLF: Sie haben sich intensiv mit der amerikanischen Geschichte beschäftigt, speziell auch mit dem amerikanischen Imperialismus. Das burschikose Vorgehen Bushs, wie Habermas es jetzt nennt, wirkt ja auf Europäer ebenso fremd wie die unverblümte Machtpolitik Russlands, also zaristische Provenienz. Ist uns Washington nicht dennoch sehr viel näher als Moskau?
Wehler: Ja, das ist ein dritter Einwand, den ich gegen die Überlegung von Jürgen Habermas habe, dass nämlich Europa sich nicht in einem dann vielleicht zunehmend härteren Konflikt mit der einzigen Weltmacht der kommenden Jahrzehnte, den Vereinigten Staaten vorwärts entwickeln kann, sondern nur in einer Form der Kooperation, die auf begrenzte Konflikte mit der Hegemonialmacht setzt.
DLF: Diese sehr problematische These von Habermas und Derrida, dass Europa sein Gewicht auf internationaler Ebene sozusagen in die Wagschale werfen müsse, um die Hegemonie der übriggebliebenen Supermacht auszubalancieren, auch Sie halten das für äußerst problematisch?
Wehler: Ja, ich bin sozusagen für eine, im Jargon gesprochen, konfliktive Kooperation, dass man durchaus den Entscheidungsträgern in den Vereinigten Staaten rechtzeitig mitteilt, wo die Interessen und Divergenzen sind. Die Europäer müssen möglichst schnell sich klarmachen, welche massiven Gründe dafür sprechen, dass man mit einer Weltmacht, die sozusagen ganz und gar aus europäischen Traditionen ja hervorgegangen ist, immer noch besser kooperieren kann als mit so flüchtigen Alliierten wie Russland und China.
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