Donnerstag, 28. März 2024

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Das heilige Opfer

Für ihr Regiedebüt hat sich Constanze Becker Marieluise Fleißers stilisiertes Volksstück ausgesucht. In ihrer Interpretation greift sie tief in die christliche Ikonografie und zeigt den Außenseiter als heiliges Opfer.

Von Ruth Fühner | 18.03.2013
    Nackt steht es da, das junge Paar, Licht fällt als blutrote Pfütze wie durch ein Buntglasfenster, Arme werden schützend über Brust und Geschlecht geschlagen – Peps und die schwangere Olga, zwei Schüler aus Ingolstadt, und Adam und Eva zugleich. Am Anfang der Sündenfall, am Ende Kreuzabnahme und Pietà – beherzt operiert Constanze Becker aus Marieluise Fleißers kunstvoll- künstlichem Volkstheater die Travestie der Passionsgeschichte heraus. Das passt in die Vor-Osterzeit – erst recht, wo gerade der weltweite Hype um die Papstwahl noch dem letzten aufgeklärten Ungläubigen die Existenz von Parallelprovinzen bewiesen hat, in denen Kirche über das nackte Leben entscheidet.

    Aber Becker will keine katholische Provinzgeschichte erzählen, auch wenn zwischendurch und nicht sehr konsequent bayrisch gesprochen, geschuhplattelt und Akkordeon gespielt wird. Es geht nicht um Missbrauch und Rückständigkeit, sondern um etwas viel Archaischeres: um das heilige Opfer. Das Opfer - das ist Roelle, der stinkende junge Mann mit dem Kropf, der um die abtreibungswillige Olga wirbt, der Verspottete und Ausgestoßene, der mit den Engeln spricht – nur dass die Engel nicht mit ihm sprechen wollen. Die bleiche Wurmhaftigkeit, die Philipp Quest seiner Figur mit viel Mut zur Widerwärtigkeit verleiht, macht klar, worauf der tiefe Griff in die christliche Ikonografie hinaus will: auf ein Kippbild, in dem der geopferte Christus und der geringste unter seinen Brüdern zur Deckung kommen, bis hin zum Lendentuch über den gekreuzten Beinen des Misshandelten. Roelles Hölle allerdings ist nicht metaphysischer Natur. Sein Fegefeuer sind die andern, die ehemaligen Mitschüler. Scheinbar ziellos sirren ihre giftigen Sprachpfeile zunächst durch die Luft, die Fronten und Koalitionen wechseln - bis sich alle auf den einen eingeschossen haben. Die Kleinstadtjugend als Mob, als Rudel, das seiner Lust am Quälen freien Lauf lässt.

    Premiere hatte die Inszenierung am Abend, bevor Constanze Becker in Bensheim den Gertrud-Eysoldt-Ring entgegennahm. Da wirkte es wie sympathisches Understatement, dass sie sich bei ihrem Regiedebüt für die Zusammenarbeit mit Frankfurter Schauspielschülern entschieden hatte. Die geben ihren Figuren inmitten des nackten Kirchengestühls auf der Bühne unterschiedlich scharfe Konturen. Die mädchenhafte Sidonie von Krosigk als Olga trägt ihre schwarze Lederjacke wie einen Panzer, das Kinn trotzig vorgeschoben – erst nach und nach bröckelt die coole Fassade unterm Gewicht der Verzweiflung. In kniestrümpfiger Selbstgerechtigkeit trumpft Regina Vogel als Olgas Schwester auf, und Sabrina Frank reißt als Hermine mit nackten Schenkeln und lustvoll aggressiver Körpersprache mühelos die Führung der Rotte an sich. Manches bleibt blass und schemenhaft, manches gerät unfreiwillig komisch. Schade aber ist es vor allem um Fleißers heißkalte Sprache. Dieses herausfordernde Oszillieren zwischen Hetze und visionärem Gestammel – hier wird es über weite Strecken erstickt von Genuschel oder schwer verständlichem Geschrei.

    Ein ehrgeiziges Regieziel also, nicht ganz erreichbar mit den zur Verfügung stehenden Mitteln – aber demnächst ist Constanze Becker ja als "Medea" beim Berliner Theatertreffen zu erleben: Und als Schauspielerin ist sie jede Reise wert.