Dienstag, 23. April 2024

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Das Herz des Dritten Standes

Wie angenehm war früher doch die Seele, als sie noch diskrete Sprachen pflegte, sich in verschwiegenen Bildern und Symbolen äußerte, ihren Monolog am liebsten im nächtlich stillen Traum entfaltete. Taktvoll und bescheiden gab sie sich, schreckte zurück vor jenen lauten Instrumenten, durch die sie ihre Dramen heute zum Ausdruck bringt: Da blökt es lauthals in die Mikrophone, lümmeln sich die Spinner, die Seltsamen und die allzu Sensiblen auf geduldigem Polsterwerk, um der TV-Nation ihre großen und kleinen Neurosen ganz ungeniert in die Ohren zu blasen.

Kersten Knipp | 05.04.2004
    Doch das Zeitalter der veröffentlichten Intimität erzeugt nicht nur Tag für Tag grandiose Peinlichkeiten. Es lässt auch erkennen, wie sehr die Gesellschaft in ihrer Mitte nicht nur ökonomisch, sondern auch ideell ausdünnt, dabei ihrer vornehmsten Leitfigur, dem mündig aufgeklärten Bürger, Adieu zu sagen. Die gegenwärtige Bekenntnislust ist längst zum Selbstzweck geworden und wirkt darum wie ein Abschiedgesang auf jene Ära, in denen der Bürger über das Innen das Außen nicht vergaß, sich vor allem darum in die Seele schaute, um sie fortan konsequenter erziehen zu können. "Bürgerlichkeit als Haltung" heißt die Studie des in Jena lehrenden Philosophen Tilman Reitz, die zeigt, wie streng der gerade entstehende Dritte Stand sich auch im Herzen disziplinierte, sich Normen, Riten, Werte in die Seele legte, die ihm halfen, seinem Auftritt die nötige Geschlossenheit zu verleihen.

    Ganz gleich, ob ein Jean-Jacques Rousseau das Beste des Menschen in seinen vermeintlich unverstellten Anlagen vermutete oder ob umgekehrt ein John Locke den Eigennutz zur Grundlage für das Wohl des Ganzen erklärte: Immer ging es den Denkern des 18. Jahrhunderts darum, den Bürgern eine Moral anzutragen, ihnen Ideen, Ansichten, Haltungen zu vermitteln, die sie robust gegen die Mühen und Forderungen des Alltags machten. "Privatwirtschaft erfordert Privatmoral", bringt Reitz die Moralistik des 18. Jahrhunderts auf den Punkt, und damit meint er eben nicht beliebige Privatphantasien, sondern einen verinnerlichten Glauben an den gesellschaftlichen Sinn des eigenen Verhaltens. Die Moralisten, so Reitz, bringen das Individuum psychologisch auf Linie und machen darum, "die richtige Ausfüllung der uneinsehbaren Privatbereiche zu einem Hauptthema ihrer publizistischen Bemühungen. Das vernünftige Selbst des öffentlichen Diskurses hat sich in einem moralisch geordneten Innenraum heranzubilden."

    Eben deshalb ästhetisierten die Aufklärer die Moral, übersetzten sie in die Leitmedien ihrer Zeit, stellten sie in Essay, Roman und bildender Kunst ebenso dar wie auf den Theaterbühnen, gründeten Debattierclubs und Moralischen Wochenschriften, in denen wesentliche Aspekte des Privaten wie Öffentlichen Lebens verhandelt wurden. So wies etwa Richard Steele ab 1709 die Leser seiner Zeitschrift The Tatler auf die öffentlichen Dimensionen ihres Verhaltens hin, zeigte die Gesellschaft als allgegenwärtige Instanz, der nichts entgeht und die jedes Fehlverhalten ahndet. "Falls eine feine Dame", warnt der unter Pseudonym schreibende Herausgeber, "es richtig findet, in einer Kirche zu kichern oder wenn ein Gentleman sich angetrunken in der Öffentlichkeit zeigt, dann sollen sie sicher sein, dass ich das in der nächsten Folge meiner Zeitschrift zur Sprache bringen."

    Kleinlich? Vielleicht. Aber doch Ausdruck einer jungen Gründerzeit. Enorm waren die Anstrengungen der Aufklärer, und welche Erfolge sie bei der inneren Formierung des Bürgers verzeichnen konnten, lässt Reitz ex negativo, in dem Kapitel über Goethes "Werther", erkennen, jenes großen Scheiternden, der aus der Enge der Ständestaates aufbricht, in der bürgerlichen Gesellschaft aber partout nicht ankommt. Denn nie wird er deren vornehmsten Grundsatz erfüllen: die eigenen Empfindungen in einen geregelten Tagesablauf fließen zu lassen, Privates und Öffentliches miteinander zu versöhnen. "Die utopische Aufladung des Privaten und die Unselbständigkeit des Bildungsbürgertums", so Reitz über den pathetischen Furor des haltlosen Träumers, "sind zwei Seiten einer geschichtlichen Wirklichkeit. (…) Die abstrakt vermittelte Beziehung zu den anderen, Gesellschaft im Gegensatz zu Gemeinschaft, bleibt rechtlos, weil Werthers Zweck die unmittelbare individuelle Erfüllung bleibt".

    Unmittelbare individuelle Erfüllung – der Traum vor- und nachbürgerlicher Gesellschaften? Distanz zur Seele hat in Zeiten der gegenwärtigen TV-Brachialpsychologie keine Konjunktur. Werther brachte sich am Ende wenigstens selbst zum Schweigen. Das Geplapper der heutigen notorisch Empfindsamen wird uns hingegen noch weiter in den Ohren hängen. Als trauriges Echo einer Zeit, die diszipliniert genug war, aus ihren Gefühlen respektablen gesellschaftlichen Mehrwert zu schlagen.

    Tilman Reitz
    Bürgerlichkeit als Haltung. Zur Politik des privaten Weltverhältnisses
    W. Fink Verlag, 274 S:, EUR 39,90