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Das Hirn der Zweibeiner

Paläoanthropologie.- 1924 wurde das Fossil eines Frühmenschen entdeckt, das Schädelteile und Gehirn eines etwa vierjährigen Kindes abbildet. Nun berichten Paläontologen, dass dieser Fund auch Aussagen darüber ermöglicht, wie es in der Frühzeit der Menschheit plötzlich zu einer starken Zunahme des Hirnvolumens kommen konnte.

Von Michael Stang |
    Der Schädel des sogenannten Taung-Kindes ist ein Klassiker in der Paläoanthropologie. Dieser Fund von 1924 war nicht nur der erste Beleg überhaupt für die Menschengattung Australopithecus, womit auch Charles Darwins These bestätigt wurde, dass die Wiege der Menschheit in Afrika stand, sondern der Schädel steht auch für eine berühmte Anekdote:

    Vor rund 2,5 Millionen Jahren kreiste ein Adler über die südafrikanische Landschaft auf der Suche nach Nahrung. Unter sich erblickte er eine schutzlose Beute und griff sie sich: es handelte sich um ein knapp vier Jahre altes Kind eines Australopithecus africanus. Beim Zugriff riss vermutlich der Kopf ab, denn bei der Entdeckung im südafrikanischen Taung war nur ein Teil des Gesichtsschädels und des Gehirnabdrucks versteinert, vom restlichen Skelett keine Spur.

    Diese versteinerten Überreste hat sich die Anthropologieprofessorin Dean Falk nun vorgenommen, weil sie zusammen mit Schweizer Kollegen über die Entwicklung des frühmenschlichen Gehirns forscht.

    "Wir haben uns eine anatomische Besonderheit bei diesem Fossil angeschaut, die in der wissenschaftlichen Literatur bislang nicht diskutiert, ja geradezu ignoriert wurde. Dabei handelt es sich um eine nicht verschlossene Schädelnaht am Stirnbein. Dabei war das Kind bei seinem Tod schon drei bis vier Jahre alt."


    Dies wurde zwar bereits im Fundjahr 1924 beschrieben, spielte aber in den Jahrzehnten danach in der Forschung keine Rolle. Als Dean Falk nach einer Computertomografie Schädel und Gehirnabdruck studierte, sei es ihr wie Schuppen von den Augen gefallen. Könnte diese offene Schädelnaht eine wichtige anatomische Änderung im Zuge der menschlichen Evolution sein?

    "Dann haben wir diese anatomische Eigenheit – also den späten Verschluss dieser Schädelnaht – bei Menschenaffen, heute lebenden Menschen und Frühmenschenfossilien untersucht. Dabei sahen wir, dass es dieses Phänomen nur bei uns Menschen gibt und bei unseren Vorfahren, die 2,5 Millionen Jahre alt sind oder jünger."

    Bei allen Affen schließen sich diese Schädelnähte schon kurze Zeit nach der Geburt, denn sie haben ein kleineres Gehirn, so die Forscherin von der Florida State University. Nur bei Vertretern der menschlichen Linie dauert dies einige Jahre.

    "Dies interpretieren wir als Anpassung an den Geburtsvorgang: jede Mutter wird ihnen sagen, wie schmerzhaft es ist, ein Kind mit einem so großen Kopf durch einen so schmalen Geburtskanal zu pressen. Bei Menschen aber können sich die Schädelknochen des Babys übereinander schieben, um so den Kopfumfang zu reduzieren und die Geburt zu erleichtern."
    Durch die lange offen bleibenden Schädelnähte kann das menschliche Gehirn vor allem in den ersten beiden Lebensjahren enorm wachsen – viel schneller als dies bei schon fest verwachsenen Schädelplatten möglich wäre. Damit wurde auch ein Problem der veränderten Anatomie in der Menschheitsentwicklung gelöst: nach der Entstehung des aufrechten Gangs hatte sich der Geburtskanal verkleinert, im Laufe der Zeit nahm das Gehirnvolumen jedoch stetig zu.

    "Wir denken, dass dies ein Aspekt eines komplexes Umwandlungsprozesses in der Evolution war, der vor drei Millionen begann und sich bis heute bewährt hat."

    Mit dieser Entwicklung konnte das enorme Hirnwachstum auf die Zeit nach der Geburt verschoben werden - auf Kosten einer verlängerten Aufzucht des Nachwuchses.

    Mehr zum Thema:
    Paper: Metopic suture of Taung (Australopithecus africanus) and its implications for hominin brain evolution (englisch)

    Universität Zürich, Computer-Assisted Paleoanthropology(englisch)