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Das Hirn hinter dem neuen Wahlrecht

Der 64 Jahre alte Mathematikprofessor Friedrich Pukelsheim hat geschafft, woran die Parlamentarier gescheitert waren: Er hat einen Kompromiss im Wahlrecht gefunden, auf den sich Union und SPD genauso einlassen konnten wie Grüne und FDP.

Von Lisa Weiß |
    Ein trostloser Sichtbetonbau aus den späten 70er-Jahren - das ist die Mathematikfakultät der Uni Augsburg und die akademische Heimat des Stochastik-Professors Friedrich Pukelsheim. 1983 kam er als Pionier hierher - als er sein Büro bezog, liefen gerade die ersten Mathematikstudenten über den Campus. Die Aufbruchsstimmung an der jungen Uni habe ihn in seiner Forschung beeinflusst, sagt er:

    "Das ist eine junge Universität, wo also die Fächer noch nicht ganz so versteinert sind wie anderswo. Und die Nähe auf dem Campus hilft auch dazu, dass man - insbesondere wenn man länger da ist - früher oder später die Kollegen kennenlernt und sich leichter unterhält und sich offenbart, dass man da ein Problem hat, wo die Zusammenarbeit eine Antwort leichter machen könnte, als wenn man sie selber sucht."

    Und Friedrich Pukelsheim ist auf Zusammenarbeit angewiesen, mit Juristen, mit Politikwissenschaftlern. Denn der 64-jährige Mathematiker mit dem gepflegten Schnauzbart ist Experte für Wahlverfahren. Schweizer Kantone haben ihr Wahlsystem auf seinen Vorschlag hin geändert, gerechter gemacht. Und weil nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts auch Deutschland ein neues Wahlrecht brauchte, ist der Bundestag auf ihn aufmerksam geworden.

    Friedrich Pukelsheim hat geschafft, woran die Parlamentarier gescheitert waren: Er hat einen gerechten Kompromiss gefunden, einen, auf den sich Union und SPD genauso einlassen konnten wie Grüne und FDP.

    "In einer gewissen Weise bin ich stolz, ich war bisher dreimal als Sachverständiger im Bundestag eingeladen und dreimal von verschiedenen Fraktionen. Ich glaub, dass bei der Fragestellung der Wahlsysteme schon meine Rolle als Mathematiker honoriert wird und ich betone immer wieder, dass das was ich als Mathematiker sage, ich unabhängig von dem sage, der mich einlädt."

    Sein Modell für ein neues Wahlverfahren wird mit kleinen Änderungen bei der nächsten Bundestagswahl im September bereits gelten. Das bisherige deutsche Wahlrecht sei auch nicht schlecht, sagt der Mathematikprofessor. Nur - eben angelegt für ein politisches System mit nur wenigen Parteien, wie in der Anfangszeit der Bundesrepublik:

    "Das hat sich aber in den letzten 30 Jahren eben aufgegliedert und auf diese größere Parteienzahl können dann die Wählerinnen und Wähler entsprechend feinfühlig regieren und das Wahlsystem reagiert nicht ganz so feinfühlig mit. Und deshalb muss man es nachjustieren."

    Denn mit dem derzeitigen Wahlrecht kommt es zu paradoxen Situationen: In manchen Fällen bekommt eine Partei mehr Sitze, wenn sie weniger Zweitstimmen hat, negatives Stimmgewicht heißt das. Wenn ein Bürger eine Partei wählt, kann das also sogar schlecht für die Partei sein.

    Das Problem hängt zusammen mit den sogenannten Überhangmandaten: Wenn in einem Bundesland mehr Direktkandidaten gewählt werden, als der Partei nach dem Zweitstimmenergebnis Sitze zustehen - dann bekommt sie zusätzliche Mandate. Momentan profitieren davon vor allem CDU und CSU.

    Nach Pukelsheims Wahlsystem wird es kein negatives Stimmgewicht geben, alle Überhangmandate werden ausgeglichen - die anderen Parteien bekommen dafür zusätzliche Sitze.

    "Der Bundestag wird jetzt so amtieren, dass in der Tat die parteiliche Zusammensetzung nach den Zweitstimmen makellos erreicht wird. Die Erfolgswertgleichheit, also, dass jeder Wähler, jede Wählerin im selben Maß zum Erfolg beiträgt wird, ist sichergestellt."

    Weil die Überhangmandate ausgeglichen werden, wird der Bundestag größer. Kritiker sagen: zu groß. Mehr Abgeordnete - das sei teuer und ineffizient. Derzeit sitzen 620 Parlamentarier im Bundestag, künftig könnten es um die 800 sein. Friedrich Pukelsheim findet das nicht schlimm:

    "Es ist ja auch als politisch interessierter Bürger nicht zu sehen, dass ein Bundestag mit 670 Abgeordneten irgendwie demokratischer oder undemokratischer wäre als mit 610 oder 598."

    Er und andere Sachverständige haben bereits Vorschläge gemacht, wie die Größe des Bundestags beibehalten werden könnte, zum Beispiel mit einem neuen Zuschnitt der Wahlkreise. Was die Politiker aus seinen Ideen machen, sei aber nicht seine Sache, sagt er.

    Für Pukelsheim ist es nicht immer einfach, mit anderen Menschen über sein Wahlsystem, seine Welt zu sprechen. Nicht einmal mit Politikern:

    "Eigentlich werden wir dafür ja erzogen, dass sich Mathematiker mit Mathematikern unterhalten. Wir haben unser relativ kleines Vokabular, was dafür extrem logisch aufgebaut ist. Und es bleibt eine Herausforderung, dass, wenn man einmal nicht verstanden worden ist, dass man es ein zweites Mal formuliert, möglichst ein bisschen anders. Und dann möglichst auch nochmal ein drittes Mal."

    Eigentlich wollte Friedrich Pukelsheim die mittelständische Firma seiner Eltern übernehmen, erst spät hat er sich dafür entschieden, an der Uni zu bleiben. Und hat dort Karriere gemacht.

    Er hätte es nicht nötig, immer wieder mit Leuten über Mathematik zu sprechen, die ihn trotz aller Mühe nur zum Teil verstehen. Geht es ihm nur darum, dass Deutschlands Wahlsystem endlich gerecht ist? Friedrich Pukelsheim überlegt kurz, sucht nach Worten:

    "Also wenn ich jetzt sage, wir bekommen ein Wahlsystem, wo die Wählerinnen und Wähler mit dem gleichen Erfolg zum Ergebnis beitragen, dann ist das eigentlich eine Forderung des Bundesverfassungsgerichts, aber die lässt sich in der Tat nahtlos in die Mathematik und in die Formeln übersetzen. Und diese gleichlautende Lösung finde ich schon sehr faszinierend. Vielleicht ist es mehr Faszination als Gerechtigkeitssinn."